Mehr als eine Frage des Aufenthaltsstatus

Die Weingartener Woche zum Flüchtlings- und Einwanderungsrecht wird 15 Jahre alt. So manche Teilnehmende hat das Thema der Seminarwoche für Studierende seither nicht mehr losgelassen.

Würde Edward Snowden in Deutschland Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten? Ist es mit dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar, Asylsuchenden Leistungen zu kürzen, wenn sie nicht mit der Ausländerbehörde kooperieren? Und wie kann die Verantwortung für Asylsuchende unter den europäischen Staaten gerecht verteilt werden? Egal, ob es um diese oder andere Fragen geht – bei der „Weingartener Frühjahrswoche“ gibt es kaum ein migrationsrechtliches Thema, das nicht hinterfragt oder kritisch debattiert würde: „Ich bin immer wieder positiv überrascht, wie tief die Diskussionen sind“, bemerkt Malika Mansouri vom Lehrstuhl für öffentliches Recht, deutsches und internationales Recht, Rechtsvergleichung an der Universität Bielefeld. Zum dritten Mal wirkt die wissenschaftliche Mitarbeiterin als Tagungsleiterin bei der Woche mit. „In Weingarten geht es nicht nur um Fragen des Aufenthaltsstatus. Es ist ein Reflexionsraum für die menschenrechtlichen Aspekte des Themengebiets.“

Dialogräume wie in Weingarten sind selten

Idee der Seminarwoche ist es, Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen mit WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen aus den verschiedensten Tätigkeitsfeldern zusammenzubringen. „Ich kenne kein vergleichbares Format für Studierende, welches Interdisziplinarität und Vernetzung von Wissenschaft und Praxis so zusammenbringt“, sagt Mansouri.

Denn Dialogräume wie die Weingartener Woche sind keineswegs selbstverständlich. Selbst unter JuristInnen gilt das Feld des Migrationsrechts nach wie vor als ein Fach für ExotInnen, das weder prüfungsrelevant noch zwingender Bestandteil der rechtswissenschaftlichen Ausbildung ist. Ausgangspunkt der Weingartener Woche war dementsprechend das Bestreben, an der Universität Bielefeld einen Schwerpunkt Einwanderungsrecht aufzubauen. Auf der Suche nach KooperationspartnerInnen nahm Prof. Dr. Ulrike Davy, die Inhaberin des Lehrstuhls für öffentliches Recht, deutsches und internationales Recht, Rechtsvergleichung, Kontakt zur Akademie auf: „Wir kannten uns von den Hohenheimer Tagen zum Migrationsrecht“, erinnert sich Klaus Barwig, der die Aktivitäten der Akademie im Bereich der Migration bis zu seinem Ruhestand Anfang April geprägt hat und dessen Arbeit nun die Politikwissenschaftlerin Dr. Konstanze Jüngling übernommen hat. „Wichtig war auch, dass das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück jahrelang Studierende nach Weingarten geschickt hat. Dadurch kam ein intensiver Erfahrungsaustausch zustande“, so Barwig. Eine Förderung durch den Kinder- und Jugendplan des Bundes über die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (aksb) hob die Weingartener Woche auf ein stabiles wirtschaftliches Fundament und ermöglichte vielen Studierenden eine Teilnahme, die sich diese andernfalls hätten nicht leisten können.

Migrationsrecht kommt aus der Nische heraus

Und dies mit nachhaltiger Wirkung: „Viele, denen ich heute in Kontexten des Migrationsrechts begegne, haben ihren Weg über Weingarten genommen“, erklärt Mansouri. Constanze Janda, Professorin für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft an der Universität Speyer, war 2005 zum ersten Jahr als Teilnehmerin bei der Weingartener Woche dabei – heute referiert sie während der Seminarwoche regelmäßig zum Thema Sozialrecht und Anti-Diskriminierung: „Die Weingartener Woche hat mich erst auf das Sozialrecht gebracht“, erinnert sich die Lehrstuhlinhaberin.

Die Weingartener Woche war zudem ein Ausgangspunkt für die Gründung des Netzwerks Migrationsrecht, das seit 2007 ein Forum für WissenschaftlerInnen im Themenfeld schafft. Die Refugee Law Clinics, ein Zusammenschluss studentischer Rechtsberatungen im Feld Migrationsrecht, treffen sich seit 2015 ebenfalls regelmäßig in Weingarten: „Die Weingartener Woche hat die Rolle und Kenntnis der Akademie in zivilgesellschaftlichen, akademischen und studentischen Kreisen gestärkt und ist zu einem Ort der Migrationsarbeit geworden“, bilanziert Barwig.

Über die Jahre hinweg hat die Seminarwoche zudem an Diversität gewonnen:  Sie zieht immer mehr  Studierende an, die vielfältige kulturelle Kompetenzen und Berührungspunkte zu Zuwanderungsgeschichten in ihrer eigenen Biografie mitbringen. „Der dadurch mögliche persönliche Erfahrungsaustausch ist sehr bereichernd“, reflektiert Mansouri. In den Diskussionen selbst spiele der Migrationshintergrund dagegen keine Rolle, hier gehe es in erster Linie um Fragen des Rechts: „Dies steht sehr schön für ein gemeinsames Deutschland.“ Nahmen an der Seminarwoche zudem zu Beginn eher spezialisierte Gruppen teil, ist die Weingartener Woche über die Jahre ein Dialogort für ein breiteres Publikum geworden. Dr. Constantin Hruschka, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München und langjähriger Referent im Rahmen der Woche, nimmt auch diese Entwicklung positiv wahr: „Es ist gut, dass das Thema aus der Nische herauskommt.“ Umso erfreulicher ist daher: Seit 2014 haben Astrid Wallrabenstein, Professorin für öffentliches Recht an Universität Frankfurt, und Jürgen Bast, Professor für öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Gießen, die Seminarwoche in adaptierter Form und ebenfalls mit Unterstützung der AKSB als Weingartener Herbstwoche etabliert.

Dr. Konstanze Jüngling

Studierende simulieren eine gerichtliche Verhandlung eines Asylfalles.