Vom Recht, kein Auto zu brauchen

Von einer „Verkehrswende" für den Klimaschutz ist viel die Rede. Doch eine „Verkehrswende" braucht noch andere Dimensionen: Davon wissen Menschen mit Behinderungen zu erzählen, ganz praktisch.

Von Linda Huber

Alternativen, Barrierefreiheit, Sicherheit, Bezahlbarkeit und Klimafreundlichkeit. Das sind die Stichworte, die Mobilitätsexpertin Katja Diehl in den Raum wirft, wenn es darum geht, worauf es bei der Verkehrswende ankommt. „Jede:r sollte das Recht haben, nicht auf ein eigenes Auto angewiesen zu sein“, fordert die Bestsellerautorin. Noch sei das mehr Wunschdenken als Realität, denn bei der Gestaltung von Mobilität würden vor allem Autofahrer:innen bevorzugt. Dabei müsse man von Anfang an alle mitdenken, schließlich sind Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen vielfältig mobil: Sie fahren mit dem Auto, mit Bussen und Bahnen, oder sie sind zu Fuß, mit Rollator oder Rollstuhl unterwegs. Trotzdem werden sie oft vergessen. „Selbst bei den neuesten Mobilitätsformen, für die gerade erst Infrastruktur gebaut wird, gibt es Barrieren“, kritisiert Diehl. Ladesäulen für E-Autos beispielsweise würden oftmals hinter der Bordsteinkante installiert und sind damit für Menschen im Rollstuhl nicht erreichbar. Neu angeschaffte Züge haben maximal zwei Plätze für Menschen im Rollstuhl, und der erforderliche Hublift für Ein- und Ausstieg ist nur an einer Zugtür vorhanden. Klemmt diese, ist die Reise schneller zu Ende als geplant. Verlässlichkeit, Flexibilität und Selbstbestimmung? Fehlanzeige! Wer denkt, dass der ÖPNV schon deshalb Barrierefreiheit garantiert, weil das seit 2022 gesetzlich so verankert ist, wird in der Praxis schnell zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Das und noch viel mehr hat sich beim Fachtag „Alle inklusive?!“ gezeigt, den die Akademie zusammen mit dem Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Ende April organisiert hat.

Mit Kreativität geht vieles

Für die Fernsehmoderatorin und Journalistin Sandra Olbrich wie für viele andere Menschen mit Gehbehinderung bedeutet es Freiheit, wenn sie mit einem Auto fahren kann, dass an ihren individuellen Bedarf angepasst ist. Trotzdem begegnet auch sie in ihrem Alltag vielen Hürden, wie sie im Talk verrät. Strengere Gesetze und eine konsequentere Ahndung bei Verstößen seien nötig: Falschparker auf dem Behindertenparkplatz sind in den USA beispielsweise schnell mal tausend Dollar los, in Deutschland nur 55 Euro. Olbrich fordert zudem verpflichtende Angaben zur Barrierensituation, damit behinderte Menschen einschätzen können, ob sie vor Ort selbständig zurechtkommen, bestimmte Hilfsmittel oder personelle Unterstützung brauchen. In diesem Sinne wünscht sich Gudrun Zühlke, die ehemalige Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), ein Routingsystem für Radfahrer:innen, das auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzer:innen eingeht und verlässlich barrierefreie Wege sowie deren Steigung, Länge oder Oberflächenbeschaffenheit anzeigt. Das Fahrrad ist für Zühlke das bevorzugte Verkehrsmittel im Alltag und im Urlaub. Damit auch ihre Tochter mit komplexen Behinderungen dabei sein kann, hat die Familie im Laufe der Jahre die unterschiedlichsten Reha-Buggys und Lastenräder ausprobiert. „Unsere Tochter genießt die Bewegung und den Fahrtwind.“ Mit etwas Kreativität für sie kein Problem – sofern sie bei der Tour mit dem Spezialrad beispielsweise nicht von zu eng stehenden Pfosten behindert wird.

Gerade auf dem Land bestehe großer Nachholbedarf, sagt Dr. Markus Rebstock von der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Rechtliche Bestimmungen würden häufig ungenügend umgesetzt. Es fehlten stufenlose Wege, Kontraste oder Orientierungshilfen für blinde und seheingeschränkte Menschen. „Barrierefreiheit muss integraler Bestandteil der Planung des Straßenraums sein", betont er. Doch selbst wenn barrierefreie Infrastruktur vorhanden ist, wird sie nicht immer instandgehalten. Eine Erhebung des Automobilclubs Europa (ACE) „Deutschland, Deine Rastplätze“ ergab im vergangenen Jahr, dass gerade mal 77 Prozent der Rastplätze in Baden-Württemberg für alle Menschen nutzbar sind. Manche barrierefreien Toiletten waren beispielsweise monatelang geschlossen. Tipp des Regionalbeauftragten Elias Schempf: „Aktiv werden, Verbündete suchen, gemeinsam mit den Verantwortlichen auf die Dringlichkeit des Problems hinweisen, Lösungen suchen.“

„Geh weg von meinem Gehweg!“

Zum Handeln fordert auch die Mitmachaktion „Geh weg von meinem Gehweg!“ des Landesseniorenrats Baden-Württemberg auf. Fast ein Fünftel der täglichen Wege werden ausschließlich zu Fuß oder mit dem Rollstuhl zurückgelegt. Dabei erschweren falsch abgestellte E-Scooter, Mülltonnen, lose Betonpflaster oder wild wuchernde Hecken das Unterwegssein. „Fehlende Sichtbeziehungen sind Hauptursache für Unfälle“, sagt Bernd Ebert vom Landesseniorenrat.

Inklusion gelingt nur, wenn alle mitmachen – und sie endet nicht hinterm Steuer, wie Mathias Haimerl deutlich macht. Der Doktorand an der TH Ingolstadt forscht im Bereich Inklusion im autonomen Verkehr. „Forschung muss lernen, barrierefrei und inklusiv zu werden. Dazu müssen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen einbezogen werden.“ Gelinge das, könnten in – zugegebenermaßen noch ferner – Zukunft sehbehinderte oder mobilitätseingeschränkte Menschen von autonom fahrenden Verkehrsmitteln profitieren.

Wie man schon heute inklusive Verkehrs- und Stadtplanung machen kann, zeigt sich im Stadtbusverkehr Reutlingen: Einprägsame Symbole bei den Anzeigen helfen Menschen, die sich mit dem Lesen schwertun, ihr Fahrziel zu erreichen. „Wenn ich beispielsweise mit dem Bus von Reutlingen nach Gönningen will, nehme ich den Tulpen-Bus“, erklärt der Behindertenbeauftragte Michael Embery. Mit einfachen Mitteln wurde auf diese Weise vielen Menschen mehr Mobilität ermöglicht. Die ersten Schritte für eine barrierefreie und nachhaltige Verkehrswende müssen also nicht unbedingt kompliziert sein – es müssen nur alle an einem Strang ziehen.
 

Download der Vorträge und Informationen

Die Powerpoint-Präsentationen der Vorträge, sowie alle Informationen der Veranstaltung finden Sie unter:

https://www.akademie-rs.de/programm/veranstaltungs-rueckschau/veranstaltung-24626
 

 

Tagungsleiterin Jutta Pagel-Steidl und eine Teilnehmerin

Teilnehmer:innen im Gespräch mit der Referentin Gudrun Zühlke.

Linda Huber, Fachbereich Gesellschafts- und Sozialpolitik I