Zwischen Mittelalter und Moderne

Die Philosophische Sommerwoche der Akademie hat sich in Weingarten mit den philosophischen Grundlagen der reformatorischen Glaubenswende im 16. Jahrhundert beschäftigt.

Die Frage nach dem durch die Reformation veränderten philosophischen und theologischen Menschenbild stand im Mittelpunkt der Philosophischen Sommerwoche der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Weingarten, die sich unter dem Titel „Humanität, Freiheit und Sünde“ mit den philosophischen Grundlagen der Reformation befasste. Dabei wurde deutlich, wie die Theologie Martin Luthers auf Voraussetzungen des spätmittelalterlichen Denkens aufbaute und eben nicht einfach vom Himmel gefallen ist, wie Tagungsleiter Klaus W. Hälbig hervorhob.

Professor Theodor Dieter, Direktor des Instituts für Ökumenische Forschung in Straßburg, zeigte in seinem Vortrag zu „Luther und Aristoteles“, dass Luthers Urteil über die Vernunft sehr viel differenzierter ausfällt, als die bekannte Formulierung von der „Hure Vernunft“ vermuten lässt. Den Namen „Aristoteles“ verwende Luther vor allem als Chiffre für die philosophische Vernunft überhaupt. Den Begriff „Vernunft“ (lat. ratio) gebrauche Luther durchaus mit unterschiedlichen Bedeutungen, die sich zudem nicht mit unserem heutigen Verständnis decken.

Vernunft und Freiheit des Willens

Eine ausgesprochene Hochschätzung der Vernunft zeige Luther in der Disputatio de homine (1536): Sie ist es, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, sie ermöglicht Rechtsauslegung und lässt den Menschen das natürliche Recht erkennen, das ihm ins Herz geschrieben ist. Von der „Hure Vernunft“ habe Luther in der Auseinandersetzung mit Karlstadt um die Deutung der Einsetzungsworte Jesu beim letzten Abendmahl gesprochen. Karlstadt habe aus rationalen Gründen den Glauben an die Realpräsenz Christi in Frage gestellt und so nach Ansicht Luthers die Grenzen der Vernunft überschritten, da es in der Eucharistie um Sachverhalte gehe, die über die Vernunft hinausliegen („supra ratione“); so schlage seine Argumentation in Unvernunft um. Mit dem Aufweis der philologischen Unhaltbarkeit von Karlstadts Auffassung habe Luther selbst in höchstem Maße „rational“ argumentiert, so Dieter. Die Reichweite der Philosophie habe Luther auf das „Sichtbare“ zu beschränken versucht, während das „Unsichtbare“ allein Gegenstand der Theologie sein könne. Gegen die Fremdbestimmung der Theologie durch die Dominanz der aristotelischen Philosophie wollte er zu ihrem Eigentlichen zurück: zum „Kern der Nuss“.
Auch Luthers Freiheitsverständnis, wie er es in seiner Schrift De servo arbitrio (Vom unfreien Willen) 1525 als Antwort auf die Schrift De libero arbitrio (Vom freien Willen) des Erasmus von Rotterdam formulierte, ist nach Ansicht von Dieter differenzierter als gewöhnlich angenommen zu sehen. Ihren „Sitz im Leben“ habe die Frage für Luther im Bußsakrament, genauer bei der menschlichen Reue in der Beichte. Nach Luthers Lehrer Gabriel Biel habe Gott sich frei so bestimmt, dass er dem reuigen Sünder die Gnade nicht verweigere, im Sinne einer notwendigen und hinreichenden Bedingung (pactum dei). Diese Reue müsse der Mensch aber aus Gehorsam gegenüber der Vernunft vollziehen, nicht nur aus Furcht vor Höllenstrafen. Der Sünder finde demnach einen gnädigen Gott, wenn er ihn um seinetwillen liebt und seine Sünde bereut.

