Liberal, progressiv oder doch moderat?

Forderungen nach einem liberalen Islam sind zahlreich. Doch was verbirgt sich hinter islamischen Strömungen, die diesen Begriff für sich verwenden? Und welche Bedeutung haben sie?

Von Tim Florian Siegmund

Die Islamlandschaft in Deutschland wird immer vielfältiger. Unter den organisierten Muslim:innen aber stellen solche, die sich als liberal bezeichnen, eine Minderheit dar. Dabei werden Forderungen nach einem liberalen Islam aus ganz unterschiedlichen Richtungen laut, während zugleich die Zahl der Stimmen, die dieses Attribut für sich beanspruchen, aber auch derer, denen es übergestülpt wird, stetig wächst. Doch welche Gruppen und Initiativen sind damit gemeint? Was genau bedeutet liberal? Welche Formen von Glaubenspraxis verbergen sich dahinter, wie sind sie theologisch grundiert? Und wie steht es um die Wahrnehmung liberaler Muslim:innen – sowohl innerislamisch wie auch in der Öffentlichkeit?

Um solche Fragen zu beleuchten, hat die Akademie in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weltethos im Jahr 2020 eine Tagungsreihe zu innerislamischer Vielfalt sowie zu islamischen und islamstämmigen Minderheiten ins Leben gerufen. Nachdem in den Vorjahren Alevit:innen, die Ahmadiyya und sufische Strömungen im Mittelpunkt standen, widmete sich die Tagung am 6. Februar 2024 dem liberalen Islam. Organisiert und geleitet wurde sie von Dr. Theresa Beilschmidt (Stiftung Weltethos), Dr. Christian Ströbele und Dr. Hussein Hamdan von den Akademie-Fachbereichen »Interreligiöser Dialog« und »Muslime in Deutschland«. Für die rund 90 Teilnehmer:innen im Tagungszentrum Hohenheim und online bot die vom Akademie-Verein geförderte Veranstaltung auch eine Gelegenheit, die letzte Tagung des Ende Februar aus der Akademie ausscheidenden Hamdan und seines ebenfalls eingestellten Fachbereichs zu erleben.

»Liberal« – ein Kampfbegriff?

Was ist liberaler Islam? Um sich dieser Frage zu nähern, setzte sich Leyla Jagiella vom Liberal-Islamischen Bund (LIB) in ihrem einführenden Vortrag kritisch mit dem durchaus umstrittenen Begriff »liberal« und seinen unterschiedlichen Dimensionen auseinander. Besonders im englischsprachigen Raum werde »liberal« nicht selten abwertend verwendet – von Rechten wie von Linken. Im muslimischen Kontext sei der Begriff fast ausschließlich im Deutschen anzutreffen, während in anderen Sprachen Bezeichnungen wie »progressive« oder »inclusive« gängiger seien. Nur in Indonesien existiert mit Jaringan Islam Liberal (Liberal-islamisches Netzwerk) eine Initiative, die sich wie der deutsche LIB selbst als liberal bezeichnet. Der Begriff »liberal« löst zweifelsohne sehr unterschiedliche Reaktionen aus, auch bei Jagiella, die sich selbst – so sagte sie – nicht unbedingt damit identifiziere, aber sich nichtsdestotrotz im LIB engagieren könne.

Ausschlaggebend für die Namensgebung des LIB war auch das Vorbild des liberalen Judentums, das im 19. Jahrhundert in Deutschland entstand. Abgesehen von solchen Überlegungen zur Selbstbezeichnung umriss Jagiella, wie »liberal« als antimuslimischer Kampfbegriff gebraucht werde, um mit der Forderung nach einem liberalen Islam Muslim:innen zu stigmatisieren. Dies finde sich in Äußerungen der aus Somalia stammenden Politikwissenschaftlerin Ayaan Hirsi Ali ebenso wie im gesellschaftlichen Diskurs nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023, wo Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus gegeneinander ausgespielt würden. In der Folge grenzten sich viele Muslim:innen vom Begriff »liberal« ab.

Unvoreingenommene Auslegung religiöser Schriften...

