Verleihung des Aleksandr-Men-Preises 1997

Prof. Dr. Wolfgang Kasack

Dankesworte

Prof. Dr. Wolfgang Kasack

Meine Worte des Dankes für die ehrenvolle Auszeichnung werde ich unter das Thema „Schicksalhafte Begegnungen" stellen. Je älter man wird, um so deutlicher erkennt man, wie sehr unser Schicksal durch einige Begegnungen geprägt worden ist und daß manche Begegnung wahrlich nicht mit dem billigen Wort des Zufalls abgetan werden kann. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Konstantin Paustowski beginnen, dem ich vor dreißig Jahren meine Habilitationsschrift widmete. Er ist einer der bedeutenden, anständigen russischen Schriftsteller der Sowjetzeit. 1965 hätte er, wenn die Sowjetunion nicht interveniert hätte, den Nobelpreis erhalten. Er notierte 1943 in Vornotizen für eine seiner besten Erzählungen - „Schnee":

„Hunderte von Wegen kreuzen sich, und zufällig treffen sich Menschen, ohne zu wissen, daß ihr ganzes früheres Leben eine Vorbereitung für diese Begegnung war. Wahrscheinlichkeitstheorie. Anwendbar auf menschliche Herzen. Für die Dummen ist alles einfach."

Diese Sicht auf das Leben wurde bei Paustowski im Zweiten Weltkrieg geschärft, denn es ist eine Tatsache, daß wir zur Zeit der Not und Gefahr der wahren Erkenntnis des Seins erheblich näher sind als in der des Friedens und Wohllebens. Es ist die Gefährdung der irdischen Existenz, die den Menschen wacher macht, auf das Walten höherer Kräfte, die unser menschliches Leben leiten, zu achten.

Im Hause der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die mir diesen Preis verlieh, kreuzte sich mein Weg mit dem von Alexander Men bei einem Symposium vom 6.-11. Mai 1990 in Weingarten. Das Schicksalhafte dieser Begegnung spürte ich bald, und es wurde mir damals von Stunde zu Stunde mehr erkennbar. Als wir uns an einem Abend des persönlichen Gesprächs trennten, stand er im Treppenhaus auf einem Absatz ein Stockwerk über mir, aber an dieser Stelle war dazwischen nicht die Treppe sichtbar, es war ein wenig so wie in unseren westlichen Kirchen die Kanzel. Von dort erteilte er mir den Segen. Der Segen, den ein Geistlicher erteilt, übermittelt nicht seine Kraft, sondern die Kraft Gottes. „Der Herr segne Dich" lauten die Gebetsworte dabei, der Geistliche ist der Weiterleitende, der Vermittler. Vater Aleksander konnte göttliche Kraft weiterleiten. Diese Sekunden gehören zu den beglückendsten meines Lebens. Wie weit davon entfernt ist dagegen eine Preisverleihung wie die heutige.

Aber diese Verleihung ist eine Freude. Die über mich hier gesprochenen Worte haben Ihnen vermittelt, um was ich mich in einem Teilbereich meines Lebens bemüht habe, auch etwas davon, was ich erreichen durfte. Da es sich dabei um deutsch-russische Beziehungen handelt, ist es besonders erfreulich für mich, daß hinter diesem Preis die deutsche und die russische Seite stehen, daß die Gäste aus Rußland dank des weltpolitischen Wandels heute hier sein können. Ich danke also beiden Seiten. Für mich trägt der Preis mehr als den Namen eines Mannes, der 1990 an einer solchen deutsch-russischen Begegnung teilnahm. Vater Aleksander ist auch einer der vielen Menschen, denen ich nur dadurch begegnet bin, daß ich mich für die Organisation deutsch-russischer Kontakte eingesetzt habe. Damals hatte ich eine Zusammenkunft der Sektion Literatur der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde dem Symposium der Akademie in Weingarten angeschlossen, damit mehr Menschen von der Initiative der Akademie profitieren konnten.