„Wo finde ich einen gnädigen Gott?“

Aber wie kann man sicher wissen, ob die Reue auch ausreicht und einem wirklich vergeben ist? Luther sei an die Grenzen dieses Modells gestoßen. Ihm sei es um eine ganzheitliche Liebe zu Gott gegangen, um die vollkommene Erfüllung von Gottes Willen „mit allen Kräften“. Dies aber sei dem Menschen gerade nicht möglich. Insofern müsse die Gnade Gottes der Liebe zu ihm vorausgehen. Die eigentliche Frage Luthers wäre daher: „Wo finde ich einen gnädigen Gott?“ Seine Antwort laute:  im Evangelium. Mit dem reinen Empfangen der Gnade stehe aber nicht mehr die Liebe im Mittelpunkt, sondern der Glaube, und zwar als Vertrauen; dieses sei aber nicht Sache des Willens. Insofern gehe die Frage nach der Freiheit des Willens in Luthers Antwort am Anliegen des Erasmus vorbei. Ihm hätte er Dieter zufolge vielmehr entgegnen müssen: Die Freiheit zu moralischen Handlungen mag es geben; aber darin besteht noch nicht die Erfüllung des Gesetzes mit allen Kräften, wozu der Mensch aus eigenem Vermögen nicht in der Lage ist.
Die Frage des Freiheitsverständnisses behandelte auch Professor Peter Walter, emeritierter Dogmatiker aus Freiburg, und zwar zunächst im italienischen Humanismus, der anhand von drei Repräsentanten und ihren Hauptwerken vorgestellt wurde: Coluccio Salutati (De fato et fortuna), Lorenzo Valla (De voluptate et vero bono) und Giovanni Pico della Mirandola (Oratio de dignitate humanae). Salutati deute das Verhältnis von Gott und Mensch als Erst- und Zweitursache, so könne es in der von Gott geschaffenen Welt Freiheit geben. Bei ihm finde sich auch schon der Gedanke, dass der Mensch nicht aus Werken, sondern nur aus Gnade gerettet werden kann, aber ohne dass deswegen die guten Werke ihren Sinn verlieren. Sein „Humanismus“ ziele auf den „guten Menschen“. Dieser sei auch auf „Weltweisheit“ angewiesen, da nicht alle Fragen aus der Bibel zu beantworten seien. Aus diesem Grund propagiere Salutati die studia humanitatis, also Grammatik, Rhetorik, Poesie, Geschichte und Moralphilosophie.
Mit „voluptas“ (Lust, Freude) im Titel von Vallas Hauptwerk ist Walter zufolge ein positives Verhältnis zur Wirklichkeit als der von Gott dem Menschen geschenkten Natur gemeint. Die Unterscheidung der Ebenen von Erst- und Zweitursachen kritisiere Valla, umstritten sei, ob er dabei den freien Willen abgelehnt habe. Pico della Mirandolas berühmte Rede über die Würde des Menschen (1486/87) werde oft als Manifest der Neuzeit angesehen. Darin lässt er verschiedene Figuren sich über die Größe des Menschen äußern. Freiheit komme dabei in einem dreifachen Sinn zur Sprache: als Unbestimmtheit – der Mensch ist auf nichts festgelegt, als Wahl- und Entscheidungsfreiheit sowie als „Freiheit für etwas“: Der Mensch soll sich selbst und die Welt in schöpferischer Weise formen, darin liege seine „Gottebenbildlichkeit“ und „Würde“. Aber er könne seinen Willen auch negativ gebrauchen und so „degenerieren“.
Auf den Gegensatz zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam ging Walter in seinem zweiten Vortrag ein. Erasmus sei zunächst einer der wichtigsten Vordenker der Reformation gewesen, nach einem damals verbreiteten Bonmot: „Luther hat das Ei ausgebrütet, das Erasmus gelegt hat.“ Erasmus habe aber dann Luthers Bruch mit der katholischen Kirche nicht mitvollzogen; 1523 schrieb er an Zwingli, er habe „alles gelehrt, was Luther gelehrt hat, nur nicht so grausam“. Zudem habe er sich der Paradoxe enthalten, etwa im Hinblick auf den freien Willen.
Seine Abhandlung „Über den freien Willen“, die er 1524 verfasste, sei wohl als Angebot an Luther gemeint gewesen. Der gelehrte Humanist hatte um einer gemeinsamen Argumentationsgrundlage willen ausschließlich biblisch argumentiert, stützte sich aber dabei auch auf das geistige Schriftverständnis eines Origenes, um scheinbar gegen die Freiheit des menschlichen Willens sprechende Stellen der Bibel zu interpretieren. Seine Position sei letztlich auf die traditionelle Auskunft hinausgelaufen, wonach der Mensch als Geschöpf einen freien Willen hat, der durch die Ursünde geschwächt sei und durch die Erlösung wiederhergestellt werde. Dessen Leugnung sei mehr ein Unrecht gegenüber Gott als dem Menschen. Mit der Schrift „Über den unfreien Wille“ habe Luther dann ein Jahr später den völligen Bruch mit Erasmus vollzogen.

