„Palmers Satz ist menschenverachtend“

Der Vorsitzende des Landesseniorenrats, Professor Uwe Bähr, über die aktuelle Situation in den Pflegeheimen, den Lernprozess der Politik und die Kosten der Pandemie.

Herr Professor Bähr, im Kampf gegen das Corona-Virus gilt die soziale Distanz als Schlüssel zum Erfolg. In Pflegeheimen hat dies aber teilweise zu sozialer Vereinsamung geführt, die Bewohnerinnen und Bewohner in Lethargie bis hin zu Depression und Suizidgedanken getrieben hat. Ist der Mensch hinter allen wohlmeinenden Krisenentscheidungen nicht gesehen worden?

Ich denke, man hat ihn schon gesehen. Aber die Definition der Verordnung ist unscharf. Eigentlich ist der physikalische Abstand gemeint. Man hat trotzdem die soziale Nähe gemeint. Die Probleme entstehen einfach in der Form, dass das Virus sich ausbreiten kann, solange es unentdeckt ist. Diese Gefahr kann man nicht bannen, sondern man muss über körperliche Abstandsregeln die Ausbreitung verhindern.

Der Landesseniorenrat ist Mitglied einer Taskforce-Gruppe der Landesregierung. Und die Landesregierung hat nun Lockerungen beim Besuchsverbot für Angehörige beschlossen. Ist es typisch deutsch, dass alles bis ins kleinste Detail vorgeschrieben wird, statt den Einrichtungen die Freiheit zu geben, den notwendigen Schutz anhand der Gegebenheiten selber zu organisieren?

Das ist schwierig. Die Beratungsgruppe gibt Empfehlungen, entscheiden muss die Politik. Und die Empfehlungen sind natürlich auch unterschiedlich, je nach dem, aus welcher Richtung die jeweilige Empfehlung kommt. Uns fehlt ein richtiger Parameter, anhand dessen man entscheiden kann. Die Heime etwa sehen das aus praktischer Sicht: Was ist machbar, ohne dass es die Gesundheit der Heimbewohner beeinträchtigt. Das ist eine Gratwanderung. Die neue Verordnung, die seit dieser Woche gilt, regelt, dass Bewohner unter bestimmten Voraussetzungen das Heim verlassen können, während bisher nur der Besuch in den Heimen unter besonderen Voraussetzungen möglich war. Der Besuch von Sterbenden war bisher schon möglich. Eine Annäherung gab es also schon, aber nur im Ausnahmefall.

Es gibt Berichte, dass Heimbewohner wochenlang alleine im Zimmer essen müssen, nicht geduscht werden, weder Fußpflege noch Therapien erhalten und das Haus nicht verlassen dürfen. Wundert es Sie, wenn gebrechliche Menschen da der Lebensmut verlässt?

Die bisherige Heim-Verordnung gilt jetzt nicht mehr. Jetzt gibt es neue Regeln. Für Besucher und Angehörige gilt noch die bisherige Verordnung, die Ausnahmen vorsieht. Aber man muss noch Regeln treffen wie der allgemeine Zutritt gesteuert werden kann. Die Situation müsste sich also verbessern. Duschen war übrigens auch bisher nicht verboten, aber die Regeln wurden unterschiedlich ausgelegt. Das Ministerium hat darauf allerdings keinen Einfluss.

In den ersten Wochen der Corona-Krise wurde nur auf die Krankenhäuser geschaut, jetzt wird klar: die Alten und die Kinderleiden besonders. Hat man die soziale und psychologische Dimension für die Schwächsten in der Gesellschaft unterschätzt?

Es fehlen uns Erfahrungswerte, wie man mit solchen Krisen umgeht. Deshalb ist manches nicht so von statten gegangen, wie man sich das vorstellt. Aber der Schutz der Schwächsten, von Kindern und Alten, ist besonders wichtig. Da muss man besonders vorsichtig sein. Und man hat jetzt gesehen, dass man ohne Lockerung nicht weiter kommt.

