Ökumene leben und denken

Koexistenz, Gemeinschaft oder Einheit? Das Überwinden konfessioneller Grenzen war und bleibt eine große Herausforderung. Wie wurde die Ökumene der 1950er gedacht und gelebt?

Von  Michaela Kästl

Die ökumenische Bewegung blickt auf eine lange Geschichte zurück – eine Geschichte der Annäherung, aber auch der Krise. Im Katholizismus der 1950er Jahre trat das stetige Wechselspiel von Intensivierungsbestrebungen der ökumenischen Strömungen und der Unnachgiebigkeit verschiedener Akteure und Gruppen deutlich zu Tage. Diese ambivalenten Entwicklungen standen im Zentrum der Studientagung „Aufbruch zur Wiedervereinigung! Die ökumenische Bewegung im Katholizismus der 1950er Jahre“. Vom 23. bis 25. September 2021 wurde im Tagungshaus der Akademie in Weingarten diskutiert und erarbeitet, wie die Ökumene der 1950er gedacht und gelebt wurde, stets auch mit Ausblicken auf die Zukunft der Bewegung. Veranstaltet wurde die Tagung vom Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart und dem Fachbereich Geschichte der Akademie.

Die Welt der „Anderen“

Unter den Stichworten ‚Initiativen‘, ‚Institutionen‘ und ‚Aspekte‘ fokussierten sich die ReferentInnen auf unterschiedliche Teilbereiche der Ökumene: theologische Schriften und Bücher, pastorale Gemeindearbeit, kirchliche Praxis, Ethik und Politik. Die Beiträge spannten dabei verbindende Beziehungslinien zwischen individuellen Fallstudien aus Niederaltaich, Stuttgart, der Ostschweiz oder Belgien und somit auch über nationale Grenzen hinweg. Einzelbeispiele, wie das Werk „Chrétiens désunis“ von Yves Congar, die Una-Sancta-Arbeit in Stuttgart, Rundbriefe der Una-Sancta-Bewegung oder die Konfessionsfrage in der CDU der 1950er Jahre, wurden mit übergreifenden Analysen zur „wahren“ Kirche und konfessionellen Differenz in der Moraltheologie und Ethik in Beziehung gesetzt, um ein umfassendes Bild der ökumenischen Bewegung zu zeichnen. Persönliche Erfahrungen und das eigene (Er-)Leben von Ökumene fanden sich ebenso in den einzelnen Vorträgen und bei einem abendlichen Podiumsgespräch mit Dr. Abraham Kustermann, Prof. Dr. Peter Neuner und Bruder Augustinus Kaulwell wieder. Sie berichteten von Konfessionsschulen, „Mischehen“ und der Faszination für die Welt der „Anderen“, die insbesondere im Alltag stets spürbar und vorhanden war.  

Ökumenische Aufbrüche

Ausschlaggebend für die Reformbewegungen der 1950er Jahre seien die ökumenischen Aufbrüche in den 30er und 40er Jahren gewesen, betonen die ReferentInnen an mehreren Stellen. Die konfessionellen Anteile verschoben sich besonders um 1945 herum durch die Aufnahme von Vertriebenen und Flüchtlingen in vielen Gemeinden stark, Kirchen lagen in Trümmern – gemeinsam erfahrene und wahrgenommene Bedrohungen durch Nationalsozialismus und Krieg regten nun verstärkt zum Dialog und zur Zusammenarbeit an. So wurden etwa die Arbeits- und Hauskreise sowie öffentliche Vorträge von Mitgliedern der Una Sancta in den 1950ern besonders stark beworben und von einer steigenden Anzahl an Personen unterschiedlicher Konfessionen besucht, wie Joachim Bürkle berichtete. Auch die Una-Sancta-Rundbriefe lassen ein ähnliches Bild der Dynamisierung und zunehmenden Internationalisierung erkennen, wie die quantitativen Analysen Simon Strobls nahelegen. Im Benediktinerkloster Niederaltaich wurde sogar eine byzantinische Kapelle eingeweiht und ein Ökumenisches Institut gegründet, in welchem die Anwesenden mit byzantinischen Riten bekannt gemacht und ihre Kenntnisse und das Verständnis der Ostkirche aktiv intensiviert wurden. Und dennoch gab es zugleich zahlreiche retardierende Momente, in denen die praktischen und theoretischen Ansätze ökumenischer Bestrebungen zurückgedrängt und zum Teil verboten wurden: Wie Dr. Beat Bühler berichtet, wurden Schriften des Pfarrers Würth aus der paritätischen Kirche im schweizerischen St. Peterzell  nach dessen Tod verbrannt, wiederum andere auf den Index gesetzt und Reformer sogar aus ihren Gemeinden entfernt. Ganz unterschiedliche Problemfelder wurden dabei gefunden, unter anderem die sprachliche Vermittlung, die Bedeutungskraft von Begriffen wie „Einheit“, „wahre“ Kirche oder „organische Union“ und die durchweg heterogenen Umsetzungsversuche, welche je nach Person, Gruppe und Ort divergieren und zum Teil sogar gegensätzlich zueinander stehen konnten.

 

Bei der Führung durch den Kreuzgang teilen die Teilnehmenden persönliche Erfahrungen.

Fachbereichsleiter Johannes Kuber (Mitte) führt die Teilnehmenden durch das Tagungshaus Weingarten.