Strukturen des Missbrauchs überwinden
Die Katholischen Akademien forcieren eine bundesweite Debatte zum „Synodalem Weg“. Ein Meinungsbeitrag aus gegebenem Anlass von Akademiedirektorin Dr. Verena Wodtke-Werner.
Wann zuletzt hat die katholische Kirche in einer so schweren Krise gesteckt wie jetzt? Im Jahr 2010, als die ersten Fälle von sexuellem Missbrauch im Canisius Colleg in Berlin offen gelegt wurden, glaubte man damit einen GAU, den größten anzunehmenden Unfall, aufgedeckt zu haben. Mit unterschiedlichen Maßnahmen zur Wiedergutmachung an den Opfern und im Bereich der Prävention wurde darauf reagiert. Diese Aktivitäten, die in den deutschen Diözesen aber sehr unterschiedlich intensiv sind, will niemand in Abrede stellen. Durch die sogenannte MHG-Studie, die von der Deutschen Bischofskonferenz selbst beauftragt worden ist, wurde das Ausmaß mit mehr als 3000 Fällen, die direkt aus den Personalakten gewonnen wurden, wirklich greifbar. Dabei ist die Dunkelziffer vermutlich wesentlich höher. Amtsträger haben tausende Kinder und Jugendliche sowie eine noch unbekannte Zahl katholischer Ordensfrauen sexuell missbraucht. Was aber noch viel stärker in den Blick geriet, ist die Tatsache, dass die katholische Kirche selbst die Verantwortung dafür trägt. Sie muss an ihren Strukturen etwas ändern, denn diese begünstigen Machtübergriffe in verschiedenen Bereichen.
Nicht die 68er sind schuld an der Kirchenkrise
Der emeritierte Papst Benedikt – oder war es eher sein Ghostwriter, denn dass hochbetagte Päpste benutzt werden, gab es schon öfters in der Geschichte – überraschte, wenn man internen Informationen glauben will, kurz vor Ostern mit einer anderen Diagnose. Nicht die kirchlichen Strukturen und klerikalen Machverhältnisse, sondern die libertinäre sexuelle Freizügigkeit der 68er Generation des 20. Jahrhunderts sei die Ursache. So seien etwa durch diesen Ungeist in den engsten Kreisen der Priesterseminare homosexuelle Klubs als eine Art Parallelwelt entstanden. Die Wurzel allen Übels sei aber, dass die Kirche in der westlichen Welt nicht mehr fest im christlichen Glauben stehe und entsprechend auch lebe. Dieser Mangel einer christlichen Lebensweise führe dazu, ohne Rücksicht auf Verluste egoistische Wünsche auszuleben. Benedikt XVI. hält es auch deshalb für eine Illusion zu glauben, dass wir Menschen die Kirche reformieren könnten. Man könnte jetzt viel zu den Einzelheiten des Textes sagen, aber kurz bemerkt verkennt Benedikts Einschätzung rein faktisch, dass der Zenit der Missbrauchsfälle nicht in den 68er Jahren, sondern weit davor Anfang und Ende der 50er bis zu Beginn der 60er Jahre liegt. Zudem hat sich der Missbrauch weltweit manifestiert, auch dort, wo das Verwurzeltsein im Glauben und in der Kirche ungebrochen ist oder die Kirche, wie auf dem afrikanischen Kontinent, sogar wächst.
Die Direktorinnen und Direktoren der katholischen Akademien Deutschlands haben sich auf ihrer Frühjahrssitzung intensiv zum Thema Missbrauch ausgetauscht und sehen seine Ursachen besonders in den Strukturen der Kirche. Sie diagnostizieren eine Spiritualisierung von Machtmissbrauch und glauben, dass die Gläubigen selbst ihre Kirche durch Reformen wieder auf den Weg der jesuanischen Nachfolge bringen können und bringen müssen. Theologisch gesprochen ist es der Geist Gottes, der Beistand, wie es biblisch heißt, der uns in die Lage versetzt, diese Missstände zu erkennen und zu beheben.
Das Selbstverständnis der Amtsträger darf kein Tabu mehr sein
Vor diesem Hintergrund entstand die Initiative „Strukturen des Missbrauchs überwinden“, zu der sich die Katholischen Akademien im deutschsprachigen Raum jetzt zusammengeschlossen haben, um den Diskurs über Ursache und Reform der Strukturen des Missbrauchs in Deutschland zu fördern. Mit ihrer konzertierten Aktion laden die Akademien dazu ein, über die tieferliegenden Ursachen dieser Krise offen zu diskutieren und Handlungsoptionen in die Planungen des Synodalen Weges der Deutschen Bischofskonferenz mit einzubringen. Dabei dürfen das Selbstverständnis der Amtsträger und die Strukturen des kirchlichen Systems kein Tabu sein.
Die Katholischen Akademien haben seit ihrer Gründung nach dem II. Weltkrieg den Auftrag, wichtigen Diskussionen in der Kirche und der Gesellschaft einen freien Raum zu geben. Noch nie hatten die Leiter und Leiterinnen den Eindruck, dass diese Diskussionen so notwendig und drängend sind wie auch Strukturreformen, die aus ihnen folgen müssen. Diese Krise erscheint uns als eine Wendezeit, aus der die Verantwortungsträger und die ganze Kirche nur durch Veränderungsbereitschaft neue Wege finden können. Anders als der Papst emeritus halten wir es für unzulänglich, den Blick zurück zu wenden.
Die Strukturen der Kirche müssen hinterfragt werden
Die Katholischen Akademien respektieren die jüngsten Bemühungen der deutschen Bischöfe, aus dem Missbrauchsskandal die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Mit der bundesweiten Initiative zu Diskussionsforen verstärken die Akademien jedoch das Bestreben der Bischöfe, es nicht nur bei Konzepten zu belassen. Die Zeit für Konzepte scheint passé. Es müssen jetzt Handlungen folgen und zwar spürbar und sichtbar und in kurzer Zeit.
Die Akademien sind überzeugt davon: Es ist unverzichtbar, die geschehenen Verbrechen aufzuklären, Schuldige zu benennen, den Missbrauchsopfern die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen, und für eine weitreichende Prävention zu sorgen. Ebenso ist es aber an der Zeit, die Strukturen der Kirche kritisch und ergebnisorientiert zu hinterfragen. Darüber muss verantwortlich gesprochen und gestritten werden. PsychologInnen, JuristInnen, Fachleute und Kirchenpersonal, Betroffene und Zeitzeugen, Frauen wie Männer, berufen oder distanziert, müssen in die Gestaltung des weiteren Weges einbezogen werden. Wir müssen um den Glauben ringen, weil er in Gefahr steht, durch Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust ad absurdum geführt zu werden. Die Katholischen Akademien in Deutschland sind dafür der passende und qualifizierte Ort.
Die Akademie veranstaltet am Montag, 1. Juli 2019, im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim eine Tagung unter dem Titel: Wenn der Wind der Veränderung weht... Sexueller Missbrauch als Herausforderung für die katholische Kirche.