Jagiella ging darüber hinaus auf andere Fremdzuschreibungen ein: Alevit:innen etwa würden häufig für liberale Muslim:innen gehalten, wenngleich viele von ihnen sich gar nicht als dem Islam zugehörig verstehen und solche Zuschreibungen ohne gründliche Auseinandersetzung mit alevitischer Theologie stattfinden. In der Beschreibung eines liberalen Islam fänden sich weitere Begrifflichkeiten, darunter säkular, zeitgemäß und moderat. Für besonders problematisch hält Jagiella die Vermischung mit dem Begriff »Ex-Muslim:in«, der suggeriere, liberale Muslim:innen seien schon nicht mehr muslimisch.

Als prägende Person bei der Herausbildung eines liberalen Islam benannte Jagiella die US-Amerikanerin Amina Wadud, die dafür berühmt wurde, dass sie 2005 als Frau das Gebet einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe anleitete. Die liberal-muslimische Landschaft in Deutschland vermessend stellte Jagiella den Verein Säkularer Islam Hamburg (VSI) um Necla Kelek sowie die von Seyran Ateş gegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee vor, die neben dem LIB eine der erfolgreichsten Initiativen darstelle. Daneben gebe es viele weitere Initiativen, die jedoch nach kurzer Zeit wieder verschwanden.

Für die Entwicklung liberal-muslimischer Stimmen in Deutschland und auch des LIB sei Rabeya Müller von entscheidender Bedeutung, die nach ihrer Konversion zum Islam in den 1970er Jahren schon früh zentrale Gedanken in den Diskurs eingebracht habe. Zusammen mit Lamya Kaddor war sie auch an der Gründung des LIB im Jahr 2010 beteiligt. Trotz widerstreitender Ideen und Positionen innerhalb des LIB teilten die Mitglieder eine Reihe von Grundprinzipien eines liberalen und progressiven Islamverständnisses, so Jagiella. Hierzu zählten unter anderem eine unvoreingenommene Auslegung religiöser Schriften, die deren historischen und sozialen Kontext einbezieht, umfassende Geschlechtergerechtigkeit, darüber hinaus die Ablehnung von Gewalt und der Einsatz für Verfolgte und gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. In der anschließenden Diskussion verdeutlichte Jagiella, dass sie die Theologie des LIB in Kontinuität zur traditionellen islamischen Gelehrsamkeit sieht, in der sich das Prinzip der Erleichterung (arabisch taisīr) findet, demzufolge es Aufgabe der Gelehrten sei, den Gläubigen die Religion zu erleichtern, statt zu erschweren.

...in Kontinuität mit der islamischen Tradition

Die Kontinuität liberal-islamischer Theologie zur islamischen Tradition betonte auch Dr. Mahmoud Abdallah vom Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Tübingen in seiner Einordnung ins islamisch-theologische Spektrum. Dazu diskutierte er die Frage nach der Lehrfreiheit im Islam, die auch vom LIB hervorgehoben wird, heute aber angesichts der Verbreitung von Wahhabismus und Salafismus nicht mehr selbstverständlich sei, ebenso wie das Verständnis von religiöser Bildung als eines individuumszentrierten Auftrags Gottes. In einem weiteren Schritt zeigte er anhand der verschiedenen islamischen Rechtsschulen, die sich mit religionspraktischen, nicht aber systematisch-dogmatischen Fragen beschäftigen, die Bedeutung von Pluralität auf.

Der liberale Islam greift Abdallah zufolge häufig auf Minderheitsmeinungen zurück, wobei der Begriff deskriptiv zu verstehen ist und damit keine Abwertung gegenüber der Mehrheitsmeinung verbunden ist. Verknüpft mit der These, dass sich Gläubige im Glauben nicht nur zu einer Religion, sondern auch zu einer konkreten Gemeinschaft von Gläubigen bekannten, fragte Abdallah nach der Heterogenitätsfähigkeit des Islam. Die islamische Theologie stehe somit vor der Herausforderung, mit den sich diversifizierenden Vorstellungen unter Muslim:innen umzugehen. Der LIB habe gezeigt, dass er in Einklang mit der theologischen Tradition stehe und zugleich Antworten auf aktuelle Fragen geben könne. Zudem sei es sein Verdienst, zur Enttabuisierung vieler Fragen (besonders zu Geschlechterrollen und der Integration von Frauen) beigetragen zu haben.

