Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 2002

Anatoli Pristawkin

Laudatio

Thomas Reschke

Es ist das Jahr 1944. Im Waisenhaus Tomilino bei Moskau leben mit vielen anderen Kindern die elfjährigen Zwillingsbrüder Saschka und Kolka. Die Versorgung in dem vom Krieg ausgebluteten Land ist ohnehin schlecht, und die korrupte Leitung des Waisenhauses bestiehlt die Kinder noch um das Wenige, was ihnen zusteht, so dass sie unvorstellbar hungern müssen. Um zu überleben, essen sie Würmer und Baumknospen und klauen unter Lebensgefahr auf dem Bauernmarkt. In ihren freudlosen Alltag klingt von irgendwo das Wort "Kaukasus" wie eine Verheißung von Glück und Sattsein. Und tatsächlich - dieses Waisenhaus und mehrere andere werden evakuiert, der Kaukasus soll ihre neue Heimat werden. Der Transportzug mit 500 Kindern braucht über eine Woche durch das zerstörte Land, eine Fahrt, auf die ihnen die verantwortungslose Heimleitung keinerlei Verpflegung mitgegeben hat. Darum schwärmen sie aus, wenn der Zug mal hält, und überfressen sich an unreifem Grünzeug, und das hat für den Weitertransport katastrophale Folgen. Bei einem so erzwungenen längeren Halt macht Kolka eine für ihn unbegreifliche Entdeckung. Da sein Bruder Saschka krank auf der Pritsche liegt, muss er sich um Eßbares kümmern und stößt auf einem Abstellgleis in der Mittagshitze auf einen verschlossenen und mit Stacheldraht umwickelten Waggon. Kinderstimmen schreien nach Wasser, und aus einer vergitterten Luke gucken schwarze Kinderaugen. Ein bewaffneter Wachposten jagt Kolka weg. Die "neue Heimat" im Kaukasus, das sind Dörfer zur Erntezeit: reife Felder, Obstbäume - der Hunger scheint gebannt. Aber wo sind die Bewohner? Kein Schornstein raucht, niemand erntet, kein Mensch weit und breit, die Häuser leer. Und nachts knallen Schüsse. Angst breitet sich aus ... 1944 hatte der Diktator Stalin angeordnet, eine Reihe von kleineren Völkern aus ihren angestammten Wohnsitzen zu deportieren und in kalte Gegenden zu verbannen, darunter die Krimtataren, die Kalmücken, die Wolgadeutschen und andere, auch das Volk der Tschetschenen, meist unter dem Vorwand der Kollaboration mit den Deutschen. Das sah in der Praxis so aus: In den Dörfern mussten sich morgens die Männer versammeln, und ehe sie sich's versahen, wurden sie auf Lastwagen verladen und zur nächsten Bahnstation gebracht. Danach wurde Haus um Haus "gesäubert", Frauen und Kinder wurden getrennt, in verschlossene Waggons gepfercht und abtransportiert. Große Teile des tschetschenischen Volkes überlebten diese sogenannte Strafaktion nicht. Einige Männer waren der Deportation entkommen, sie unternahmen einen grausamen Rachefeldzug gegen alles Russische und wurden ihrerseits verfolgt und ausgelöscht. Auch die Moskauer Waisenhauskinder und ihre Erzieher, die das mit brutaler Gewalt entvölkerte Land besiedeln sollen, fallen dem Hass der heimatlos Gewordenen zum Opfer.

