Zeit für Umparken im Kopf

Unsere Städte sollen ein sozialer Ort für die ganze Bevölkerung sein und Einkaufsspaß bieten – doch zurzeit sind sie vielerorts leer und öde. Und nach Corona muss vieles anders gedacht werden.



Wie sieht die Zukunft unserer Innenstädte aus? Damit beschäftigte sich die jüngste Veranstaltung der Online-Gesprächsreihe „Wirtschaft im Wandel“, die gemeinsam von der Akademie und dem Fachbereich Führungskräfte des Bischöflichen Ordinariats veranstaltet wird. Ein Fazit vorneweg: Unsere Städte stehen nach Corona vor einem Wandel, der erst allmählich ins Bewusstsein dringt. Aber die Praktiker vor Ort scheuen diesen Wandel nicht – im Gegenteil. Sie sind bereit anzupacken, um die notwendigen Veränderungen zu gestalten. 

Christian Riethmüller, der Vorsitzende der Geschäftsführung der Osianderschen Buchhandlung, hat sich das Jubiläumsjahr ganz anders vorgestellt. Seit 425 Jahren gibt es die älteste Buchhandlung Baden-Württembergs und zweitälteste in ganz Deutschland mit aktuell fast 400 Mitarbeitenden und 70 Filialen. „Wir haben schon zwei Weltkriege und andere Krisen überstanden, aber Corona beschäftigt uns wie nichts anderes“, berichtete er bei der Online-Veranstaltung zu „Wirtschaft im Wandel“. Seit fast fünf Monaten seien seine Läden fast komplett geschlossen, Aufgeben ist für Riethmüller trotzdem keine Option. „Viele zeigen gerade echten Unternehmensgeist und ziehen sich am eigenen Schopf aus der Krise“, sagte er, nicht ohne sogleich eine Breitseite gegen die Politik abzufeuern. „Wir bekommen von der Politik keine Unterstützung, die sind nicht interessiert an unseren Problemen“, kritisierte Riethmüller und nahm besonders den früheren Stuttgarter OB Fritz Kuhn ins Visier. Der sei ahnungslos gewesen im Hinblick auf die Abwanderung der Kunden in den Online-Handel, schimpfte Riethmüller, habe sich aber angemaßt, allein entscheiden zu können. Riethmüller ist nicht gegen den Online-Handel, gemeinsam mit anderen Buchhändlern, mit denen er im stationären Handel konkurriert, hat er eine Plattform aufgebaut, um Amazon Paroli zu bieten. Auch deshalb habe ihn Kuhns Ansicht geärgert, man müsse den Online-Handel nicht so ernst nehmen, Stuttgart sei doch immer voll. Für Riethmüller ist klar, dass es nach Corona nicht dort einfach weitergeht, wo man aufgehört hat. „Unsere aktuelle Flexibilität bringt uns zwar weiter und in ein paar Jahren sicher auch positive Effekte, aber man sitzt trotzdem manchmal daheim und könnte heulen“, beschrieb er die Stimmung.

Händler fühlen sich von Politik allein gelassen

Sven Hahn vertritt als Citymanager von Stuttgart die City-Initiative, hinter der rund 80 Prozent der Verkaufsflächen stehen – und zwar nicht nur Einzelhändler, sondern auch Kulturbetriebe und Veranstalter vom Weindorf bis zum CSD. Auch er hält große Anstrengungen nach der Pandemie für notwendig, um die Stadt wieder attraktiv zu machen. In einer kleinen Kommune möge das anders sein, aber um die Königsstraße voll zu bekommen, brauche man etwa 100 000 Leute, rechnete er vor. Hahn sieht die Stadt dabei vor allem als Sozialraum, die für alle Menschen, alt oder jung, arm oder reich, etwas bieten müsse. Auch er kritisiert politische Entscheidungen, die ungerecht seien. 80 Prozent der Kundenkontakte im Einzelhandel etwa hätten ohne Probleme stattgefunden – in Lebensmittelmärkten, die immer geöffnet blieben. Die wechselnden Regelungen für die anderen Branchen aber hätten Händler und Kunden total verunsichert. Statt die Stadt zu vermarkten betreibe er deshalb heute vor allem Politikerklärung, sagte Hahn und rechnete vor, was der Lockdown für einen mittelgroßen Modehändler mit eineinhalb Etagen auf der Königstraße bedeutet: 300 000 Euro Miete pro Monat plus höhere Personalkosten machten schon 1,5 Millionen Euro Fixkosten aus. Zwar könne man mit Kurzarbeit die Lohnkosten senken, aber die Miete werde nur gestundet, nicht erlassen, und Corona-Hilfe seien oft auch an Darlehen und eine gute Wirtschaftsprognose gebunden.