Abdallah führte das umfassendere Konzept einer Theologie des Zusammenlebens ein, das ein Zusammenleben trotz der Unterschiede im subjektiven Glaubensverständnis oder in der Weltanschauung ermögliche. Sie sei Ziel aller liberal-islamischen Strömungen und enthalte die vier Aspekte Dogmatik, Relationalität, Wirtschaft und Politik. Voraussetzung dafür sei eine neue praxisorientierte Texthermeneutik, wie sie auch vom LIB angestrebt werde.

Um die Offenheit der islamischen Tradition gegenüber unterschiedlichen und somit auch liberalen Auslegungen zu unterstreichen, zitierte Abdallah zum Ende seines Vortrags den früheren Scheich von Al-Azhar, Mahmūd Schaltūt, demzufolge es im Islam niemandem erlaubt sei, eine bestimmte Konfession vorzuschreiben, jeder Muslim aber sich eine der anerkannten Rechtsschulen aussuchen und zwischen ihnen wechseln dürfe.

Wie organisiert ist der liberale Islam?

Nachdem der Tagungsvormittag theologischen Fragen galt, widmete sich der Nachmittag praktischen und gesellschaftlichen Aspekten des Themas. Ein Gespräch von Dr. Hussein Hamdan mit Annika Mehmeti vom Liberal-Islamischen Bund drehte sich um die Organisation und die konkrete Arbeit des Verbands in Deutschland sowie um aktuelle Herausforderungen. Mehmeti hob hervor, dass der LIB ein Angebot für all diejenigen schaffe, die in anderen Moscheegemeinden oder islamischen Strukturen nicht repräsentiert werden. Beim LIB fänden muslimische Frauen, die nichtmuslimische Partner:innen heiraten möchten, ebenso praktische religiöse Unterstützung wie interreligiöse Elternpaare mit Fragen zur religiösen Erziehung oder queere Menschen. Mittlerweile habe der LIB deutschlandweit etwa 300 Mitglieder in sechs Gemeinden in Großstädten, aber keine flächendeckenden Strukturen, besonders in Ostdeutschland. Wie viele Menschen darüber hinaus erreicht würden, sei schwer einzuschätzen, da es sehr unterschiedliche Angebote gebe, etwa eine Queer-Beratung, aber ebenfalls Korankurse. Auch interreligiös sei der LIB engagiert und beispielweise an zwei christlich-muslimischen Gottesdiensten beteiligt gewesen.

Das Gespräch behandelte aber auch Erfahrungen von Ablehnung. Diese habe der LIB vor allem anfangs mit anderen etablierten islamischen Akteur:innen gemacht, die um ihre Deutungshoheit darüber, was islamisch sei, fürchteten. Viel bedrohlicher seien jedoch die Anfeindungen aus dem rechten Spektrum gewesen, die konkrete Drohungen enthielten. Angesprochen auf den Einwand, die mediale Aufmerksamkeit für den LIB gehe im Vergleich zu den größeren Verbänden über dessen Mitgliederzahl hinaus, betonte Mehmeti, dass es nicht das Ziel sei, anderen Verbänden etwas wegzunehmen, sondern der LIB trotz sehr begrenzter Ressourcen etwas anbiete, das sich bei anderen Verbänden nicht finde. Trotz der ständigen Präsenz angeblich liberaler Muslim:innen in den Medien werde die eigentliche aufwändige Verbandsarbeit nur sehr wenig wahrgenommen. Viele Angebote würden aber ganz bewusst nicht öffentlich ausgestellt, da sie auch geschützte Räume seien, in denen Menschen sich erstmals mit ihrer Sexualität oder Identität beschäftigen könnten.

Mehmeti ging auch darauf ein, dass die Bereitschaft, sich zu organisieren und Gemeindearbeit zu übernehmen, bei liberalen Muslim:innen geringer ausgeprägt sei als bei anderen. Zugleich beobachte sie eine Tendenz zum Rückzug aufgrund des gesellschaftlichen Diskurses, der Muslim:innen ständig zu Rechtfertigung und Distanzierung auffordere.

Wann sind Männer Männer und Frauen Frauen?