Meine Damen und Herren, so weit in Kürze der Inhalt des Romans "Schlief ein goldnes Wölkchen" von Anatoli Pristawkin. Es ist ein Buch von gewaltiger poetischer und emotionaler Kraft, ein Buch, wie es ein Schriftsteller nur einmal im Leben schreiben kann. Der Autor, der die geschilderten Ereignisse als Kind miterlebte, brauchte mehr als drei Jahrzehnte, um sich an diese literarische Aufgabe heranzuwagen, um sich die schweren Erlebnisse von der Seele zu schreiben. Er hatte als Kind, während des Krieges, seine Mutter verloren, sein Vater war als Offizier an der Front, und so lernte er notgedrungen eine Reihe von Waisenhäusern und Kinderkolonien kennen, erfuhr Hunger und Unfreiheit. Diese Jahre wurden zum biografischen Ausgangspunkt seines literarischen Schaffens und seines gesellschaftspolitischen Engagements, von dem noch zu reden sein wird. Das Buch wurde in Russland mit dem Staatspreis ausgezeichnet und ist Pflichtlektüre an den russischen Schulen. Es ist in alle europäischen und viele außereuropäische Sprachen übersetzt worden. Der Ausgang des Romans ist ein sehr schönes Bild: Kolka, der seinen Zwilling Saschka auf grauenhafte Weise verloren hat, liegt krank auf einem Dachboden, und ein fremder schwarzhaariger Junge pflegt ihn gesund. Der ebenfalls verwaiste Tschetschenenjunge Alchusur wird von Kolka als Bruder Saschka angenommen. Die beiden "Brüder" gehen einer schwierigen und Ungewissen, doch gemeinsamen Zukunft entgegen. Die russische Verfilmung des Romans wurde während des ersten Tschetschenien-Kriegs in den neunziger Jahren immer wieder vom Fernsehsender Grosny ausgestrahlt, und Pristawkin genießt in Tschetschenien hohes Ansehen. Tatsächlich sind das Buch und seine Verfilmung bestens geeignet, Verständnis für das Schicksal des kleinen Kaukasusvolkes und seine tragische Geschichte zu wecken.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, die Situation zu skizzieren, in die hinein dieser Roman, der trotz seiner jungen Helden keineswegs ein Kinderbuch ist, Anfang 1989 in der DDR in deutscher Übersetzung publiziert wurde. Die russische, sowjetische Literatur spielte in der Geschichte dieses Staates eine wenig bekannte, widersprüchliche Rolle. Ursprünglich mit der Aufgabe versehen, das kommunistische Staatswesen künstlerisch zu unterfüttern und bedingungslos zu rechtfertigen, war sie einem aus der Sowjetunion importierten Dogma unterworfen, das "sozialistischer Realismus" hieß (und von russischen Intellektuellen höhnisch so definiert wurde: Darstellung des Lebens der Nomenklatura in für sie fasslicher Form). Dieses Dogma schloss Formexperimente aus und verpönte jedwede Systemkritik wie auch gar zu private Probleme und Konflikte der Protagonisten, es war noch viele Jahre nach Stalins Tod 1953 verbindlich, auch für die Verlage und die Zensur in der DDR. Allerdings wurden schon seit den frühen siebziger Jahren die erstarrten Vorstellungen der Parteiführung nach und nach unterlaufen; der Literaturhistoriker Ralf Schröder nannte dies später "Perestroika vor der Perestroika". Autoren wie die Russen Trifonow, Tendrjakow, Abramow, der Kirgise Aitmatow, der Belorusse Bykau, der Kaukasier Okudshawa und viele andere sprachen in ihren literarischen Werken bislang verpönte Wahrheiten aus, und so kam es, dass die Leser in der DDR die sowjetische Literatur in den siebziger und achtziger Jahren als Informationsquelle über die - von den parteitreuen Massenmedien geflissentlich verschwiegene - wirkliche Situation in der Sowjetunion nutzen konnten. Dieser Informationswert war für das Kauf- und Leseverhalten der Menschen so wichtig wie die literarische Qualität. Bestimmte Bücher wurden zur Bückware, und die Auflagen waren in dem kleineren Land oft wesentlich höher als heute im wiedervereinigten Deutschland. Aber einige Themen waren in den 80er Jahren noch immer tabu: der Archipel GULAG, der Völkermord unter Stalin, das mörderische Bauernlegen Anfang der 30er Jahre, Kollektivierung genannt, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Und es musste erst Michail Gorbatschow das neue Denken, die Glasnost und Perestroika proklamieren, damit diese letzten Tabus fallen konnten. In der DDR dauerte das noch ein bisschen länger, aber 1988/89 erschienen endlich die tragischen Geschichten von Schalamow, der die Erschließung der Goldfelder an der Kolyma durch die Sklavenarbeit von Millionen Lagerhäftlingen literarisch gestaltet, und andere längst fällige Bücher, auch Pristawkins "Schlief ein goldnes Wölkchen", übrigens in hohen Auflagen. Der Autor hatte mir schon 1987 in Moskau eine Manuskriptkopie anvertraut, so dass ich schnell mit der Übersetzung beginnen konnte. Aus unserer damaligen ersten Begegnung im Moskauer Schriftstellerklub hat sich eine dauerhafte Freundschaft entwickelt, die nun schon anderthalb Jahrzehnte anhält.