Christian Riethmüller bekräftigte dies: Sein Unternehmen habe „für 2020 keinen Cent bekommen“, weil der Umsatzrückgang nicht 30, sondern „nur“ 28 Prozent betragen habe. Ende April gebe es die erste Abschlagszahlung für die Ausfälle von Januar und Februar. „Ohne eine gesunde Eigenkapitalsituation gäbe es uns nicht mehr“ sagte Riethmüller. Hinzu komme: Die Politik entscheide weit weg von der Realität, alles sei total bürokratisch und nur mit Riesenaufwand zu bewerkstelligen. Als positive Ausnahme sieht er den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der wöchentlich in der Tübinger Unternehmenszentrale von Osiander angerufen und auch eine Mietbeteiligung der Stadt auf den Weg gebracht habe, um dem Einzelhandel zu helfen. Doch Palmer sei unbequem, deshalb werde er von seiner Partei, den Grünen, der Landes- und Bundespolitik ignoriert. Dabei gebe es bis heute kein Konzept für die Wiedereröffnung noch einen Fonds für Innenstädte nach der Pandemie.

Online-Handel verändert Städte

Dass ein solches Konzept sehr umfassend sein müsste, machte Sven Hahn deutlich: Es gehe darum, den Öffentlichen Nahverkehr zu verbessern, um die Stadt für Menschen aus dem darum liegenden Speckgürtel attraktiv zu machen, ohne neue Staus zu produzieren. Angesichts des Klimawandels müsse man schattige Plätze schaffen und Spielplätze für Familien, damit die Stadt Erlebnisraum für alle werde. Auch die Einkaufsstraßen würden sich verändern. Was passiere etwa mit der Modebranche, fragte Hahn. Inzwischen sei Aldi der zweitgrößte Modehändler. Davon betroffen seien auch die Shopping Malls und Einkaufcenter. Auch die Leere in den Büros durch mehr Homeoffice – und dieser Trend werde ebenfalls nicht einfach verschwinden – mache sich massiv bemerkbar: Die Mittagszeit und die Feierabendstunden seien vor Corona besonders umsatzstark gewesen. Das sei weggebrochen. Nicht zuletzt habe Stuttgart einen Milliardenumsatz durch Tourismus gemacht – doch 70 Prozent davon seien Dienstreisen gewesen, die es auch nach Riethmüllers fester Überzeugung in dem bisherigen Umfang nicht mehr geben wird, weil viele weiterhin Video-Konferenzen nutzten.

Die aktuelle kontroverse öffentliche Diskussion über eine geplante Boulderhalle im ehemaligen Metropol-Kino im Zentrum Stuttgarts müsse man auch unter solchen Aspekten sehen: wenn die Leute nicht mehr in der Stadt arbeiten, dann müsse man die Stadt mit neuen Angeboten für Besucher attraktiv machen. Im Hinblick auf den Internethandel ist Hahn davon überzeugt, dass sich die sogenannte Plattformökonomie durchsetzen wird. „Die Bundestagsabgeordnete einer ökologischen Partei hat vorgeschlagen, man solle doch einfach alle Läden in Stuttgart zu machen und den Handel ins Internet verlagern, es gäbe dafür auch Fördermittel – das ist naiv“, sagte Hahn. Amazon habe allein 900 offene Stelle ausgeschrieben, die den Internethandel weiterentwickeln sollen, und da stelle man sich vor, mit drei Teilzeitstundenten eine Plattform aufzubauen. Die Zukunft, so Hahn, liege in Kooperationen zwischen den Online-Riesen und dem Einzelhändlern. Denn den Riesen mangele es an Lagerfläche, wenn ein Produkt ausverkauft sei, sei es auverkauft, und der Kunde vertage Kaufentscheidungen nicht gern. Also suche Amazon und Co. künftig in den Warenbeständen ihrer Einzelhandelspartner, dieser verschickt dann das Produkt an den Kunden, zahlt ein Disagio an Amazon und zwar für ein Produkt, dass er ohne Amazon sonst gar nicht verkauft hätte.  

Stadt muss Erlebnisraum für alle sein

Die Beiträge der beiden eloquenten Vertreter machte deutlich, wie groß die politische Herausforderung ist und wie umfassend die Pandemie zum Umdenken zwingt. Das bestätigte auch Gudrun Heute-Bluhm mit ihrem Wortbeitrag. Die frühere Oberbürgermeisterin von Lörrach ist als Vorstandsmitglied des baden-württembergischen Städtetags mit den Problemen der Städte vertraut. Sie widersprach zwar, dass die Politik sich nicht kümmere und konzeptionslos sei, bot den Referenten aber umgehend Gespräche an, um gemeinsam nach Wegen aus der Krise zu suchen. Denn eines der Hauptanliegen von Riethmüller und Hahn war es, kommunale Akteure an einen Tisch zu holen, zum Erfahrungsaustausch, aber auch, um Projekte zu entwickeln, mit denen auch andere Player und die Zivilgesellschaft ins Boot geholt werden könnten für gemeinsame Entwicklungsschritte. Auch Gabriele Renz, die Sprecherin der Architektenkammer, signalisierte im Chat: „Wir haben Konzepte dafür“.

(Barbara Thurner-Fromm)

 

Dieser Artikel ist Bestandteil unserer Reihe Wirtschaft im Wandel:

 

 

Stefanie Oeben befragte den Stuttgarter Citymanager Sven Hahn (oben) und den Geschäftsführer der Osianderschen Buchhandlung zu den Herausforderungen für den Handel in und nach der Pandemie.

Gudrun Heute-Bluhm (unten rechts), geschäftsführendes Vorstandsmitglied des baden-württembergischen Städtetags, sieht die Städte vor vielschichtige Probleme gestellt.