Umkehr als Entschlackungskur
Mehr als 200 Künstlerinnen und Künstler haben in der Sankt Antoniuskirche und im Tagungszentrum der Akademie ihren traditionellen Aschermittwoch gefeiert - mit dem Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil als Ehrengast.
„Jeder Mensch träumt vom dauerhaften Glück, und doch wissen wir nur allzu gut, dass es zumeist nur kurze Glücksmomente gibt. Denn Glück ist flüchtig. Trotzdem glaubt man den Glücksversprechen von Werbung oder Religion nur zu gern, weil man sich von ihnen Hilfe bei der Bewältigung des eigenen Lebens erhofft“, sagte Bischof Fürst in der Einladung zum diesjährigen Aschermittwoch. Die Suche nach Glück sprach er thematisch in seiner Begrüßung an: „Wir suchen das Glück. Aber auf der Suche nach unserem Lebensglück gehen wir Menschen manchmal Abwege. Wie gut, dass wir die Chance haben, umzukehren. Immer wieder brauchen wir Zeit und Muße, das eigene Leben in den Blick zu nehmen. (…) Angesichts der Vergänglichkeit des Lebens stellt sich die Frage nach dem Glück mit neuer Brisanz.“
„Umkehren, um zu finden, was wir suchen: zu uns zu finden und Gott zu finden, das ist die Aufgabe, die uns der Aschermittwoch für die kommenden Wochen mitgibt“, sagte der Bischof in seiner Predigt. Er vergleicht die Umkehr mit einer Entschlackungskur. „Wir dürfen und sollen uns bewusst vom Ballast, der uns im Alltag niederdrückt, befreien.“
Niedergeschlagen vom Missbrauch-Skandal in der Kirche
Niedergeschlagen wirkte der Bischof gegen Ende der Eucharistiefeier, als er auf Wunsch von vielen Gläubigen über den Missbrauchs-Skandal sprach, der erst dieser Tage im Vatikan thematisiert wurde. Fürst las aus einem Schreiben vor, das er eine Woche zuvor an seine kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geschrieben hatte und zitierte den Papst aus dessen Eröffnungsansprache und Abschlussrede der vatikanischen Missbrauchs-Konferenz. Fürst verwies auf die reichhaltigen Informationen, die zu dieser Thematik im Tagungszentrum ausgelegt wurden und bat, sich lesend selbst ein Bild von den Inhalten zu machen. Die Medien berichteten nicht umfassend genug über das Thema, meinte der Bischof.
Beschwingt wurde es dann wieder beim Festakt im Tagungszentrum. Sonja Dörner, Flöte, und Ender Vielma, Gitarre, versetzten unter der Leitung von Detlef Dörner die Teilnehmer und Teuilnehmerinnen in eine fröhliche Stimmung, die dem Thema Glück Referenz erweisen sollte und auch konnte. Zuvor hatte das Duo tragende meditative Stücke, die der Liturgie angemessen waren, in der Kirche vorgetragen. Fröhliche brasilianische Klänge stimmten dann auf den Ehrengast der Veranstaltung ein: Hanns-Josef Ortheil. Er ist einer der bekanntesten deutschen Literaten, wie er von der Direktorin der Akademie, Dr. Verena Wodtke-Werner, in ihrer Begrüßung vorgestellt wurde. Sein Werk sei „in großen Teilen zutiefst geprägt vom Nicht-Klang, vom Schweigen, vom stillen Raum, in dem der Klang erst entsteht und in dem Kunst ins Werk und dann ins Wirken kommt“, sagte die Direktorin. Zum Abschluss ihrer Bemerkungen ging sie noch einmal auf das Thema der Stille ein, das bei Ortheil biografisch bedingt sei. Sein Bruder wurde bei einem Bombenangriff im 2. Weltkrieg auf dem Schoß der Mutter getötet, merkte sie erklärend an: „Nein, wir schweigen heute nicht, wir wollen aber jetzt durch eigenes Stillwerden Herrn Ortheil den Raum geben, dass er uns aus der Stille in das Zuhören, in die Andacht und dann wieder vielleicht in die ihm so lieb gewordene Stille führt“, sagte die Direktorin.
Die Bedeutung von Stille und Glück bei Ortheil
So etwas wie Andacht entstand anschließend tatsächlich, als Ortheil aus seinen Büchern „Glücksmomente“ und „Vom Vergnügen, Mozart zu hören“ las. Er habe sich gefragt, wo er Glücksmomente finden und verorten würde. „Auf keinen Fall konnten es flüchtige Emphasen sein, in denen die Figuren sekundenlang so etwas wie ein kurzes Glücksgefühl empfinden. Vielmehr suchte ich nach starken Momenten, in denen das Glück ein bestimmtes Zeitempfinden auslöste: das einer Gegenwart, in der Erinnerung an die Vergangenheit und Hoffnung auf die Zukunft mitspielen. Die Gegenwart erschien in solchen Momenten so ‚besonders‘ und ‚leuchtend‘, weil sie etwas Vergangenes einlöste und gleichzeitig auf etwas Zukünftiges verwies“, las Ortheil aus der Einleitung seines Buches „Glücksmomente“ vor.
In seiner empathischen Lesung kamen viele biografische Begebenheiten vor. Ortheil wurde in Köln geboren. Einige Episoden aus seiner Kindheit ereigneten sich beim sonntäglichen Gang in den Kölner Dom. Der dortige gemeinsame Gottesdienstbesuch löste in dem einstigen kleinen Jungen intensive Glücksmomente aus. Auch Erinnerungen an einen Jahrzehnte späteren Kleider-Einkauf mit seiner kleinen Tochter wurden von ihm festgehalten und führten zu diesen „besonderen“ Momenten, von denen er eingangs sprach. Ortheil wusste es gekonnt, die Zuhörer auf eine Reise in seine Vergangenheit mitzunehmen. Mit seinen Worten malte der seit 35 Jahren in Stuttgart lebende Literat Bilder, durch die die Zuhörerenden spaziergehen konnten. Von Köln gelangte seine literarische Reise in ein Kinder-Damen-Modefachgeschäft mit britisch anmutendem Flair und einer Verkäuferin, die ihn an die französische Filmschauspielerin Emmanuelle Béart in dem Film „Nelly & Monsieur Arnaud“ erinnert, dann ging die Vorlese-Reise zu Mozart nach Wien und zu den Bildern, die ein Klavierkonzert von Mozart in ihm auslösten.
Historisches Glück der Wiedervereinigung
Zum Schluss stoppte die Zeitreise in Berlin, am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Wiedervereinigung. Dieses Jahrhundert-Ereignis mutierte für Ortheil rückwirkend auch zum Glückstag. Es ereigneten sich einige menschliche Begebenheiten, die Ortheil sehr humorvoll beschrieb. Bilder tauchten bei den Zeitzeugen im Saal auf und versetzten diese in eine erst scheinbar kürzlich gewesene historische Situation. Die gekonnt eingesetzte Stimme des Autors modulierte die Bilder mit, mehr noch, sie schmückte die Visualisierungen noch detailreicher aus. Es ist eine wahre Freude gewesen, diesem Literaten zuzuhören. Kaum ein Schriftsteller schafft es, seine eigenen Schriften sprachlich derart bravourös in Szene zu setzen.
(Dr. Ilonka Czerny)