Rebell und Menschenfreund

Der große katholische Theologe Hans Küng ist tot. Damit endet auch ein jahrzehntelanger Spitzen-Zweikampf um Jesu rechte Lehre und das Wesen der Kirche. Von Paul Kreiner

Hans Küng ist tot, gestorben mit 93 Jahren am 6. April 2021. Nun steht es 1:1 in einem seit sechs Jahrzehnten laufenden Derby, das man als paradigmatisch für das Bild und den Kurs der Katholischen Kirche betrachten kann: Hans Küng auf der einen, Joseph Ratzinger auf der anderen Seite. Immer hat sich Küng im Widerstreit gesehen mit diesem anderen. Ratzinger umgekehrt wohl auch, obwohl er das im Gegensatz zu Küng nie öffentlich thematisiert hat. Und womöglich sind beide so alt geworden – Küng zuletzt 93, Ratzinger derzeit knapp 94 –, weil keiner vor dem anderen hat sterben wollen.

Ein Zweikampf auf höchstem Niveau

Küng jedenfalls hat den Rücktritt Benedikts XVI. vom Papstamt im Februar 2013 als das 1:0 für sich verbucht; es wäre ja nicht angegangen, sagte und schrieb er mehrfach und höchstens halb im Scherz, wenn Küng weg und Ratzinger noch dagewesen wäre. Ratzinger wiederum wird Küngs Tod als Punkt für sich notieren. So fern, wie man meinen könnte, liegt ihm ein solches Wettkampfdenken  nicht. Ratzinger ist ja nicht nur der arglose, demütig-fromme Theologiegelehrte; dass er auch eitel sein und giften kann, hat er noch auf seine alten Tage bewiesen.

Hans Küng und Joseph Ratzinger – das sind zwei parallele Lebensläufe. Nahezu gleich alt, sind die beiden zum selben Zeitpunkt und bei derselben Gelegenheit, als Star-Theologen, als „junge Wilde“ der Kirchenreform gestartet – beim Zweiten Vatikanischen Konzil vor sechzig Jahren. Doch schon damals wurde ihr unterschiedliches Naturell deutlich: Während sich Ratzinger drinnen in die Texte und noch in die kleinsten Kommata lateinischer Dokumente vergrub, stand Küng – so beschreibt es der Ratzinger-Biograph Peter Seewald – draußen auf dem Petersplatz und erklärte in modernen Sprachen den Fernsehteams aus aller Welt, was der „Geist“ des Konzils sei und wie die katholische Kirche sich ändern müsse.

Beide wurden danach, ziemlich jung und ziemlich gleichzeitig, Universitätsprofessoren; Ratzinger wollte Küng nach Münster holen; mehr Glück hatte Küng, als er Ratzinger zu sich nach Tübingen einlud. Sie schätzten einander; ihre tiefgreifenden Unterschiede im Temperament und in den Ansichten über die Kirche aber führten bald zum Bruch. Die 68-er Studentenunruhen taten ein Übriges: Ratzinger floh aus Tübingen ins beschauliche Regensburg. Küng blieb. Und während er „das“ programmatische Buch seines Lebens schrieb, die Frontalattacke „Unfehlbar?“ aufs Papsttum, für die er Ende 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen bekam, stieg Ratzinger – genau andersherum – fast gleichzeitig (1981) zum höchsten Hüter des Dogmas auf, zum Chef der römischen Glaubenskongregation. „Großinquisitor“, „Panzerkardinal“ schmähte ihn Küng von da an; er sprach von „Rückständigkeit und vatikanischem Größenwahn“, und als Ratzinger im April 2005 Papst wurde, nannte Küng das eine „Riesenenttäuschung“ – um gleich danach nach Rom zu schreiben und um ein Treffen mit Benedikt XVI. zu bitten. Dieser sagte ja; Folgen hatte die spätsommerliche Begegnung in Castel Gandolfo aber keine – weil all die strittigen Themen ausgeklammert worden waren.