Übrigens hatte meine Begegnung mit Vater Aleksander auch für ihn eine schicksalhafte Bedeutung: Er wollte dringend zum ersten Mal in seinem Leben nach Brüssel fahren, um jenen Menschen zu danken, die seine Werke dort veröffentlicht hatten, als das in der Sowjetunion ausgeschlossen war. Er fragte mich um Rat: Er hätte zwar einen russischen Helfer mit Auto und Visum, besäße aber selbst kein Visum für Belgien. Nun gehörte zu den Teilnehmern an meinem Symposium der Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa, Herr Dr. Steininger aus Aachen. Gern erfüllte er meine Bitte, Vater Alexander über die Grenze zu schmuggeln: Treffen auf deutscher Seite, Umsteigen vom russischen Auto in sein deutsches mit Aachener Kennzeichen, das kaum kontrolliert wurde, getrenntes Überfahren der Grenze, erneutes Umsteigen hinter der nächsten Ecke - und dann am nächsten Tag dasselbe in der anderen Richtung. Später wurde uns klar: Es war die einzige Gelegenheit für Vater Aleksander gewesen. Ihm war kein langes Leben mehr beschieden. Die Stiftung des Aleksandr-Men-Preises und die Verleihungen in Stuttgart lenken gute Gedanken zu ihm. Die von ihm betreuten Christen haben mit seinem Tod viel verloren. Dostojewskij aber mahnt in den „Brüdern Karamasow", angesichts des Todes eines nahen Menschen sollen wir nicht trauern, sondern uns für ihn freuen. Vater Aleksander ist nun in der geistigen Welt. Ich danke, daß ich ihm begegnen und ihm einmal helfen durfte.

Schicksalhafte Begegnungen können berühmte Menschen betreffen und solche, die nur ein kleiner naher Kreis kennt. Bei diesen haben die Umstände die grundsätzliche Bedeutung.

Aus den für mein Schicksal sehr wichtigen Begegnungen mit Unbekannten möchte ich von der mit jenem NKWD-Major berichten, der mich 1946 als Kriegsgefangenen verhörte, denn sie bestimmte meinen Lebensweg bis zum heutigen Augenblick. Ich verdanke ihm, daß ich schon nach anderthalb Jahren entlassen wurde. Um am Leben zu bleiben, hatte ich, damals achtzehnjährig, angefangen Russisch zu lernen. Als ich bald Küchendolmetscher war, mußte er mich vor-laden. Das Verhör erlebte ich nur als mich freuende Bestätigung, daß ich mich nach etwa zwei Monaten in der frem-den Sprache verständlich machen konnte. Ich nahm den mich Verhörenden wie einen Privatlehrer. Für sein Verhältnis zu mir war wohl diese Ausnahmesituation entscheidend. Nach einigen Monaten war er Chef eines Heimkehrertrans-ports, setzte meinen Namen zusätzlich auf die Liste, holte mich für die 14 Tage des Transports in seinen Offizierswag-gon, versorgte mich. Da konnte ich in Deutschland nicht anders, als das Russische vervollkommnen. Jene Begegnung war der Wendepunkt in meinem Lebenslauf, sie bestimmte mein Studienfach und wohl auch meine Haltung zu den Russen.

Mein Lebenslauf bedingte auch Begegnungen mit einigen in der Welt berühmten Menschen. Zu meiner Entscheidung, mein Leben ab 1968 der russischen Literatur zu widmen, und zum Erahnen der wahren, nicht in der Presse stehenden Zusammenhänge trug eine Begegnung von 1959 mit Boris Pasternak bei. Es war im Bolschoi Theater. Das Auswärtige Amt hatte das Hamburger Schauspielhaus mit Gustaf Gründgens im Rahmen des beginnenden Kulturaustauschs entsandt. Mit meinem Vater, Hermann Kasack, der mich in Moskau, wo ich an der Deutschen Botschaft tätig war, besuchte, erlebte ich die Aufführung. Kurz vor Beginn ging ein Raunen durch die Zuschauer, plötzlich erhob sich alles: Da erkannte ich den Eintretenden, Boris Pasternak. Er war der Geehrte. Eine mir unvorstellbare Situation. Das war ein offener, aber stummer Protest der russischen Intelligenz gegen die Sowjetregierung, die den im Westen gefeierten Nobelpreisträger unflätigst beschimpfte. In der Pause drängte ich meinen Vater hinter die Bühne, dort begegneten wir Pasternak. Die beiden Schriftsteller kamen ins Gespräch. Unvergeßlich Pasternaks gequälte Bemerkung, er könne meinen Vater nicht einladen, da seien „so viele andere Leute". Mich schmerzte der Blick in die Augen des im eigenen Haus gefangenen Dichters. Später konnte ich das Ereignis einordnen. Damals waren sehr viele, auch anständige sowjetische Schriftsteller dem Befehl gefolgt und hatten Pasternaks Auslandsveröffentlichung des „Doktor Schiwago" uni sono mit der KPdSU verurteilt. Bald danach aber hatten sie begriffen, daß er ja eigentlich ganz normal, eher verantwortungsbewußt gehandelt hatte: Im Dienste der wahren Literatur. Sie erkannten ihre Schuld - vor dem Menschen, vor der Literatur. Das Ereignis wurde zum Wendepunkt im Verhalten eines wichtigen Teiles der Intelligenz gegenüber dem Staat. Ein Baustein des Umbruchs, dessen Zeugen wir seit 1985 sind. Ein Zeugnis dafür war meine Begegnung mit Pasternak. Ein Jahrzehnt später widmete ich meine Arbeitskraft solchen mutigen, ganz im Dienste der Literatur stehenden russischen Schriftstellern.