Individualität und Sicherheit des Wissens

In einem Vorgriff auf das Folgende behandelte Akademiereferent Marco Sorace (Aachen) „piktoralen und skulpturalen Nominalismus“. Nach dem Kunsthistoriker Thierry de Duve mache dieser die wesentliche Entwicklungslinie der neuzeitlichen Kunst aus: das Individuelle. Die singulären Formen träten in den Vordergrund, gipfelnd bei Marcel Duchamps. Auch in der Bildhauerei Michelangelos finde sich in diesem Sinne eine Akzentverschiebung in der Balance zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen.
Aufkommen und Deutung der Individualität im spätmittelalterlichen Denken war dann Thema von Professor Gerhard Krieger (Trier). Luthers Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ zeige die Bedeutung des Ich-sagens im reformatorischen Denken. Diese starke Stellung des Einzelnen sei im spätmittelalterlichen „Nominalismus“ durch Wilhelm von Ockham und Johannes Buridan vorbereitet worden. Ockham habe die Sprache in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt und Begriffe als Zeichen verstanden, denen keine „Realität“ unabhängig vom Bewusstsein zukomme (wie bei den früheren „Realisten“); die Beziehung zum jeweils Bezeichneten fasste er als rein konventionelle Übereinkunft des bloßen Nennens auf. Entscheidend war für ihn die Frage, wie vor diesem Hintergrund Wissen im wissenschaftlichen Sinn gesichert werden könne. Wenn Gegenstand des Wissens allgemeine Sätze sind, wie lässt sich dann etwas über Einzeldinge wissen? Für Ockham sei der Sinngehalt einer wissenschaftlichen Aussage ihre Identität mit dem nicht-sprachlichen Einzelding, das wir nur durch sprachliche Bezugnahme erreichen.
Johannes Buridan blieb Zeit seines Lebens an der philosophischen „Artistenfakultät“ und wechselte nicht in die Theologie, weil es ihm um ein „ursprüngliches Wissen“ ging, das Voraussetzung für alles andere Wissen und insofern apriorisch ist. Sein Augenmerk richtete sich wie später bei Kant auf die subjektiven Bedingungen für das Wissen im Bewusstsein. Wie schon bei Ockham gebe es ihm zufolge keinen direkten Zugang zum Gegenstand des Wissens, weil der Bezug zur Wirklichkeit immer ein vermittelter sei. Anders als für Ockham gebe es aber für Buridan eine objektive Gewährleistung des Wissens, allerdings durch Bedingungen im Menschen, nicht außerhalb seiner.
Die Schlussfolgerung daraus bracht Krieger so auf den Punkt: „Gott ist kein möglicher Gegenstand objektiven Wissens mehr.“ Denn dazu müsste man Bedingungen von Gottes Erkennbarkeit setzen, was nicht möglich ist. Insofern sei Gottes Existenz nur noch als notwendige Voraussetzung einsehbar. Hierin liege der Grund für Buridans Entscheidung zum Verzicht auf theologisches Wissen, das ein „Wissen anderer Art“ ist – ohne dass er dabei die Rationalität des Glaubens in Frage gestellt hätte.
Nikolaus von Kues, der aufgrund seines intellektuellen Kontextes von Krieger noch als spätmittelalterlicher Denker verstanden wurde, sei es ebenfalls um die Erfahrung der vielen Einzeldinge gegangen, die er aber von einem immer umfassenderen Zusammenhang her als Einheit zu begreifen suchte. Cusanus dachte Einheit so, dass sie zugleich das Individuell-sein ermöglichte. Die Einheit der Gegenstände sei nicht selbst Gegenstand der Erfahrung der Sinne, sondern werde mit der Einbildungskraft (imaginatio) geschaffen. Von ihr ausgehend könne man die absolute Einheit denken, die alle anderen Einheiten in sich einschließt. Cusanus unternehme so einen Versuch, Gott auf eine Weise zu denken, die rein aus dem Denken kommt – die Identifikation mit dem Gott des Glaubens ist dabei aber keineswegs selbstverständlich.

Reformation – Beginn der Moderne?