Frohbotschaft statt Drohbotschaft

Niemals wurde Hans Küng von der katholischen Kirche rehabilitiert. Er wollte und brauchte das auch gar nicht mehr, denn mit seinen fast durchweg Beststeller-Schriften (an der Spitze: Christ sein, Existiert Gott?, Ewiges Leben? Credo) hatte er als freier Mann ein mindestens so starkes Publikum wie Ratzinger. Und während der eine sich – schon von Amts wegen – aufs Beharren versteifte, konnte der andere einen leichteren, offeneren und trotzdem ernsthaft katholischen Glauben verkünden, einen „menschenfreundlicheren“, wie Küng selbst das nannte: „mehr Jesus, weniger Papst“, gegen einen „unbarmherzigen, geisttötenden Dogmatismus, der auf den Buchstaben schwört.“

Immer kreiste Küng um sein Zentralthema: Unfehlbar. Diesem erst 150 Jahre alten Dogma schrieb Küng fast alle Kirchenkrankheiten zu: die monarchischen und – nun ja – fast diktatorischen, zentralistischen Strukturen vom Vatikan oben bis ganz nach unten in den gesamten Klerus, die Abschottung, die Diskussionsfeindlichkeit, die Unreformierbarkeit.

Und Küngs klassische Reformforderungen, die Vorschläge also eines von der Kirche mit Lehrverbot Gebannten, sie sind heute Gemeingut der innerkirchlichen Reformbewegungen geworden, des „Synodalen Wegs“ vor allem, auf den sich die Bischöfe und die katholischen Verbände in Deutschland begeben haben: Freiheit, Gleichheit und „neutestamentliche“ Geschwisterlichkeit in der Kirche, volle Gleichberechtigung nicht zuletzt für Frauen, Abbau klerikaler Machtstrukturen und in diesem Sinne auch eine Reform des Papsttums, Wahlfreiheit für Priester zwischen Zölibat und Ehe, positive Bewertung der Sexualität, Weltbejahung und – als Gesamtslogan: „Frohbotschaft statt Drohbotschaft.“

Das Weltethos-Projekt - Küngs 2. Lebenswerk

Das Rebellische, das Anti-Autoritäre könnte Hans Küng aus dem Land geerbt haben, aus dem er kommt: aus der Schweiz. Geboren ist er am 19. März 1928 in einem Schuhgeschäft in Sursee, Kanton Luzern. Ein Häuschen mit Blick auf „seinen“ Sempachersee und aufs Alpenpanorama hat er sich dort auch behalten – als Rückzugsort zum Erholen und (bei klassischer Musik) zum Bücherschreiben: „Was brauche ich mehr?“ Priester wollte er schon sehr früh werden, deshalb ging er bereits mit zwanzig Jahren nach Rom, an die Jesuiten-Hochschule „Gregoriana“, setzte das Studium später an der Sorbonne in Paris fort – und promovierte dort, die Bereitschaft und die Öffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Ökumene praktisch vorwegnehmend, 1957 über die Rechtfertigungslehre des evangelisch-reformierten Großtheologen Karl Barth. Schon damit wurde Küng im Vatikan auffällig: Unter der Aktennummer 399/57i legten die obersten Glaubenswächter ein Dossier über den unruhigen jungen Mann an.

Der Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Carl Joseph Leiprecht, nahm den Unbequemen 1962, dennoch als seinen Theologie-Experten mit zum Konzil nach Rom, und ein Jahr später erhielt Küng den Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenischen Theologie an der Universität Tübingen. Das Grenzüberschreitende behielt er auch, als die Deutsche Bischofskonferenz dem bereits mehrfach Gerügten im Dezember 1979 auf Geheiß Roms das Lehrverbot erteilte (von dem Küng auf der Skipiste erfuhr), und er sich dem Ende seiner akademischen Karriere sehr kreativ erwehrte: Das Land Baden-Württemberg schuf extra für ihn einen von der Theologie-Fakultät und damit von amtskirchlicher Mitsprache unabhängigen Lehrstuhl – und Küng entwickelte sein zweites großes Lebenswerk: das „Projekt Weltethos.“

