Forschung, Restitution und Aktivismus

Was wusste man auf der Schwäbischen Alb über deutsche Kolonien? Wo in Baden-Württemberg haben sich koloniale Denkmuster erhalten? Das Interesse an solchen Fragen ist größer denn je.

Von Dominic Scheim

Was wusste man auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald über die deutschen Kolonien? Wie verbreitet waren koloniale oder kolonialrevisionistische Rhetorik und Praxis in den Städten, Dörfern und Institutionen Badens, Württembergs und Hohenzollerns? In welchen Bereichen der Gesellschaft haben sich koloniale Denkmuster erhalten? Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit ehemaligen Kolonien heute? Zu diesen Fragen fand von 10. bis 12. März 2023 die interdisziplinäre Tagung „Baden-Württemberg (post-)kolonial. Geschichtswissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Perspektiven“ im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim statt.

Das Thema Kolonialismus berührt ja auch. Es ist derzeit Gegenstand vieler Forschungsprojekte und lokaler Initiativen. Ziel der von rund hundert Teilnehmenden besuchten Tagung war es daher, das Thema nicht nur aus rein wissenschaftlicher Sicht zu beleuchten, sondern auch Lerninitiativen, aktivistischen Gruppen und anderen Projekten aus Baden-Württemberg Raum zu geben. Den Rahmen dafür bildete ein World Café, in dem die Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Einrichtungen und Initiativen mit den anderen Gästen ins Gespräch kamen und die Möglichkeit zur Vernetzung nutzten. Darüber hinaus hatten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler die Möglichkeit, ihre Forschungsvorhaben im Rahmen von Werkstattgesprächen zur Diskussion zu stellen.

Die Universität als kolonialer Ort

Besondere Aufmerksamkeit wurde auf die koloniale Vergangenheit von Bildungseinrichtungen gelegt. Carsten Gräbel stellte in seinem (krankheitsbedingt von Bernd-Stefan Grewe und Johannes Großmann vorgetragenen) Vortrag treffend fest, dass die Universität Tübingen ein sehr kolonialer Ort war und stellenweise noch immer ist. Insbesondere beim Lehrkörper wiesen sie darauf hin, dass viele Professoren und Dozenten des frühen 20. Jahrhunderts zuvor als Expeditionsteilnehmer, Kolonialbeamte oder auf andere Weise in den deutschen Afrika-Kolonien tätig waren.

Auch das Institut für Tropenmedizin an der Universität Tübingen hat eine doppelte Vergangenheit. Abgesehen von umstrittenen Persönlichkeiten wie dem expeditionsfreudigen Mediziner Otto Fischer oder dem „Missionsarzt" Gottlieb Olpp war allein schon die Bezeichnung des Fachgebiets ein Versuch, ein „Othering“ vorzunehmen, indem die vermeintlich „normale“ Medizin einer „fremden“ Tropenmedizin gegenübergestellt wurde. Die Tropenmedizin hat Fortschritte in der Medizin erzielt und die Medizin als Ganzes vorangebracht – dennoch sie trägt ein koloniales Erbe. Auch eine Reihe anderer Disziplinen wie Ethnologie oder Geographie entwickelten und profitierten stark von der Besiedlung vermeintlich fremder Weltregionen. Das koloniale Erbe reicht dabei bis heute: Gegenstände kolonialen Ursprungs werden weiterhin in den Sammlungen der Universität aufbewahrt.