Zum Thema „Macht und Freiheit – Göttliche Allmacht und menschliche Freiheit im Nominalismus und bei Luther“ äußerte sich der Philosoph Theo Kobusch (Bonn). Nach ihm mache der Begriff „Nominalismus“ in der praktischen Philosophie eigentlich keinen Sinn, angemessener sei es stattdessen von „Voluntarismus“ zu sprechen. Dieser betont (im Gegensatz etwa zur Position des  Thomas von Aquin) einen Vorrang des Willens vor dem Intellekt, so etwa bei Ockham. Im theologischen Voluntarismus werde nun der Wille Gottes als schlechterdings maßgeblich in allen Bereichen angenommen. So habe Pierre d’Ailly die Auffassung vertreten, Gutes sei nur deshalb gut, weil es von Gott geboten ist. Auch nach Ockham ist die Qualität des Moralischen einer Handlung äußerlich: Wenn Gott etwa das Stehlen geböte, so wäre auch dies eine verdienstvolle Handlung. Ein Einfluss dieses Denkens auf Luther ist Kobusch zufolge unverkennbar – „Ich gehöre zur Fraktion Ockhams“, habe Luther auch selbst geäußert. So finde sich bei ihm auch die Ansicht, dass man seinen Nächsten schlagen müsse, wenn Gott es wolle („quia voluit“).
Im zweiten Vortrag „Reformation – Beginn der Moderne?“ ging Kobusch auf das Freiheitsproblem im Calvinismus und die Antwort der neuzeitlichen Philosophie darauf ein. Beginn der Moderne sei die Reformation nur insofern, als diese eben die Antwort der Moderne herausgefordert habe. Calvin habe im Anschluss an Luther neben den antiken Philosophen auch die griechischen Kirchenväter wegen ihrer Bejahung der menschlichen Freiheit kritisiert. Gottes Wille sei für ihn die einzige Richtschnur der Gerechtigkeit. Gegen ein solches nur analoges Verständnis von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit wenden sich Leibniz und später auch Kant. Das führte dann bei Kant wie zuvor schon bei den englischen Deisten zu einer scharfen Kritik an der Darbringung des Sohnesopfers durch Abraham in der Erzählung des Buches Genesis (Kap. 22), weil es Gottes Forderung als moralwidrig erscheinen lässt.

Vergöttlichung des Menschen bei Luther?

Für die größte Überraschung sorgte der Vortrag von Daniel Munteanu (Erlangen), Professor für orthodoxe Theologie in Rumänien, der Luthers Freiheitsverständnis ins Licht der finnischen Luther-Forschung rückte. Demnach lasse sich das orthodoxe Konzept der Erlösung, die in der „Vergöttlichung“ (theosis) des Menschen besteht, auch in der reformatorischen Theologie nachweisen. So finde sich der Begriff der Vergöttlichung (lat. deificatio) bei Luther häufiger als der der Rechtfertigung, zu dem er aber in einer gewissen Spannung steht. Wie sich beide Konzepte zueinander verhalten, sei allerdings auch bei Luther unklar geblieben.
Eine bleibende wechselseitige Durchdringung (Perichorese) von Menschlichem und Göttlichem werde beim Konzept der bloßen Anrechung der Gerechtigkeit Christi aufgrund des Glaubens im forensischen Sinn jedenfalls nicht angenommen. Diese Position, so betonte Munteanu, sei dem orthodoxen Denken völlig fremd, woraus sich auch die Bedeutung von Askese und guten Werken für den Weg zur Vergöttlichung in der Orthodoxie ergebe.
Peter Zimmerling, evangelischer Professor für Praktische Theologie in Leipzig, machte geltend, dass für Luther die „Vergöttlichung“ etwas nur punktuell Vorkommendes sei. Einen Paradigmenwechsel habe es in der evangelischen Lutherforschung vor einem Jahrzehnt in Bezug auf Luthers Verhältnis zur Mystik gegeben, insbesondere durch die Arbeit des Kirchengeschichtlers Volker Leppin. Luther habe nicht nur Augustinus und Bernhard von Clairvaux rezipiert, sondern auch zweimal selbst das mystische Werk „Theologia deutsch“ eines anonymen Autors herausgegeben, in der er die völlige „Passivität“ des Menschen beim mystischen Prozess von Reinigung, Erleuchtung und Einung wiedergefunden habe. Zugleich habe Luther das Anliegen der Mystik im Sinne seiner Rechtfertigungstheologie neu interpretiert.
Die ganzheitliche, mystische Gotteserfahrung spielte so auch bei ihm durchaus eine zentrale Rolle. Zimmerling sprach von einer „demokratisierten“ Mystik für jedermann – einen elitären Sinn von Mystik habe Luther abgelehnt. Im Anschluss an die Christus-Mystik seines Lehrers Johann von Staupitz sei es ihm um eine innige Beziehung zu Gott durch Wort und Glaube gegangen, die nur von Zeit zu Zeit auch in „Sehen“ und „Wissen“ umschlägt. Aus der mittelalterlichen Liebesmystik sei bei Luther so eine Glaubensmystik geworden. Wie zuvor schon bei Bernhard von Clairvaux werde darin die Würde der einzelnen Seele vor Gott hervorgehoben. Hierin könne man die eigentliche „Geburt“ der neuzeitlichen Individualität sehen. (Andreas Henn)

Ihm Rahmen der Sommerwoche fand auch ein Konzert des Gabrieli-Bläserquintetts in der Basilika statt. Die Schwäbische Zeitung hat das Konzert besprochen. Der Artikel kann hier nachgelesen werden: Schwäbische Zeitung


Luthers Menschenbild stand im Mittelpunkt der Philosophischen Sommerwoche.