In Pasternaks Roman „Doktor Schiwago" erkannte ich, daß es auch eines seiner Anliegen war, auf das Schicksalhafte menschlicher Begegnungen hinzuweisen. In dem für den Roman symbolischen Gedicht vom Licht der in einer „Winternacht" brennenden Kerze wählt er dafür das Bild der Schatten der Liebenden, die diese Kerze gegen die Decke wirft: Schatten der „sich kreuzenden Arme, sich kreuzenden Beine, des sich kreuzenden Schicksals".

Nachhaltig hat in mein Leben die Begegnung von 1982 mit Wladimir Lindenberg eingegriffen, dem Schriftsteller, Philosophen und Arzt aus dem alten russischen Geschlecht der Tschelischtschews. Das Thema „Begegnung" hat für sein Schaffen, wie es in 37 auf deutsch geschriebenen Büchern Niederschlag gefunden hat, wesentliche Bedeutung. Wir konnten unsere Freundschaft 15 Jahre leben, bis 1997, als er mit 94 Jahren in Berlin starb. Sie führte zu etlichen Aufsätzen und einer Monographie über ihn, der ich den Titel „Schicksal und Gestaltung" gab. Damit wollte ich auf ein Lindenberg so wichtiges Wechselverhältnis hinweisen: die Notwendigkeit, im Leben auf das Schicksalhafte zu achten, und die Verantwortung, durch eigenes Gestalten das Leben sinnvoll auszufüllen.

Der Arzt, Maler und Schriftsteller Lindenberg, der 1918 mit 16 Jahren emigrieren mußte, hat seine Bücher erst nach KZ und Zweitem Weltkrieg geschrieben. „Mysterium der Begegnung" von 1959 ist das erste, das jetzt - 1997 - in Rußland in seine Muttersprache übersetzt erschienen ist. Es geht ihm dort nicht nur um Begegnungen mit Menschen, auch solchen mit Gegenständen, mit der Arbeit und mit Erscheinungen, die wir Wunder nennen. Er veranschaulicht die Begegnung des Menschen mit Gott, umgeht auch nicht Begegnungen mit bösen Kräften, stellt ins Zentrum „Die Begegnung mit dem Schicksal", spricht von der „Begegnung mit sich selbst" und der mit dem Tode. Zwei Zitate mögen sein mir nahes Denken veranschaulichen:

„Das ganze Leben, das für den Dummen nur materiell und vordergründig ist, ist eingebettet in Zeichen und Symbole, in Fragen und Antworten, und es liegt vor uns und wartet, daß wir in rechter Weise zugreifen".

An anderer Stelle ergänzt er gleichsam: „Von daher gewinnen Zufälle und Begegnungen den Charakter des uns Zugespielten, Zufallenden, Geschickten, des Schicksals, und wir beginnen dunkel zwar, doch immer deutlicher und sensibilisierter den Sinn von Begegnungen zu erahnen und ihnen einen Wert beizumessen. Damit ändert sich die Qualität unseres Lebens, es wird bedeutungsvoller, und wir erfüllen die Begegnungen, die Erfahrungen, die Erlebnisse mit größerer Würde".