Neben klassischen Vorträgen wurde der Themenkomplex bei der Hohenheimer Tagung auch cineastisch beleuchtet. In ihrem Film „If Objects Could Speak“ widmet sich die Regisseurin Elena Schilling der Restitution von Kulturgütern aus der Kolonialzeit. Der Film handelt von einem wurfspeerartigen Gegenstand, den das Stuttgarter Linden-Museum 1903 in seinen Bestand aufgenommen hatte, über den aber weiter nichts bekannt war. Daher forschte der Film nach der Herkunft des Artefakts. Zwar konnte in Kenia die Provenienz geklärt werden, dennoch blieb die Frage, warum der völlig unbekannte Gegenstand mehr als hundert Jahre in der Sammlung des Museums verblieb und nicht restituiert wurde. In der Diskussion erläuterte die Regisseurin die Schwierigkeiten der Rückgabe kolonialer Kulturgüter. Sie ging dabei nicht nur auf die komplexen Eigentums- und Haftungsfragen auf europäischer Seite ein, sondern verwies auch darauf, dass oft unklar sei, an welche Institution man Kulturgüter mit unklarer Herkunft zurückgeben sollte. Die Erläuterungen zeigten dabei, warum eine geplante Rückführung häufig einen jahrelangen, komplizierten Prozess mit ungewissem Ausgang darstellt.

Wie liest man Archive?

Diskutiert wurden ferner Bedeutung und Zweck der Zusammenarbeit zwischen ehemaligen Kolonialmächten und früheren Kolonien. Ein Beispiel dafür ist die Initiative des baden-württembergischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Namibia, über die Wolfgang Zimmermann (Generallandesarchiv Karlsruhe) berichtete. Ziel der Zusammenarbeit zwischen dem Staatsarchiv Baden-Württemberg und dem Namibischen Nationalarchiv ist es, Form und Inhalt archivalischer Quellen zu erforschen, um auf die Verflechtungen der Kolonialgeschichte zurückzublicken. Das größte Problem dabei ist laut Zimmermann, dass die deutschsprachigen Archivalien im Repositorium aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht vor Ort ausgewertet werden könnten.

Aus diesem Grund wurde gleich zu Beginn der Initiative 2020 ein Trainingsprogramm aufgelegt, das neben der Vermittlung von Archivarbeit und Sicherungstechniken auch das Erlernen der deutschen Sprache zum Ziel hat, um die Erforschung der Akten vor Ort zu gewährleisten. Ebenso werde erwogen, die deutschsprachigen Findbücher, mit deren Hilfe man einen einfacheren Zugang zu den Akten erhalten könne, ins Englische zu übersetzen. Ein weiteres Problem ist die Fragmentierung des Aktenbestandes. Einige deutsche Kolonialunterlagen zu Namibia werden noch heute in Berlin, Koblenz oder – wegen der jahrzehntelangen südafrikanischen Apartheidsherrschaft – in Kapstadt aufbewahrt. Mittelfristig sah der Zimmermann die Lösung dafür in der Digitalisierung der Bestände.

Die ganze Ambivalenz von Archiven als Orten des Herrschaftswissens zeigt sich unter anderem darin, dass die historischen Dokumente nicht nur ‚gegen den Strich‘ gelesen werden können, um Aspekte der rassistischen Kolonialherrschaft weiter zu erforschen, sondern dass sie in Namibia konkret auch von den Nachfahren der Kolonisten genutzt werden, die versuchen, damit ihre Eigentumsansprüche an namibischem Grund und Boden zu legitimieren.

Die Tagung brachte Teilnehmende aus Geschichtswissenschaft, Aktivismus, Archiven, Museen und interessierter Öffentlichkeit zusammen. In vielen zum Teil auch schmerzhaften Diskussionen wurde deutlich, dass die koloniale Vergangenheit des Landes Baden-Württemberg noch an vielen Stellen zu sehen und auch zu spüren ist. Daran anknüpfend sollen in den nächsten Jahren weitere Tagungen stattfinden, die sich schwerpunktmäßig jeweils einem bestimmten Aspekt – etwa der Kolonialgeschichte im Schulunterricht oder der Rolle der christlichen Mission – widmen sollen.

 

Hier zwei Instagram-Videos (eins  und zwei) aus der Tagung. Datenschutzhinweis: Mit dem Anklicken akzeptieren Sie die Datenrichtlinien von Instagram/Meta.

 

 




Eindrücke aus der Tagung