Kein Corona, aber auch kein Leben mehr

Hochbetagte mit Vorerkrankungen haben das höchste Corona-Risiko. Doch die Quarantäne-Regeln lassen viele Menschen in Pflegeheimen in ihrem Zimmer vereinsamen. Ein Erfahrungsbericht

Seit dem 18. März, seit dem Shutdown wegen der Corona-Pandemie, beobachtet Maria L. (Namen der Betroffenen sind anonymisiert) Entwicklungen bei ihrem 90-jährigen Vater, die sie so beunruhigten, dass sie nicht mehr anders zu helfen wusste, als Ministerpräsident Kretschmann und Sozialminister Manfred Lucha zu schreiben.  

Hans L. lebt in einem Stuttgarter Pflegeheim in kirchlicher Trägerschaft. Seit dem Tod seiner demenzkranken Frau vor einem Jahr ist der Kontakt zu seiner 60jährigen Tochter Maria sein wichtigster Bezugspunkt. Doch seit sechs Wochen darf sie nicht mehr zu ihm, tägliche Telefonanrufe sind die einzige Möglichkeit zur Kommunikation. Aus Sorge vor Ansteckungen darf Herr L. seither nicht mehr ums Haus gehen, seit sechs Wochen hat er das Haus nicht verlassen dürfen. Er darf nicht mehr mit den anderen Bewohnern essen, sondern muss seine Mahlzeiten allein im Zimmer einnehmen. Er wird nicht mehr geduscht, auch die Nägel bekommt er nicht mehr geschnitten, trotz seines Pilzes. Die Zeit verbringt er den lieben langen Tag in seinem Zimmer und wird immer schwermütiger. Immer häufiger spreche er davon, dass er so nicht länger leben wolle.  

Inzwischen, so berichtet seine besorgte Tochter, liege er eigentlich immer auf dem Bett, wenn sie anrufe, manchmal laufe der Fernseher. Sie rufe extra zu unterschiedlichen Zeiten an, um zu kontrollieren, ob er Abwechslung hat, sie hat auch die Heimleitung schon darauf angesprochen und vorgeschlagen, persönliche Begegnungen – natürlich auf Distanz – im Freien vor dem Haus zu ermöglichen, doch das sei abgelehnt worden, die Heimleitung berufe sich auf die Vorschriften. Lediglich im Hausgang könne ihr Vater nun von einer Mitarbeiterin begleitet hin und her gehen, aber niemand nehme sich die Zeit, ihm gut zuzureden und ihn zu aktivieren, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen.

Dienst nach Vorschrift werde auch in anderer Hinsicht betrieben: „Ich durfte ihm nicht mal Tempos und Schokolade wegen der Virusgefahr vorbei bringen. Seit Ostern sind wenigstens verpackte Sachen erlaubt, aber kein Saft und kein Obst“, schildert sie die Situation. Es sind diese Dinge, die Maria L. wütend und traurig machen, denn sie ist überzeugt davon:  „Die Heimleitung hat Spielraum.“ Wenn man will, findet man Wege, um über den Zaun zu reden oder sich zu begegnen in einem geschützten Raum getrennt durch Plexiglas, diese zwei Beispiele nennt sie, um die Situation für die alten Menschen humaner zu gestalten. Sie ist sich sicher: „Die Coronakrise zeigt Helden, aber sie bringt auch die Defizite in der Pflege schonungslos zum Vorschein“.

aufgezeichnet von Barbara Thurner-Fromm

Wochenlang durften Pflegeheimbewohner das Haus nicht verlassen. Das löste Depressionen aus.