„Streit gehört wesentlich zur Bildung“

Qualifikationen und Kenntnisse sind wichtig für die Bildung. Aber auch durch Scheitern kann man Wesentliches lernen. Das hat eine Tagung samt öffentlicher Diskussion in Weingarten gelehrt.

Im Rahmen der Tagung „Wie bildet Geschichte?“, die von der Akademie und dem Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart vom 16.-18.11.2017 im Tagungshaus Weingarten veranstaltet wurde, fand eine öffentliche Diskussionsrunde zum Thema „Bildung heute“ statt. Vorausgegangen waren fachwissenschaftliche Vorträge zu Vorstellungen von Bildung von der Antike bis heute.

"Auch Demut gegenüber weniger Gebildeten gehört zur Bildung"

Die Diskussionsrunde ging zunächst der Frage nach, was Universität und Schule heute leisten müssen, um gute Bildung zu gewährleisten und Schülerinnen und SchülerInnen und Studierende auf das heutige Berufsleben vorzubereiten. Laut Prof. Dr. Ines Weber (Kath. Privat-Universität Linz) müsse Bildung den Menschen befähigen, in die Arbeitswelt und das gesellschaftliche Leben einzutreten.  Somit fungiere Bildung als Schlüssel gesellschaftlicher Teilhabe.  Bildungseinrichtungen sind heutzutage aufgefordert, nicht nur Fachwissen, sondern auch Kompetenzen zu vermitteln.  Heute seien vor allem persönlichkeitsbildende Kompetenzen wichtig, mit denen junge Menschen ihre Fachkenntnisse in die Praxis umsetzen könnten, betonte die Linzer Managerin des Jahres 2016 Traude Wagner-Rathgeb. Dazu gehöre etwa auch eine gewisse Demut; so werde in ihrer Firma viel Wert darauf gelegt, dass AkademikerInnen nicht mehr wert sind, als FacharbeiterInnen.

Die Theologin Susann Reiser berichtete von Studienzeiten und ihren Berufsanfängen bei der Caritas in Stuttgart. Die strenge Regelstudienzeit ließe heute wenig Platz für persönliche Freiheit und Orientierung und es gebe keinen vorgezeichneten Weg auf dem Arbeitsmarkt für TheologInnen und andere GeisteswissenschaftlerInnen. Stimmen aus dem Publikum forderten deshalb engere Kontakte zwischen Universität und Wirtschaft, um AbsolventInnen gezielter vermitteln zu können und Möglichkeiten am Arbeitsmarkt aufzuzeigen.

Die Kirche blickt auf den Einzelnen, nicht nur auf Wissensideale

Die Probleme heutiger Studierender sind laut Dr. Christian Grabau (Universität Tübingen) vor allem das Fehlen der für die Persönlichkeitsentwicklung nötigen Zeit und die Angst vor dem Scheitern. Bereits junge Schülerinnen und Schüler fühlten sich ausgelaugt und seien mit den zunehmenden Anforderungen überfordert. Dies hänge unter anderem damit zusammen, dass sich das Bildungssystem kommerzialisiert und ökonomisiert habe, wie Dr. Franz Keplinger (Private Pädagogische Hochschule Linz) erläuterte. Dabei sei, wer nach zwei Semestern das Fach wechsle, „nicht gescheitert, sondern klug“ – so ergänzend Prof. Dr. Martin Kintzinger (Universität Münster). Hier könne der katholische Bildungsbegriff, in dem das Scheitern explizit mit inbegriffen ist, weiterhelfen, hob Domkapitular Dr. Uwe Scharfenecker, der Leiter der Hauptabteilung für die Ausbildung pastoraler Berufe der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hervor. „Jeder Mensch hat Brüche. Die Kirche blickt auf den einzelnen Menschen, nicht nur auf Wissensideale“, sagte Scharfenecker.

Was Wissensvermittlung und Bildungsformate anbelangt, so waren sich alle Diskussionsteilnehmenden einig: Es müsse vermittelt werden, dass es nicht eine einzige Wahrheit gibt, sondern dass gerade die Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven bildet. „Streit ist ein wesentliches Element von Bildung“, so Christian Grabau. Das bedeute auch, dass die persönliche Begegnung und das gemeinsame Lernen trotz aller technischer Fortschritte weiterhin äußerst wichtig bleibe.

Letztlich kam man auf das Tagungsthema „Wie bildet Geschichte?“ zurück. Die Auseinandersetzung mit historischen Gegenständen befähige zum Erwerb vielfältiger Kompetenzen und zum Erarbeiten von Modellen für das eigene Handeln.  Am Ende der Diskussion stand ein Statement von Martin Kintzinger, das sich auf die Lage Deutschlands als demokratischen Staat bezog und aus dem man einen bildungspolitischen Auftrag ableiten kann: „Die Chancen, die wir heute haben, sind nur historisch zu verstehen.“ Dieses Verständnis gelte es zukünftigen Generationen zu vermitteln. ( Ramona Platz)

v.l. Dr. Uwe Scharfenecker, Mag. Dr. Franz Keplinger, Traude Wagner-Rathgeb, Prof. Dr. Ines Weber, Dr. Christian Grabau, Susann Reiser