Weiter zur öffentlichen Wirksamkeit der Sowjetliteratur in der DDR: Aus der Zeit ihrer bedingungslosen Staatstreue erfreute sie sich bei der Kulturbürokratie noch großen Ansehens, als diese Staatstreue längst einer differenzierten künstlerischen Gestaltung gewichen war. Sie wurde gefördert, von der Zensur weniger behelligt als vielfach angenommen wird und intensiv der Öffentlichkeit vorgestellt. Es gab alljährlich zwei Veranstaltungsreihen, die "Woche des Buches" im Mai und die "Tage der Sowjetliteratur" im Oktober: Buchhandlungen, Kulturhäuser, Betriebe luden Autoren und Übersetzer ein, aus ihren Arbeiten zu lesen und anschließend zu diskutieren. Das Publikumsinteresse war beträchtlich, und so wurde die Sowjetliteratur zu einem Vehikel, mit dem oppositionelles Gedankengut quasi legal in die noch immer diktatorisch regierte DDR eingeschmuggelt wurde.

Ich selbst habe viele solcher Lesungen gemacht und dazu stets die "schärfsten" Texte ausgesucht. Nachdem Pristawkins "Wölkchen" erschienen war, habe ich den Roman mehrmals vorgestellt und das für uns damals noch ganz unbekannte Thema des Stalinschen Völkermords ins Gespräch gebracht. Nach einer dieser Lesungen, es war in Eisenhüttenstadt, kam ein älterer Mann auf mich zu, gab sich als Rentner und ehemaligen langjährigen Angehörigen der Partei und der "bewaffneten Kräfte" (sprich: Stasi) zu erkennen und sagte mir, er habe von all diesen Dingen in seinen Parteischulungen nie gehört, sondern nur durch Zufall Einzelnes erfahren, und ich hätte aus all den Mosaiksteinchen ein geschlossenes Bild gemacht, und er verspreche mir, dieses nicht für sich zu behalten. Solche Erlebnisse, deren Bedeutung vielleicht nur ein "gelernter Ossi" ermessen kann, gab es in den letzten DDR-Jahren ab und zu, und ich möchte wohl die Behauptung wagen, dass die sowjetischen Schriftsteller (und ihre Übersetzer) ein bisschen zur geistigen Vorbereitung der Wende beigetragen haben, indem sie halfen, das von der Propaganda verzerrte Bild der Sowjetunion zurechtzurücken und die starren Parteidogmen aufzuweichen. Es war kein Zufall, dass die berühmt-berüchtigte Losung "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" in den letzten DDR-Jahren aus der staatlichen Propaganda verschwand und nur noch von Oppositionellen und Bürgerrechtlern spöttisch benutzt wurde. Pristawkin hat übrigens seinen Roman selbst dramatisiert, und das Stück ist von mehreren Theatern in der DDR, unter anderem in Dresden, mit beachtlichem Publikumserfolg aufgeführt worden. Ein interessantes Detail: Der Autor lässt das Stück trauriger enden als den Roman - die beiden "Brüder" gehen nicht einer gemeinsamen Zukunft entgegen, sondern werden auseinander gerissen. Das NKWD war angewiesen, selbst die Waisenhäuser auf versteckte Tschetschenenkinder zu durchsuchen. Pristawkin war zu den Premieren eingeladen, und es gab jedes mal interessante Diskussionen mit dem Publikum. Ein weiteres Buch von Anatoli Pristawkin, "Wir Kuckuckskinder", will ich nur kurz erwähnen. Es geht darin wieder um Waisenhauskinder im Krieg, diesmal um die Kinder von sogenannten Volksfeinden, die im Archipel GULAG verschwunden oder gleich erschossen worden waren. Als sie die Drangsalierungen im Heim - Hunger, Misshandlungen, Arbeitssklaverei - nicht mehr ertragen können, fliehen sie nach Moskau, um Stalin, den "besten Freund der sowjetischen Kinder", um Hilfe anzuflehen. Diese Reise endet in einem Desaster, die Kinder kehren mit leeren Händen zurück. In ihrer Not proben sie den Aufstand gegen ihre Peiniger, setzen das verhasste Waisenhaus in Brand und werden von NKWD-Truppen in der Scheune, in der sie sich verkrochen hatten, zusammengeschossen. Für dieses Buches wurden der Autor und sein Übersetzer 1991 in Deutschland mit dem Bundesjugendliteraturpreis gewürdigt.