Um tiefer in Diskussionen zum liberalen Islam einzusteigen, setzte sich Leyla Jagiella in einem weiteren Programmpunkt eingehender mit Fragen von Gender, Gerechtigkeit, Diskriminierung und Feminismus auseinander. Eine Beschäftigung mit dem Thema Gender im Islam sei weitaus mehr als die Frage nach dem Kopftuch, auf die sie oft verkürzt werde, aber auch mehr als die Frage nach der Frau. Vor einer Befassung damit, was der Qurʾān zu Männern und Frauen sage, müsse geklärt werden, was Geschlecht überhaupt sei und wie es in den Texten verstanden werde. Dabei falle auf, dass der Qurʾān dazu keine Aussage treffe und somit oft zwangsläufig vom Verständnis aus dem jeweiligen sozialen Kontext ausgegangen werde, obwohl es eine breite Diskussion dazu unter islamischen Gelehrten gegeben habe. Für Jagiella findet sich die fundamentalste Aussage des Qurʾān zum Thema Geschlecht in Sure 4, Vers 1 (»der Euch aus einer einzigen Seele erschaffen hat«), die grundsätzlich die Einheit betone, während erst später zwischen Männern und Frauen unterschieden werde. Für viele islamische Communities sieht Jagiella heute die Herausforderung, das Sprechen über Sexualität, aber auch Queerness zu enttabuisieren, um jüngere Generationen nicht zu verlieren.

Durch den gesamten Tag zogen sich Fragen zum Verhältnis des liberalen Islam zu anderen islamischen Ausrichtungen und der Gesellschaft. Um sie noch einmal zu vertiefen, sprach der Journalist und Islamwissenschaftler Abdul-Ahmad Rashid vom ZDF, bekannt als Moderator des »Forums am Freitag«, abschließend über den liberalen Islam in Politik, Medien und Öffentlichkeit. Selbst an der Gründung des LIB beteiligt, beschrieb Rashid erste Ideen für eine solche Initiative im Jahr 2007 und bestätigte, dass mit der Entscheidung für den Namen bewusst eine Parallele zum liberalen Judentum hergestellt werden sollte.

Enttäuschte Hoffnungen

Seine ursprüngliche Hoffnung, dass sich der LIB zu einer Massenbewegung entwickeln würde, wurde jedoch enttäuscht, was er auch auf die geringere Bereitschaft liberaler Muslim:innen zu verbandlichem Engagement zurückführt. Somit werde der LIB auch künftig nur eine Stimme unter vielen im muslimischen Deutschland bleiben. Die Gründung einer eigenen Moschee hingegen sei nicht absehbar, obwohl gerade solche Räume und Strukturen entscheidend für die Entwicklung wären. Folglich sei in der jüngeren Vergangenheit die von Seyran Ateş gegründete und zum Zeitpunkt der Tagung bis auf Weiteres geschlossene Ibn-Rushd-Goethe-Moschee medial viel stärker wahrgenommen worden als der LIB. Dafür, dass es zwischen beiden Initiativen keine Zusammenarbeit gebe, seien neben inhaltlichen Differenzen auch persönliche Gründe verantwortlich.

Den Blick der anderen islamischen Verbände auf den LIB beschrieb Rashid als distanziert bis ablehnend. Die anfängliche Sorge vor neuer Konkurrenz sei mit der Zeit aber einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen. Er gehe nicht davon aus, dass sich der LIB in der Zukunft stark weiterentwickeln werde. Zugleich blickt er kritisch auf die zunehmende Ausrichtung auf Themen aus dem Bereich „wokeness“, wie er sie in der Frankfurter Gemeinde beobachte. Wie zu Beginn schon Jagiella, kritisierte auch Rashid, dass viele Muslim:innen inzwischen medial schnell zu Unrecht mit dem Label »liberal« versehen würden, etwa allein deshalb, weil sie einen konservativen Verband verlassen haben.


Leyla Jagiella (Liberal-Islamischer Bund)

Leyla Jagiella im Gespräch mit Theresa Beilschmidt (Stiftung Weltethos)

Christian Ströbele, Akademie

Mahmoud Abdallah (Zentrum für Islamische Theologie Uni Tübingen)

Annika Mehmeti (Liberal-Islamischer Bund)

Abdul-Ahmad Rashid (Journalist und Islamwissenschaftler, ZDF) im Gespräch mit Hussein Hamdan (Akademie/Islamberatung)