Schicksalhaft sind natürlich die Begegnungen gewesen, die zu meinen beiden guten Ehen geführt haben, wobei die Erfahrung aus der Sterbebegleitung meiner ersten Frau 1976 die Basis für die zweite Ehe legte. Die Begegnung mit dem Tod wurde zur Bereicherung. Nicht schicksalhaft aber nenne ich die vielen Begegnungen, die ich als russischer Dolmetscher mit so unterschiedlichen Menschen hatte, die im Lichte der Öffentlichkeit standen, wie Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Molotow, Chruschtschow, Gromyko, Breschnjew, Falin, obwohl ich bei jedem etwas Wesentliches abstrahieren könnte, was ich der Begegnung entnahm. Aus den Begegnungen mit weithin bekannten Persönlichkeiten heben sich für mich die mit Martin Buber heraus. Er wurde Trauzeuge meiner ersten Ehe von 1953. Sein konzentriertes, verpflichtend aufmerksames Zuhören lehrte mich, immer bemüht zu sein, nichts Überflüssiges zu sagen. Ich denke auch an die - durch mein Lexikon ermöglichten - Begegnungen mit vielen russischen Schriftstellern, wie Weniamin Kawerin, Alexander Solshenizyn, Viktor Rosow, Daniil Granin, Juri Nagibin, Valentin Rasputin, Bulat Okudschawa, Anatoli Kim, Natalja Baranskaja, Bella Achmadulina, Tschingis Ajtmatow oder mit deutschen Verlegern wie Peter Suhrkamp und Klaus Piper. Unvergeßliche Stunden sind damit verbunden, aber schicksalhaft würde ich sie nicht nennen.

Gottes Boten - so nennt sie Lindenberg - stehen eher nicht im Lichte der Öffentlichkeit, sind meist anderer Natur. Für mich nimmt unter solchen Begegnungen die erste Stelle - vor jenem NKWD-Offizier - die mit einem älteren Mitgefangenen, einem deutschen Koch, in der Gefangenschaft ein. Menschen wie ihn nennt man „ungebildet", meint den Verstand. Entscheidend für unser Leben aber ist die Herzensbildung, nicht der Intellekt. Er war reich an Herzensbildung, und daran waren auch jene reich, die ich heraushob: Wladimir Lindenberg, Boris Pasternak und - Alexander Men.

Ich bin dankbar, daß die Wege meines Lebens die Wege des Lebens dieser Menschen kreuzten. In diesem Augenblick aber danke ich, daß Sie meinen Worten darüber zuhörten und hoffe, daß Sie dabei dankbar an Ähnliches in Ihrem Leben denken konnten, an „schicksalhafte Begegnungen".

Die Ehrung durch den Aleksandr-Men-Preis ist mit einem Geldbetrag verbunden. Wie meine Vorgänger habe ich mir Gedanken gemacht, was ich damit Sinnvolles tun kann. Meine persönliche Begegnung mit Vater Aleksander gipfelte in dem Segen, den er mir im Hause dieser Akademie gab. Er wußte viel um die Möglichkeit, Gottes Kräfte in Segen und Gebet weiterzuleiten. Dem soll das Geld dienen. Im Bergischen Land, wo ich in Much wohne, gibt es ein Zentrum für geistiges Heilen „Gebet um Heilung". Es ist auf Spenden angewiesen, denn ein Heiler, der sich im Gebet um Heilung an Gott wendet, stellt keine Rechnung aus wie ein Arzt oder ein Heilpraktiker. Vater Aleksander sagte 1990, kurz ehe er nach Deutschland kam, über das geistige Heilen: „Diese Gabe ist ein Teil des Abbildes und Ebenbildes Gottes im Menschen" (Leninskoe znamja 4.3.1990). In diesem Zentrum ist auch der Raum, in den ich mehrfach im Jahr russische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler zu einem Empfang mit Vortrag und Diskussion mit russischsprechenden Gästen einlade. Dort wird der Preis im Sinne von Aleksander Men beides fördern - weitere deutsch-russische kulturelle Begegnungen und geistiges Heilen.

Meine Rede stand in einer mich überraschenden Relation zur Laudatio, die Herr Dr. Friedrich Ruth hielt. Ich möchte zum Abschluß ihm danken, daß er sich so in mein Leben hineingedacht hat. Das festigt unsere Freundschaft. Ist das nicht der ganz persönliche Aleksandr-Men-Preis? Übrigens, seine Verdienste als Deutscher Botschafter in Italien und gegenwärtiger Präsident der Vereinigung Deutsch-Italienischer Kulturgesellschaften um die deutsch-italienischen Kulturbeziehungen sind so groß, daß ihm ein gleicher Preis gebührte. Nennen wir ihn Franziskus von Assisi-Preis. Ich danke und freue mich.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Grußwort
Erwin Teufel,
Ministerpräsident

Grußwort
Bischof Dr. Walter Kasper,
Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Moskau

Grußwort
Dr. Gregorü Tchartischvili,
Moskau

Laudatio
Dr. Friedrich Ruth,
Botschafter a.D., Bann

Preisverleihung
Prof. Dr. Günter Bien,
Stuttgart

Dankesworte
Wolfgang Kasack

Artikel Katholische Nachrichten-Agentur

Urkunde von Prof. Dr. Wolfgang Kasack


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