Der 1931 geborene Pristawkin kam, wie viele sowjetische Schriftsteller seiner Zeit, nach einer Berufsausbildung (als Flugzeugtechniker) über den Journalismus zur Literatur. Er studierte am Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut, an dem er später - seit vielen Jahren schon, bis heute - neben seiner umfangreichen literarischen und gesellschaftspolitischen Tätigkeit als Professor angehende Schriftsteller in der Kunst des Schreibens unterweist, selbstverständlich im Geist seiner christlichen, humanistischen und demokratischen, man kann sagen, europäischen Grundüberzeugungen. Er gehört den Führungsgremien des russischen PEN-Klubs und des Schriftstellerverbands an. Er war 1989 Mitbegründer der demokratischen Schriftstellerbewegung "April". Seine Grundüberzeugungen, die in seinen Waisenhausjahren wurzeln, haben ihn zu einem engagierten Kämpfer gemacht, der mit großem persönlichem Mut seine schriftstellerischen, rhetorischen, journalistischen Mittel, auch seinen Bekanntheitsgrad, seine Prominenz einsetzt, wenn es gilt, Gewalt gegen Schwächere (Menschen und Völker), gegen Ungerechtigkeit, Korruption, Machtmissbrauch aller Art beim Namen zu nennen und publik zu machen, der aber auch den persönlichen Einsatz nicht scheut, selbst wenn Gefahr für Leib und Leben droht. Dafür sollen hier ein paar Beispiele stehen.

1991 machte Pristawkin mit seiner jungen Frau und seiner kleinen Tochter Urlaub im Schriftstellerheim Dubulty bei Riga, der Stadt, in der er viele Jahre zuvor seinen Wehrdienst geleistet und die er für ihre europäische Kultiviertheit liebgewonnen hatte. Zu dieser Zeit begannen die kleineren Völker an den Grenzen Russlands, die vor vielen Jahren gewaltsam in den sowjetischen Staatsverband eingegliedert worden waren, an ihren Ketten zu rütteln. Die ersten Freiheitskundgebungen - noch war Gorbatschow Generalsekretär der Partei - wurden brutal niedergeworfen und kosteten Menschenleben, so zum Beispiel in Georgien. Der Urlauber Pristawkin geriet in die Auseinandersetzungen in Lettland mitten hinein. Was er dort erlebte, hat er in seinem Bericht "Stilles Baltikum" (deutsch 1992) eindrucksvoll geschildert. Zitat: "Ich war mittendrin in den Ereignissen, war beteiligt. Ich war im radioaktiven Ofen des Reaktors, wo die Temperatur viel höher ist als draußen, zum Beispiel irgendwo in Moskau. Vielleicht deshalb sind meine Aufzeichnungen eher aufgeregt als beschaulich, sie sind heiß von Brandwunden." Zitat Ende. Pristawkin stand mit den Aufständischen auf der Barrikade, die das Rigaer Pressehaus vor den Sonderabteilungen der sowjetischen Miliz schützen sollte, er trat im Fernsehen auf und appellierte an die Sowjetsoldaten, nicht auf lettische Zivilisten zu schießen, und nahm an der feierlichen Beisetzung der Opfer teil, die es gleichwohl gegeben hatte. Er sah sich Morddrohungen und Schmähungen seitens russischer Landsleute ausgesetzt. Aber er bekam auch die Liebe und Dankbarkeit der einfachen Letten zu spüren, die ihn als Freund im Kampf um ihre Freiheit und Demokratie erlebt hatten.

1991 wurde Anatoli Pristawkin auf Vorschlag des bekannten Menschenrechtlers Sergej Kowaljow vom damaligen Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, zum Vorsitzenden einer Regierungskommission für Begnadigungsfragen berufen. Um dieser Berufung zuzustimmen, musste er innere Widerstände überwinden, denn diese neue Arbeit würde ihn viel Zeit kosten, Zeit, ein kostbares Gut für einen Schriftsteller, und Nervenkraft, denn er würde sich intensiv mit dem Schicksal von Straftätern auseinandersetzen müssen. Er selbst hat dies so beschrieben: "Die Erfahrung anderer war noch niemandem eine Lehre, und so habe ich auch auf einen Köder angebissen, den mir das Schicksal hinwarf, und eine Last geschultert, die Begnadigung heißt. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet. Es bedeutet aber dies: der tägliche qualvolle Versuch, einzudringen in die Geschicke anderer Menschen, von Häftlingen. Wobei noch nicht klar ist, wer in wen eindringt. Eher sie in uns."