„Kein Friede zwischen den Völkern ohne Friede zwischen den Religionen; kein Friede zwischen den Religionen ohne Dialog; kein Dialog ohne Grundlagenarbeit“, so lautete das Motto, und Küng stürzte sich ebenso in die Erforschung aller möglichen Religionen wie in eine wortwörtlich weltumspannende Reise- und Propagandatätigkeit. 1993 verabschiedete das erst durch Küng aus hundertjährigem Schlaf geweckte „Parlament der Weltreligionen“ in Chicago eine Erklärung zu einer globalen Ethik, 2001 konnte Küng auf Einladung von Generalsekretär Kofi Annan vor der UN-Vollversammlung sprechen. Und zuletzt sah er zu seiner großen Freude einen Papst an der Kirchenspitze, der gerade im Dialog mit dem Islam, mit seiner weltumfassenden Idee der „Brüderlichkeit“, ein Konzept vorantreibt, das dem Küng’schen „Weltethos“ nicht allzu fern liegt: Franziskus.

Versöhnungsgeste von Papst Franziskus

2013 konnte der damals 85-jährige Küng dann in einem großen, auch als Buch veröffentlichten  Fernsehinterview mit Anne Will sagen: „Ich habe alle Bücher geschrieben, die ich schreiben wollte, ich habe alle Reisen gemacht, die ich machen wollte, ich bin in diesem Sinne ein glücklicher Mensch; mein Leben hat sich gerundet.“ Das war aber auch schon der lange Abend seines Lebens: Das jahrelange Leiden und das in der Demenz Dahinsterben seines engen Freundes Walter Jens hatte ihn erschüttert; Küng selber begann unter Parkinson zu leiden – er machte sich Gedanken über ein „menschenwürdiges Sterben“. Dass er – anders als Jens – den Zeitpunkt nicht verpassen wolle, an dem er in noch geistiger Freiheit selber über sein Ende bestimmen könne, sagte Küng; dass er Mitglied sei bei der Schweizer Sterbehilfe-Organisation „Exit“, und dass es Aufgabe der Kirche sei, „einem Menschen, der sterben will, hilft, gut zu sterben.“

Das aber wollte seine Kirche gerade nicht, auch unter dem „Barmherzigkeits-Papst“ Franziskus nicht. Dem, der nach eigenem Bekunden „ohne jede Angst, in ein Nichts zu fallen“, der voller Gottvertrauen, aber selbstbestimmt, gehen wollte, widersprach die Gllaubenskongregation massiv. Im September vergangenen Jahres erließ sie ein strenges Verbot für alle Gläubigen, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, und untersagte – noch schlimmer – allen Geistlichen, solche Katholiken auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Wenigstens in diesem Sinne musste Küng sich mit „seiner“ Kirche nicht mehr anlegen. Er sei, so heißt es, am Dienstag nach Ostern in seinem Tübinger Haus friedlich eingeschlafen.

Wobei: Küng, der mit seinem Gott im Reinen war, hatte just in derselben Zeit, in der die Glaubenskongregation sprach, auch seinen Frieden mit Rom gefunden. Eine förmliche Rehabilitation war auch das zwar nicht – aber in der Sache mehr als das. Auf Nachfrage durch Kardinal Walter Kasper, ob es für den schwerkranken Küng nicht „ein Zeichen der Versöhnung“ geben könnte, sagte Papst Franziskus zur ausdrücklichen Weiterleitung nach Tübingen: „Ich grüße und umarme ihn [Küng]; ich schicke ihm in der christlichen Gemeinschaft den Segen und bete für ihn.“

Für „Gemeinschaft“ verwendete  Franziskus gleich zweimal das Wort „comunione“ – und das bedeutet nicht einfach „Nähe“ oder „Verbundenheit“, sondern ist in der katholischen Theologie hinaus auch noch viel mehr: der terminus technicus für die Einheit und den Zusammenhalt, für das Wesen der Kirche. Küng bekam vom Papst damit ausdrücklich bestätigt, dass er Teil dieser Kirche war. Es war die höchste Auszeichnung – für einen Rebellen und einen großen, einen Welt-Theologen, der vielen eine hoffnungsfrohe Heimat im Glauben gegeben hat, die an der realen Kirche verzweifeln.

Paul Kreiner

 

Die "Süddeutsche Zeitung" kommentierte den politischen Hans Küng.

 

Hans Küng in Amsterdam, 1973