Eine lernende, lesende Religion

Wie stand es um jüdisches Wissen in der Frühen Neuzeit? Wie wurde es weitergegeben? Eine interdisziplinäre Tagung widmete sich in Stuttgart-Hohenheim diesen Themen.

Von Ruth Bruchertseifer

Das Judentum als „lernende Religion“, so beschreibt es Micha Brumlik. Mit diesem Zitat führte Lisa Astrid Bestle ein in das 24. Treffen des Interdisziplinären Forums Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit an der Akademie in Stuttgart-Hohenheim. Lehren und Lernen in unterschiedlichster Ausprägung standen daher im Zentrum der Tagung mit dem Titel „Wissenstransfer in der jüdischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit“

In jüdischen Ärztefamilien in Frankfurt am Main wurde, wie Wolfgang Treue berichtete, das medizinische Wissen lange durch eine traditionelle Lehre weitergegeben, oft mit dem Vater als Lehrer. Auch noch nach dem 17. Jahrhundert, als auch jüdische Ärzte Zugang zu den Universitäten erhielten und dort Wissen und Titel erwarben, bestand die Ausbildung in der Familie weiter, vielfach neben dem Studium.

Schulboykott aus Protest gegen den Fürstabt

Kritisch gegenüber traditioneller Lehre zeigten sich dagegen diverse Pädagogen des 18. und 19. Jahrhunderts, vorgestellt von Kerstin von der Krone. Diese bemühten sich im Kontext der jüdischen Aufklärung und Emanzipation um Unterrichtsreformen und verfassten neue Lehrwerke und pädagogische Schriften für den jüdischen Religionsunterricht und für jüdische Schulen.

Im Zusammenhang mit der Reform des Unterrichts und der Lehrbücher standen Reformen des Wissenserwerbs jüdischer Lehrer. Letztere wurden von der preußischen Obrigkeit gefordert und durchgesetzt, wie Andreas Brämer erläuterte. Qualitätskontrollen hoben das Niveau des an den Schulen vermittelten Wissens. Wurden solche obrigkeitlichen Maßnahmen zu sehr an den Gemeinden vorbei durchgesetzt, konnte die Wissensvermittlung jedoch auch eingeschränkt werden. Dies zeigte Michael Imhof am Beispiel Fulda, wo die Gemeinde die Schulreformen des Fürstabts boykottierte, indem die Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Schule schickten.

Kalender als entscheidende Form der Wissensvermittlung

Eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung von Wissen, ganz besonders im Judentum, spielten Bücher. Neben Lehrbüchern gab es unter anderem Arzneibücher oder Studienbibeln für den Hausgebrauch. Aber auch für die Wissensvermittlung im Alltags- und Wirtschaftsleben waren Bücher von großer Bedeutung: Kalender vermittelten Kenntnis über wichtige Messe- und Markttermine sowie über Feiertage. Je nach Kalender wurden den Feiertagen der eigenen Religion diejenigen anderer Religionen gegenübergestellt. Die Nutzung dieser Kalender war in der Frühen Neuzeit im aschkenasischen Kulturraum weit verbreitet, wie die beiden Vorträge von Marion Aptroot zu Amsterdam und von Franziska Strobel zu Süddeutschland zeigten.  Nicht immer jedoch ist die Verbreitung und Anwendung von Wissen so gut belegt wie bei den Kalendern.

Immer wieder stellte sich im Laufe der Tagung die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: Wurden medizinische Behandlungsempfehlungen, Lehrpläne oder Schulreformen in schriftlichen Quellen vielleicht nur als Anspruch formuliert oder als Einzelbeispiele vorgestellt? Wie und in welchem Maß sie tatsächlich im Alltag vorkamen und umgesetzt wurden, ist überlieferungsbedingt häufig schwer zu sagen.

Einen Bericht des Deutschlandfunks über die Tagung können Sie hier anhören.

Die 25. Tagung des Interdisziplinären Forums Jüdische Geschichte und Kultur der Frühen Neuzeit findet vom 14. bis 16. Februar 2025 unter dem Titel „Digital in die jüdische Frühe Neuzeit – neue Formen der Vermittlung“ an der Akademie statt.

G. Kirchs Christen-, Juden- und Türcken Calender, 1718

Roelant Savery: Zwei jüdische Schriftgelehrte, ca. 1608 – 1609