„Wir leben in unsicheren Zeiten“

Die Auswirkungen westlicher Politik im Orient – Abendgespräch mit dem Nahost-Experten Michael Lüders

Stuttgart. Der Andrang im Tagungszentrum der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Hohenheim zum „Abendgespräch“ mit Michael Lüders am Montag, 11. April, in der Reihe „Nachgefragt“ war ungewöhnlich groß: Weit über zweihundert Interessierte wollten den Nahost-Experten erleben, der seinem Vortrag den Titel gegeben hatte: „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet.“



Lüders zufolge greife eine Erklärung für die Entstehung des „Islamischen Staates“ zu kurz, wenn sie nur bei der Religion und den internen Konflikten zwischen Sunniten und Schiiten ansetzt. Wenn ein ganzer Staat auseinander bricht oder ganze Staaten reihenweise verfallen, habe es der Einzelne schwer, sich noch zu orientieren. 

Besonders zwei Faktoren machte der Politologe für die Verwerfungen im Nahen Osten verantwortlich: Zum einen „das Versagen der Eliten von Marokko bis Pakistan“, die sich zu sehr um ihren eigenen Machterhalt kümmerten, zum anderen aber auch die militärischen Interventionen der westlichen Staaten, vor allem der USA, Groß-Britanniens und Frankreichs, die ihrerseits in erster Linie an der Sicherung eigener Machtansprüche im geopolitischen Kampf mit Russland und China interessiert seien.

Im Unterschied zu den westlichen Gesellschaften auf der Basis von Industrialisierung und Dienstleistungen definiere sich in der arabischen Welt die Staatlichkeit und die soziale Zugehörigkeit noch weitgehend durch vormoderne Strukturen wie Großfamilien, Clans und Volksstämme. Prägend seien daher sehr konservative Wertvorstellungen. Traditionelle religiöse Ansichten, so Lüders, spielten eine sehr viel größere Rolle als im Westen, eine Säkularisierung habe nie stattgefunden. 

In der Realität gebe es daher keinen gesellschaftlichen Resonanzboden für demokratische Entwicklungen. Dafür fehle vor allem ein gesellschaftlicher Träger. Denn die große Mehrheit der Bevölkerung lebe von der Landwirtschaft in prekären Verhältnissen ohne soziale Absicherungen und ohne Perspektiven, und gerade „die bürgerliche Mittelschicht ist beständig vom sozialen Abstieg bedroht.“

Der Publizist beklagte, dass die reichen arabischen Machteliten auf der Basis ihrer Erdöleinnahmen nicht in Bildung und Infrastruktur investierten, sondern in „Geheimdienste zur Sicherung der Macht“. Das Bildungssystem der Länder sei desaströs. Es fehlten Chancen zum Aufstieg durch eigene Leistung. Gesellschaftliche Positionen würden durch „die Gnade der rechten Geburt“ verteilt. Zudem hätten die Kolonialmächte Frankreich und England nach dem Ersten Weltkrieg die Ländergrenzen willkürlich festgelegt, weshalb viele Araber die Staatlichkeit der daraus hervorgegangen Staaten nicht anerkannten. 

Kritik an Nahost-Politik der USA
Kritisch äußerte sich Lüders insbesondere zur US-amerikanischen Politik in der Region nach dem Zweiten Weltkrieg: „Die Amerikaner haben sehr viel Unheil gestiftet“. In Vielem sei die jetzige Situation noch immer eine Spätfolge des Militärputsches im Iran gegen die Regierung Mossadegh 1953, welche die USA in beängstigender Nähe zum Kommunismus sahen. 

Die folgende Unterstützung des Schahs sei ebenso problematisch gewesen wie der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein ohne eine tragfähige Perspektive für die Folgezeit. Dabei seien eine Million Iraker, darunter 500.000 Kinder gestorben, vor allem, weil  aufgrund internationaler Embargos Medikamente fehlten. 

Tod und Sterben waren dadurch dauerpräsent, was zu einer stärkeren Gleichgültigkeit geführt habe. Die neu eingesetzte schiitische Regierung im Irak habe sich dann an den früheren sunnitischen Eliten unter Hussein gerächt und diese aus allen staatlichen Ämtern entfernt. Die Folge davon sei die dauerhafte Instabilität Iraks mit hunderttausenden Arbeitslosen, darunter frühere militärische Eliten. Dies sowie der gleichzeitig sich entwickelnde Bürgerkrieg in Syrien habe die Entstehung der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ begünstigt, so Lüders. 

Einen Sturz der an Moskau orientierten Regierung in Syrien hätten die USA aufgrund ihrer „antikommunistischen Paranoia“ schon 1949 versucht. Der Sechstagekrieg Israels 1967, unter anderem um die syrischen Golan-Höhen, und der Sturz des pro-westlichen Schahs 1979 führte zur Verbündung Syriens mit dem Iran. 

Der jetzige syrische Bürgerkrieg sei zugleich ein „Stellvertreterkrieg“ der westlichen Staaten mit Saudi-Arabien und der Türkei gegen Russland, Iran und China, um eine pro-westliche Regierung durchzusetzen. Man habe, so resümierte Lüders, aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt. Satt dessen werde wieder naiv und ohne weitergehenden Plan gehandelt: „Die Lage in Syrien ist komplexer, als man sich das vorstellte.“ 

„Islamischer Staat“: Mehr als eine Terrororganisation
Der aus der verworrenen Gemengelage heraus gebildete „Islamische Staat“ ist dem Islamwissenschaftler zufolge mehr als eine Terrororganisation. Er sei zugleich ein Staatsbildungsversuch und der größte Arbeitgeber in der Region. Alles, was nicht zu seiner extremen Auslegung des Islams passt, werde als „Feind“ bekämpft und ausgemerzt. 

Lüders zeigt sich überzeugt, dass sich der IS weder durch Luftschläge noch durch Bodentruppen besiegen lasse: „Sie können auch nicht Krieg führen gegen die Mafia.“ Denn jetzige Milizen würden gegebenenfalls wieder unidentifizierbar in der Gesellschaft aufgehen. Der IS sei das Symptom einer Krise, nicht die Krise selbst. Im Unterschied zu anderen islamischen Terrorgruppen stelle aber der IS die Machtfrage im Staat. Das sei auch ein Hauptgrund dafür, dass Saudi-Arabien derzeit die gegen den IS kämpfende al-Nusra-Front unterstütze. 

Wie sich die Lage weiter entwickelt, ist nach Ansicht des Politologen derzeit nicht absehbar. Mit einfachen Zuordnungen von Gut und Böse komme man erst recht nicht weiter: Es gebe schlicht „nette Mörder und weniger nette Mörder“. Was in dieser Situation zu tun sein, wüsste er auch gerne: „Wir leben in unsicheren Zeiten.“ (ars/kwh)


Michael Lüders