In den letzten Tagen ist durch Äußerungen von Wolfgang Schäuble und den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer eine Debatte über die wirtschaftlichen Kosten für das Herunterfahren der Wirtschaft entstanden. Schäuble sagte, dass ein Satz wie: alles muss vor dem Schutz des Lebens zurücktreten, in dieser Absolutheit nicht richtig. Und Palmer behauptete, es würden vor allem Menschen gerettet, die im nächsten halben Jahr eh sterben würden, während die weltweite wirtschaftliche Rezession mehr Kinder das Leben kostet. Sind das legitime Argumente?

Wolfgang Schäuble hat gesagt, der Schutz des Lebens ist wichtig, aber die Würde des Menschen ist mindestens genauso wichtig und muss beachtet werden. Boris Palmers Aussage aber ist menschenverachtend, eindeutig menschenverachtend.

Könnte man Palmers Aussage auch in der Tradition derer sehen, die seit den 90er Jahren immer wieder den Krieg der Generationen heraufbeschwören?

Man muss den Generationenkonflikt auf jeden Fall vermeiden. Das ist auch Aufgabe des Seniorenrates. Uns geht es darum, Ausgleich zu schaffen, statt Konflikte zu schüren. Das bringt uns doch nicht weiter. Wir wollen, dass unterschiedliche Interessen zusammengeführt werden.

Lassen Sie uns noch mal auf den Pflegebereich kommen, der durch die Corona-Krise in den Blick geraten ist. Bisher galt der Pflegeberuf nicht viel, der Pflegenotstand existiert schon viele Jahre. Nun gelten die Pflegekräfte plötzlich als Helden. Versprechen Sie sich davon politische Nachhaltigkeit?

Der Seniorenrat  hat die Arbeit der Pflegekräfte schon immer sehr geschätzt. Wir haben auch immer schon auch auf Mangelsituationen in der Pflege hingewiesen. Ich hoffe deshalb, dass die Wertschätzung für Pflegekräfte bleibt. Dieses Thema wird auf jeden Fall wichtiger Teil unserer Politik bleiben.

Wenn die Akutphase der Pandemie vorbei ist,  wird unweigerlich eine Kostendebatte darüber ausbrechen, wer das alles bezahlen soll, was der Staat gerade mit vollen Händen ausgibt. Das wird sicher auch an den Alten, sprich Rentnern, nicht spurlos vorbeigehen?

Die Rentenentwicklung hängt von der Entwicklung der Bruttoarbeitsverdienste ab. Momentan gilt die Formel noch, in zwei Jahren könnte sein, dass die Rentenformel rechnerisch zu einem Rentenminus führt. Das ist eine sehr politische Frage. Die finanziellen Auswirkungen der Krise werden ab 2021/22 sichtbar. Ich denke, da wird man über Steuern versuchen, an Höherverdienende heranzugehen. Das wäre sicherlich auch zumutbar, hier einen Solidarbeitrag einzufordern. Die SPD hat bereits angekündigt, Höherverdienende zur Kasse zu bitten, die Union sagt nein dazu. Aber einen Kompromiss werden die Parteien finden müssen.

(Das Gespräch führte Barbara Thurner-Fromm)

 

Zur Person: Professor Uwe Bähr war bis 1995 Finanz- und Wirtschaftsbürgermeister der Stadt Göppingen, danach wechselte er an die Hochschule für Öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg. 2002 wurde er zum Diakon geweiht. Seit 2018 ist er Vorsitzender des Landesseniorenrats Baden-Württemberg, in dem 40 Stadt- und Kreis-Seniorenräte sowie 38 in der Seniorenarbeit tätige Verbände und Organisationen zusammengeschlossen sind. 

Prof. Uwe Bähr leitet den Seniorenrat Baden-Württemberg.

Der gut gemeinte Schutz alter Menschen hat vielfach zu psychisch schwer erträglicher Isolation geführt.