„Memorial“ setzt auf Deutschland

Die größte Menschenrechtsorganisation Russlands könnte zum Opfer des Putin-Regimes werden. Das Netzwerk ist eng mit Deutschland verbunden – auch mit der Akademie.



Von Miriam Hesse

Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die russische Organisation „Memorial“ für die Aufarbeitung kommunistischen Terrors in der Sowjetunion ein, verteidigt aber auch aktuell die Menschenrechte etwa politischer Gefangener. Nun könnte die Organisation selbst Opfer staatlicher Repressionen werden. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat die Auflösung beantragt. Begleitet von internationalem Protest hat Ende November der Prozess gegen „Memorial“ begonnen.

Im Gespräch mit der Akademie ordnen die „Memorial“-Mitgründerin Irina Scherbakowa und der in Moskau lebende Übersetzer Boris Chlebnikow sowie die Konstanzer Kulturforscherin Aleida Assmann die aktuelle Bedrohungslage ein.

Sehen Sie hier das vollständige Gespräch.

Die Arbeit von Russlands bedeutendster Menschenrechtsorganisation ist nicht in der Vergangenheit erstarrt. An der Arbeit von „Memorial“, einer Organisation mit engen Verbindungen ins Ausland, insbesondere nach Deutschland, lasse sich ein transnationaler Lern- und Entwicklungsprozess ablesen, sagt Aleida Assmann, die vor drei Jahren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Ein Prozess, der zu dieser Zeit in vielen Ländern begonnen habe und „bei dem die historische Aufarbeitung zu einem zivilgesellschaftlichen Projekt geworden ist“. Komplett neu sei ja diese Idee gewesen, dass Geschichte nicht vorbei ist, sich ihr zu widmen und sich der Verantwortung zu stellen: „Und damit das Band der Empathie in dieser Geschichte zu erneuern.“

Diffamierung und Einschüchterung

Dass dies gelungen ist, zeige sich jetzt insbesondere auch im Engagement der jüngeren Generation ihrer MitarbeiterInnen, erklärte Irina Scherbakowa. Seit der Druck durch das Putin-Regime, etwa über Diffamierungen in staatlichen Medien oder die Einschüchterung von LehrerInnen und SchülerInnen, die an „Memorial“-Bildungswettbewerben teilnehmen, zugenommen habe, arbeiteten viele Tag und Nacht daran, dass möglichst wenig Wissen verloren geht: „Sie scannen rund um die Uhr Dokumente, Fotografien, Listen.“ Die Digitalisierung – so die Hoffnung – kann zumindest ein Stück weit verhindern, dass sich der Staat dieses wertvolle Archiv einer unabhängigen Nichtregierungsorganisation, in dem die Schicksale von 3,5 Millionen Opfern des Stalin-Terrors dokumentiert sind, einverleibt.

Widerspenstigkeit der Vernetzung

Noch sei die Entscheidung des Gerichts nicht gefallen, betont Boris Chlebnikow, Mitinitiator des Aleksandr-Men-Preises, der von 1995 bis 2011 von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Westeuropa gestiftet worden war. Die jetzigen beiden Prozesse gegen „Memorial“ seien eindeutig politischer Natur: „Wobei eine Unverhältnismäßigkeit zwischen den vorgeworfenen Versäumnissen und der Strafe ins Auge springt.“ Es stehe also „das Schlimmste zu befürchten“: „Die Folgen einer Auflösung dieser äußerst aktiven und präsenten Organisation für die russische Zivilgesellschaft wären schlimm.“

Würde die Gedächtnisleistung dieser wichtigen Institution nun in die Obhut des Staates übergehen, stünde dies „dem Grund ihrer Gründung genau entgegen“, betont Aleida Assmann, die durch die enge Verbindung von „Memorial“ auch zu deutschen Organisationen, Stiftungen, HistorikerInnen und der hiesigen Arbeit von Gedenkstätten viel Hoffnung in die Widerspenstigkeit und Flexibilität dieses Netzwerks setzt: „Verflechtungen und Vernetzungen sind Strukturen, die man nicht einfach auslöschen kann.“


Aleida Assmann (links oben), Boris Chlebnikow und Irina Scherbakowa (rechts unten) sprachen mit Miriam Hesse von der Akademie der Diözese über die aktuelle Verhandlung gegen "Memorial".