Aber das Leben hatte Pristawkin zu einem überzeugten Gegner der Todesstrafe gemacht, überdies kannte er den zum Teil noch mittelalterlichen Strafvollzug in Russland, und er wusste, dass angesichts der hohen Kriminalität im Land und der etwa eine Million Strafgefangenen in überfüllten Haftanstalten eine wahrhaft gigantische humanitäre Aufgabe auf ihn wartete. Für sie, die rechtlos, schlecht versorgt und Infektionskrankheiten ausgesetzt waren, sollte es wieder einen Hauch von Hoffnung geben. Pristawkin stellte eine Kommission von Gleichgesinnten zusammen: Schriftstellerkollegen (Bulat Okudshawa, Ales Adamowitsch, Lew Rasgon u.a.), aber auch Juristen, Psychologen, Geistliche, Kriminalisten. Zehn Jahre lang tagte die Kommission jeden Dienstag und behandelte Zehntausende von Gnadengesuchen. Ein solches Gesuch können in Russland Todeskandidaten stellen, aber auch zu Freiheitsentzug verurteilte Straftäter, nachdem sie die Hälfte ihrer Strafzeit verbüßt haben. Die Entscheidung darüber hat laut Verfassung der Präsident zu fällen, aber Boris Jelzin hat zumindest zeitweilig auf die Empfehlungen der Kommission gehört, so dass die Zahl der vollstreckten Todesurteile erheblich zurückging und unangemessen hohe Freiheitsstrafen gemildert werden konnten. Doch auch diese humanistische Entwicklung musste in zermürbenden Kämpfen durchgesetzt werden - gegen den Widerstand der Justizbehörden, die eine Begnadigungskommission für überflüssig hielten und als Eingriff in ihre angestammten Rechte ansahen, gegen den Widerstand von Angehörigen von Verbrechensopfern, die nach durchgestandenem schwerem Leid für Milde wenig Sinn hatten, und gegen den Widerstand der monströsen Präsidialadministration, die ihren Einfluß auf den Präsidenten mit niemandem teilen mochte. Die Kommission sah sich Behördenintrigen und Hetzkampagnen der Presse ausgesetzt, die ohne die geringsten Beweise unsinnige Vorwürfe, u.a. wegen Korruption, gegen sie erhob, und sie erhielt anonyme Drohungen aller Art, die sich auch gegen Familienangehörige richteten. Sie handelte jedoch weiterhin nach ihrem Gewissen, bis die Kommission im Dezember 2001 vom neuen Präsidenten Putin aufgelöst wurde, nachdem sie in den zehn Jahren ihres Bestehens etwa 50000 Strafmilderungen erreicht hatte. Der Präsident berief Pristawkin in seinen Beraterstab, dem er seitdem angehört.

Anatoli Pristawkin hat bei all seiner enormen Arbeitsbelastung immer wieder die Zeit gefunden, seine Überzeugungen auch an die Öffentlichkeit zu bringen. Er nahm an ungezählten Veranstaltungen im In- und Ausland teil, die sich mit der Todesstrafe befassten, diesem barbarischen Relikt aus dem Mittelalter. Er hat bei seinen Besuchen in Deutschland, in Berlin zumal, jede Gelegenheit genutzt, um in Schulen zu lesen, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und für Freundschaft und Toleranz zu werben. Erfand durch Einladungen in westliche Länder Gelegenheit, den Strafvollzug etwa in Italien und Deutschland kennen zu lernen, und scheute sich nicht, ihn bei Vorträgen in seiner Heimat als Beispiel hinzustellen. Er ist während des ersten Tschetschenienkriegs zweimal (1995 und 1996) in das vom Krieg verwüstete Land gereist und wurde Zeuge von Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung, die er hinterher unter Missachtung eigener Gefahr in Vorträgen, Presseartikeln, Interviews usw. publik machte.

Aber Pristawkin wäre nicht der berufene Schriftsteller, wenn er in der Kommissionsarbeit nicht auch einen gewaltigen literarischen Stoff erkannt hätte. Er, der sich Deutschland freundschaftlich verbunden fühlt, der am 4. November 1989 mit seinen Berliner Freunden an der mächtigen Demonstration von anderthalb Millionen Menschen auf dem Alexanderplatz gegen das abgelebte DDR-Regime teilnahm und seinen Freunden zur Wende gratulierte, als die noch nicht recht daran zu glauben wagten, er, der in einer Reihe von deutschen Städten in Ost und West aus seinen Werken las und mit seinen Lesern diskutierte, ist inzwischen schon mehrere Male zu Studienaufenthalten nach Deutschland eingeladen worden, zum Beispiel in die Literaturwerkstatt und ins Literarische Colloquium in Berlin. Er hat diese Aufenthalte dazu genutzt, sein immenses Wissen aus der Arbeit der Begnadigungskommission zu einem Buch zu verarbeiten, wozu er in seiner hektischen Heimatstadt nicht die Musse fand. Dieses Buch erschien in Russland im Jahre 2000, die deutsche Übersetzung folgt 2003 im Luchterhand-Verlag unter dem Titel "Ich flehe um Hinrichtung".

