Radikalität des Evangeliums

Botschafterin Annette Schavan würdigt beim Herbstfest der Akademie Papst Franziskus

Stuttgart. Annette Schavan hat beim Herbstfest der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungszentrum Hohenheim am Freitagabend (25. September) die Grundlinien des gegenwärtigen Pontifikats nachgezeichnet und Papst Franziskus als eine weltweit geachtete moralische und politische Autorität gewürdigt. Die Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl stellte ihren Festvortrag unter das Thema „Radikalität und Evangelium“. Der Papst, so Schavan, verkörpere „auf bemerkenswerte Weise eine innere Kohärenz und damit verbundene Glaubwürdigkeit“; dies habe man in dem Satz zusammengefasst: „Franziskus ist das, was er sagt.“

 

Die Sorge des Papstes konzentriere sich Schavan zufolge nicht zuerst auf die Institution Kirche. Vielmehr sei  sein Einsatz und seine Leidenschaft auf die Menschen gerichtet, „besonders auf jene, die Not leiden, deren Leben gefährdet ist und deren Würde verletzt wird“. Diese Sorge um die Menschen an der Peripherie erwarte Franziskus von der Kirche. „Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um das Evangelium zu verkünden, kreist sie um sich selbst. Dann wird sie krank“, zitierte Schavan aus der Rede des Papstes im Vorkonklave. Die Übel in den kirchlichen Institutionen hätten „ihre Wurzel in dieser Selbstbezogenheit. Es ist ein Geist des theologischen Narzissmus.“

Zwei Kirchenbilder

Die Botschafterin unterschied mit den Worten des Papstes zwei Kirchenbildern: die verkündende Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, die das ‚Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und treu verkündet‘, und die weltliche Kirche, „die in sich, von sich und für sich lebt“. Gefragt seien heute „apostolischer Eifer“ und „kühne Redefreiheit“ und nicht die Perfektionierung der eigenen Organisation, die „die 99 Schafe nicht mehr sucht, die gegangen sind“. 

Der Wirklichkeit und den Zeichen der Zeit räume der Papst einen Vorrang ein vor der Theorie und Idee. Die kirchliche Lehre und Politik dürfe nicht dazu führen, „sich gleichsam die Wirklichkeit auf Distanz zu halten, um die Ideen nicht zu beschädigen“. Das Bemühen um ein Verständnis der Wirklichkeit bedeute nicht automatisch, die Wirklichkeit gut zu heißen. Allerdings sei damit sehr wohl gemeint, die eigenen Ideen und die Lehre der Kirche „als einen nicht schon abgeschlossenen Prozess zu begreifen“.

Für den Papst, der ganz in der jesuitischen Tradition der Unterscheidung der Geister stehe, sei die Frage entscheidend: „Was will Gott von mir in dieser konkreten Situation?“ Franziskus wollte die Erneuerung der Kirche durch die Erinnerung an den Ursprung des Christentums und an das Zweite Vatikanische Konzil. Er fordere ein „Revolte des Geistes“ (Andrea Riccardi), „weshalb manche von einem radikalen Papst sprechen“. Seine Radikalität, so die Botschafterin, „wirkt klärend“. 

So ziele die fundamentale Botschaft der Enzyklika „Laudato sì“ in der Tradition der katholischen Soziallehre auf Gerechtigkeit. Das Schreiben lege dar, dass Armutsbekämpfung und Klimaschutz keine Alternativen sind, vielmehr in einem engen Zusammenhang stehen, und rufe in Erinnerung, dass das Gemeinwohl, das auch die Humanökologie einschließe, Vorrang habe vor Individualinteressen. Die vom Papst scharf kritisierte Ordnung des Wirtschaftens beziehe sich „auf eine Ordnung des Kapitalismus, die die Gemeinwohlorientierung leugnet. Soziale Marktwirtschaft wie wir sie kennen, meint etwas anderes.“

Grundhaltung Barmherzigkeit

Die Barmherzigkeit bezeichnete Schavan in diesem Zusammenhang als „die wohl stärkste Grundhaltung, sich auf den Menschen verpflichten zu lassen“. Sie meine „jene Hinwendung, die nicht ständig bewertet, vielmehr zu verstehen sucht, welche konkreten Nöte Menschen bewegen und belasten“. Sie sehe nicht jedem Scheitern die Abkehr von traditionellen Ordnungen und überwinde die Scheu, sich den Nöten der Menschen zu stellen. Die vom Papst geforderte „Revolte des Geistes“ meine „eine uneingeschränkte Hinwendung zum Menschen, wozu die Überwindung von Gleichgültigkeit im Blick auf die Nöte der Armen gehört“.

Der Papst, so Schavan, lasse Begegnung mit anderen zu und damit auch Veränderung. Er lädt in franziskanischem Geist dazu ein, „das Christentum als Revolution zu leben und Protagonist des Wandels zu sein“. Franziskus wolle mehr Unruhe angesichts so vieler Widersprüche zwischen dem, was den christlichen Glauben ausmacht, und der gesellschaftlichen Wirklichkeiten, die dem widersprechen. Es gehe ihm um eine wirkliche Umkehr der Herzen gemäß der Radikalität des Evangeliums, statt um „gesetzlichen Rigorismus“. Der zentrale Orientierungspunkt für die Kirche und ihre Lehre sei die Freiheit, erklärte die Botschafterin, die dazu Johann Baptist Metz zitierte: „Rigorosität stammt eher aus Angst, Radikalität aus Freiheit, aus der Freiheit des Rufes Christi.“ (ars/kwh)

Herbstfest der Akademie (v. r.) Botschafterin Annette Schavan, Silke Gmeiner vom Kuratorium, Direktorin Verena Wodtke-Werner