Briefe aus dem Lager Gurs

Die Schicksale nach Südfrankreich deportierter Jüdinnen und Juden zeigt die Wanderausstellung „Gurs 1940“. Die Eröffnung schlägt den Bogen zum Briefwechsel einer Familie in Oberschwaben.

 

Von Michaela Kästl

Wer erinnert? Und wie vermitteln? Dies sind nur einige der Fragen, die die Wanderausstellung „Gurs 1940“ zur Deportation und Ermordung von südwestdeutschen Jüdinnen und Juden in das französische Lager Gurs durchziehen. Lokale Erinnerungsinitiativen und viele weitere Partner unterstützten das Kooperationsprojekt der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in der Aufarbeitung und Darstellung jüdischen Lebens in, vor und nach der Shoah. Im Fokus stehen die organisierten Verschleppungen von mehr als 6500 jüdischen Deutschen aus ihrer Heimat im Oktober 1940 – ein Jahr bevor die systematischen Deportationen aus dem gesamten Deutschen Reich in den Osten begannen. Der Fachbereich Geschichte der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat die Ausstellung zusammen mit dem Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Oberschwaben nach Weingarten geholt. Am 26. September wurde sie im dortigen Tagungshaus der Akademie eröffnet. 

Auf den Spuren jüdischen Lebens

„Geschichte passiert nie in einem luftleeren Raum. Sie ist immer verflochten“, betont Johannes Kuber, Leiter des Fachbereichs Geschichte an der Akademie in seiner Eröffnungsrede. Doch welche überregionalen Verflechtungen es gab, wie das jüdische Leben in Oberschwaben eigentlich aussah und wie die Deportationen abliefen, sei oft gar nicht so leicht nachvollziehbar. Denn Gedenktafeln und Stolpersteine sind heute an vielen Orten die einzigen Hinweise, die an das rege jüdische Leben in Südwestdeutschland vor dem Holocaust erinnern. Im Rahmen der Ausstellungseröffnung schafften zwei Vorträge von ExpertInnen für jüdische Lokalgeschichte einen direkten Bezug zur Regionalgeschichte Oberschwabens. Charlotte Mayenberger, Gründerin des Freundeskreises "Juden in Buchau", berichtet im ersten Impulsvortrag der Eröffnungsveranstaltung von Einzelschicksalen jüdischer Männer, Frauen und Kinder, die ab 1941 aus Bad Buchau in verschiedene Arbeits- und Konzentrationslager verschleppt wurden – wenige kehrten zurück, die meisten starben aufgrund der menschenunwürdigen Transport- und Lebensbedingungen fernab ihrer Heimat oder wurden in Vernichtungslagern ermordet. In dem Gedenkraum zur jüdischen Geschichte in Buchau finden sich noch einige ihrer Sachen, umfassend inventarisiert, die Einblicke in das Leben vor und auch nach der Shoah ermöglichen; Objekte, die die individuellen Lebensgeschichten ihrer Besitzer sichtbar machen.

Erinnerungen aus dem Koffer

Was bleibt sind also Erinnerungen, Fotos, vielleicht Dokumente, die zufällig in einem verstaubten Koffer auf einem Dachboden gefunden werden. Das zeigt zum Beispiel die Geschichte der Familie Uffenheimer, in die Ursula und Werner Wolf von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Begegnung in Oberschwaben bei der Ausstellungseröffnung Einblicke gewährten. Der sorgsam aufbewahrte Briefwechsel zwischen dem 1938 nach Argentinien geflohenen Semi Uffenheimer und seiner Schwester Flora, die mit ihren Eltern in Deutschland zurückblieb, zeugt von ihren persönlichen Erfahrungen und Eindrücken. Im Herbst 1939 kommt die Familie aus Breisach im Zuge der Rheinlandevakuierung einige Wochen im Burachhof bei Ravensburg unter, bevor sie an ihren Heimatort zurückkehrt und von dort aus 1940 in das südfranzösische Lager Gurs deportiert wird. Die Mutter verstirbt noch im selben Jahr. Flora schreibt ihrem Bruder weiterhin aus dem Lager und über ihre dortige Arbeit als Krankenschwester – bis auch hier die Briefe 1942 mit dem Transport nach Auschwitz enden. 

Neue Perspektiven 

Die Ausstellung geht in jene Erzählungen nahtlos über. Sie erinnert an die Verbrechen, aber auch an ihre Nachgeschichte. Um dm transnationalen Charakter gerecht zu werden, sind alle Ausstellungstexte sowohl in Französisch als auch in Deutsch gehalten. Im Zentrum stehen dabei Bilder, Personen und ihre Namen sowie Objekte, die den Alltag im Lager Gurs deutlich machen - ob beim Wäscheaufhängen, an der Essens- oder Brotausgabe oder beim Grabendienst. Selbstgemalte Bilderbücher und Comics geben die Perspektiven der Gefangenen wieder, ihre ganz persönlichen Wünsche, Geschichten und Ängste. Die Ausstellung „Gurs 1940“ leistet damit einen besonderen Beitrag zu einer integrierten und integrierenden europäischen Erzählung über Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus – eine Geschichte, die sich der Vor- und Darstellungskraft fast gänzlich entzieht, aber gerade in individuellen Biografien und auch einzelnen Objekten wieder greifbar wird.


Die Ausstellung ist noch bis zum 10. Oktober 2021 im Tagungshaus der Akademie in Weingarten zu sehen. Es werden auch Führungen angeboten. 

 

Uwe Hertrampf (links) führt durch die Wanderausstellung "Gurs 1940".

Die BesucherInnen der Ausstellungseröffnung bekamen zusätzliche Einblicke in regionale Erinnerungsarbeit.