Selten ist ein Schriftsteller mit seiner Zeit, seinem Staat, seinen Landsleuten so hart ins Gericht gegangen wie Anatoli Pristawkin in diesem Werk. Er forscht darin nach den Wurzeln der hohen Kriminalität, nach den Wurzeln der ewigen Gewalt der Mächtigen gegen Menschen, gegen Völker, gegen wirkliche und gegen vermeintliche Oppositionelle und Andersdenkende in Russland, seiner Heimat, die erst vor 140 Jahren die Leibeigenschaft abschaffte, worauf Stalin sie de facto wieder einführte. Er zeigt, wie der Große Peter das Fenster nach Westen aufstieß und dies ungezählte Menschen mit dem Leben bezahlen ließ. Er zeigt die Eroberungspolitik der russischen Zaren im 19. Jahrhundert vor allem im Kaukasus, deren Folgen bis heute nicht überwunden sind, siehe Tschetschenien. Und er geht natürlich auf die Tyranne Stalins ein, die sich bis heute verheerend auf das Recht-Unrecht-Verständnis der staatlichen Strukturen und - schlimmer- im Bewusstsein der Menschen auswirkt. All das wird exemplifiziert anhand vieler Einzelfälle, über die die Begnadigungskommission in den neunziger Jahren zu befinden hatte. Pristawkins Werk, geschrieben in der Tradition von Solshenizyns "Archipel GULAG", ist eigentlich ein Rundum-Schlag gegen Unrecht, Gewalt, Korruption, Machtmissbrauch, aber auch gegen Alkoholismus und menschliche Gleichgültigkeit. Dass er sich damit bei den russischen Rechtsinstitutionen keine Freunde gemacht hat, liegt auf der Hand. Autoren solch bitterer Werke werden in undemokratischen Staaten häufig als "Nestbeschmutzer" beschimpft. Aber es geht Pristawkin um etwas anderes, er schreibt in seinem Vorwort: " Mein Genre läßt sich guten Gewissens so benennen: Weinen um Russland". Auch für ihn gilt das Goethe-Wort, das Fritz Pleitgen in seiner Laudatio auf Lew Kopelew zitiert: "Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum. Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt." Es ist sein Traum, Russland als demokratisches, fortschrittliches Land zu sehen, als Hort der Menschenrechte, als geachtetes Mitglied der Völkerfamilie, des europäischen Hauses. Diesem Traum hat er sein Leben, seine literarische und politische Arbeit gewidmet. Wir, seine deutschen Leser, verdanken ihm profunde Einblicke in das Wesen unseres großen östlichen Nachbarn, aber auch die Hoffnung, dass sich in Russland die Erneuerungskräfte, die Michail Gorbatschow auf den Plan rief, mit der Zeit durchsetzen werden.

Der Name Anatoli Pristawkin setzt die Reihe der Träger des Alexander-Men-Preises würdig fort.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Abraham P. Kustermann,
Akademiedirektor

Grußwort
Dr. Johannes Kreidler,
Weihbischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Generaldirektorin der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau

Grußwort
Boris Chlebnikow,
Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, Moskau

Laudatio
Thomas Reschke,
Literatur-Übersetzer, Berlin (Übersetzer von A. I. Pristawkin)

Preisverleihung
Hermann Fünfgeld,
Stv. Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Dözese Rottenburg-Stuttgart

Dankesworte
Anatoli I. Pristawkin

Bericht aus der Stuttgarter Zeitung

Bericht aus den Stuttgarter Nachrichten



Über Anatoli Pristawkin:

Lebenslauf Pristawkins

Preise und Auszeichnungen

Bibliografie

Weitere Informationen zu Anatoli I. Pristawkin auf Wikipedia


Über Thomas Reschke:

Lebenslauf Reschkes

Auszeichnungen

Wichtigste Übersetzungen