Operntagung mit Starbesetzung
Die Tagung nahm die Uraufführung „Erdbeben. Träume“ in den Blick. Die Verantwortlichen der Staatsoper haben dabei hochinteressante Einblicke hinter die Kulissen ermöglicht.
Der Inhalt der Oper „Erdbeben. Träume“, die am 1. Juli 2018 in Stuttgart uraufgeführt wurde, ist keine leichte Sommerkost. Sie basiert auf der Kleist-Novelle „Das Erdbeben in Chili“, die nicht nacherzählt, sondern von einem Protagonisten traumatisch nachempfunden wird. Drei Katastrophen, die der bekannteste japanische Komponist Toshio Hosokawa 2011 selbst erlebt hat, gaben den musikalischen Anstoß: Das dramatische Erdbeben in Japan, den anschließenden gewaltigen Tsunami und das damit in Zusammenhang stehende verheerende Atomreaktorunglück in Fukushima. Zudem wurde der Komponist 1955 in Hiroshima geboren, genau zehn Jahre nach dem katastrophalen amerikanischen Atom-Bombardement, ebenfalls eine offene Wunde – nicht nur bei Hosokawa. Das japanische Nō-Theater mit seinen charakteristischen Bewegungsabläufen bildete gleichfalls eine Anregung: „Diese Grundstruktur des Nō, durch die die Figuren sich zwischen der Realität und dem Übernatürlichen hin und her bewegen, habe ich bei der Suche nach der Zeiterfahrung meiner Oper im Sinn. Mit anderen Worten: Durch das Erlebnis einer Geschichte außerhalb des gewöhnlichen Lebens kann das Publikum durch Klänge und Bilder Dinge erfahren, die im Alltag vergessen wurden.“ [Toshio Hosokawa, Über meine Oper, in: Oper Stuttgart (Hrsg.), Toshio Hosokawa. Erdbeben. Träume. Libretto von Marcel Beyer. Nach Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“, Pliezhausen 2018, 5.]
Komplexer vierjähriger Schaffensprozess
Die TeilnehmerInnen erfuhren von den drei Referenten, die an der Entstehung der Oper beteiligt waren, viel über den komplexen vierjährigen Schaffensprozess, der durch westeuropäische und asiatische Sichtweisen gleichermaßen geprägt und beeinflusst ist. Kulturelle Sprachgrenzen gab es beim deutschen Libretto-Text, der dem japanischen Komponisten vorgelegt wurde. Marcel Beyer erzählte sehr bedacht und wortgewandt von seiner Initialzündung zum Text dieser Oper. Auch er, der in der Nähe von Dresden wohnt, verarbeitet wie der Komponist Biografisches und Erlebtes. Es sind bei ihm die menschenverachtenden Hetztiraden der Pegidabewegung und die neonazistisch eingefärbte Wortwahl der AFD-Anhänger, die einem in der Oper dargestellten Mob in den Mund gelegt wurden. Er wollte die langatmigen Texte von Kleist nicht direkt übernehmen. Beyer führte aus, er habe seine Aufgabe bei der Strukturierung des klassischen Textes darin gesehen, Kleist in der Aneinanderreihung von Ereignissen zu bändigen. Das Anliegen in seinen Büchern sei es, einen Text zu schreiben, den er selbst lesen mag. Beim Schreiben eines Librettos ist ihm wichtig, dass die Sänger seine Worte gerne singen, sagte er lapidar.
Sergio Morabito erzählte von der Dramatik der kurzen Probenzeit, weil der Komponist erst Ende April diesen Jahres mit der gesamten Partitur fertig wurde. Hosokawa mühte sich sehr am Libretto, das ihm von der Wortwahl fremd erschien, trotz seines langen Aufenthaltes in Deutschland. Es musste zunächst vom Deutschen ins Japanische übersetzt werden. Eine Reise in das seit kurzem freigegebene Sperrgebiet um Fukushima, die das Leitungsteam der Oper Stuttgart unternahm, bildete die Folie für das Bühnenbild. Eine Uraufführung liefert mehr Möglichkeiten und Potenzial sich einzubringen, da es keine Vergleiche zu vorangegangenen Inszenierungen gebe. Traditionelle Opern würden stets an älteren Inszenierungen gemessen, so der Chefdramaturg der Oper Stuttgart, der – wie das gesamte Leitungsteam – die schwäbische Landeshauptstadt am Ende der Saison verlässt. Die Morabito-Fans, die sich auch bei der Tagung befanden, äußerten sichtlich gerührt ihr großes Bedauern.
Natürliche Klänge und Geräusche sind eingearbeitet worden
Mit viel Humor, französischem Charme, bildreich und stark gestikulierend schilderte der Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling den Vorbereitungsprozess zur Oper. Er habe Toshio Hosokawa in seiner Schaffenskrise aufgebaut und ermuntert, die Komposition weiter zu führen. Nach und nach seien dann die einzelnen Szenen zur Erprobung für Sänger und Musiker eingetroffen. Einzelne Partien habe der Komponist dezidiert für bestimmte Sänger geschrieben, so der Dirigent. Tropfgeräusche wurden durch Wasser generiert und mit akustischer Verstärkung eingespielt, auch weitere natürliche Geräusche wie lautes Atmen wurden durch Hosokawa in die Partitur einbezogen. Eine Bassflöte und ein Windspiel erzeugen Klänge, die der japanischen Kultur entnommen sind. So wurde ein breites musikalisches Spektrum erzeugt.
Gero Bauer ging in seinem historischen Referat insofern inhaltlich auf den Opernstoff ein, als er Kleists historische Erdbeben-Vorlagen in den Kontext der Physikotheologie von John Ray (1627 – 1705) und Immanuel Kant (1724 – 1804) stellte. Die Theodizee-Frage, die Frage nach einem gütigen und liebenden Gott, stellt sich stets nach Naturkatastrophen unter den intellektuellen Gesellschaftsschichten. John Ray vertritt die Auffassung, der Mensch habe sich durch unmoralisches Verhalten die Strafe Gottes zugezogen, weshalb eine Naturkatastrophe eintritt. Diese Schlussfolgerung zieht auch Kleist. Kant dagegen vertritt die Auffassung, Naturkatastrophen seien weltlicher und nicht göttlicher Natur. Diese beiden gegensätzlichen Meinungsbilder waren für jeweils divergierende Gottesbilder verantwortlich. In kreationistischen Kreisen wird auch heute noch das moderne, auf der Wissenschaft basierende Weltbild verneint und baut auf einer wörtlichen Bibelauslegung auf, mit allen Konsequenzen, die daran geknüpft sind.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich übertragen
Der Titel der Oper „Erdbeben. Träume“ sei ein langer Weg gewesen, erzählte der Librettist Marcel Beyer. Aber er passe inhaltlich sehr gut und sei wie eine Klammer zu sehen, in der sich die Handlung bewegt. Es spielten sich Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft nach dramatischen Ereignissen ab. Dieser Werteverlust sei gleichfalls in den heute weltweit bestehenden konservativen Kreisen zu beobachten und somit „aktueller denn je“.
„Erdbeben. Träume“ ist zwar keine politisch motivierte Oper, aber die globalen politischen Verhältnisse lassen doch kleinere und stärkere Beben erkennen. Es bleibt die Hoffnung, dass es nicht zum GAU, dem größten anzunehmenden Unfall, kommt. (Dr. Ilonka Czerny)
Hinweis: Die Oper wird das letzte Mal in dieser Spielzeit am Montag, 23. Juli, 2018, um 19.30 Uhr aufgeführt.