Ist Europa noch zu retten?

Hochaktuell und stark besucht: Die traditionsreichen „Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht". Gut 250 Expert:innen diskutierten über Einbürgerung, Familiennachzug, Asyl und den Zusammenhalt Europas.

Von Paul Kreiner

Aktueller hätten die 38. Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht ihre Themen nicht wählen können: die Zahl von Kriegsflüchtlingen und Asylsuchenden schwillt wieder an; die Bundesregierung hat dieser Tage ihren Entwurf für ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz verschickt; in der EU steuern die Verhandlungen über die Reform des Gemeinsamen Asylsystems auf einen dramatischen Höhepunkt zu, auf das Treffen der Innenminister am 8. Juni, dem die einen nichts dringender wünschen als ein Scheitern, die andern ein Gelingen – und beide im Interesse Europas.

Mehr als 250 Expert:innen waren am langen Wochenende nach Christi Himmelfahrt zum traditionsreichen Fachtreffen in Stuttgart-Hohenheim versammelt, zum ersten Mal nach Corona wieder in Präsenz. Vertreter:innen von Bundes- und Kommunalpolitik, aus Parteien und Verwaltung, aus Rechtsprechung und Verbänden debattierten drei Tage lang über „Migrationsrecht in Zeichen von Krieg und Krise“.

Für die Bundesregierung gab es dabei zwar einiges an Lob – mehrheitlich aber Kritik. Zum Entwurf des neuen Einbürgerungsgesetzes etwa wurde positiv angemerkt, „endlich“ gehe etwas voran. Es werde ja auch „Zeit, dass das deutsche Einbürgerungsrecht in dritten Jahrtausend ankommt“, sagte etwa Thüringens Fachministerin Doreen Denstädt. Die Kritik der Fachleute richtete sich aber gegen die von Bundesjustizminister Marco Buschmann auch auf Twitter plakativ verfochtene Strategie, Deutschland wolle die Einbürgerung erleichtern für Menschen, die „von ihrer eigenen Hände Arbeit leben“ und sie erschweren für solche, die „vom Sozialstaat“ lebten. Damit, so etwa Harald Dörig, früher Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, werde das Gesetz „massenweise Härtefälle produzieren“, denn „Menschen, die gar nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, fallen raus.“ Das betreffe etwa Kranke, Behinderte, Personen, die Familienangehörige pflegten, und Menschen in Altersarmut. Die Antwort des Bundestagsabgeordneten Stefan Thomae (FDP), man erwarte, dass jemand, der die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebe, wenigstens „einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht“, auch wenn das Gehalt dafür zu gering sei, um den Lebensunterhalt im strengen Sinne zu sichern, überzeugte in Hohenheim sichtlich nicht.

 

Überlastet und „hochgradig besorgt“

Vertreter:innen von Kommunen und Bundesländern befürchteten zudem, die geplanten, ausgeweiteten Prüfungsvorschriften (etwa hinsichtlich der Identität von Antragstellern) brächten auch eine unübersehbare Ausweitung der Bürokratie mit sich. „Alles, was unsere Verwaltungsvorgänge beschleunigt, hilft uns“, sagte Ministerin Denstädt. Daniela Schneckenburger vom Deutschen Städtetag berichtete von einer Stadt („den Namen nenne ich jetzt nicht“), die schon jetzt 15.000 Einbürgerungsanträge vorliegen habe, mit dem vorhandenen Personal aber maximal tausend pro Jahr bearbeiten könne. Staatssekretär Bernd Krösser vom Bundesinnenministerium gab zu, wenn alle 2,5 Millionen Menschen, die sich gemäß der künftigen, umfassenden Mehrstaatlichkeits-Liberalisierung in Deutschland einbürgern lassen könnten, ihre Anträge stellten, „dann haben wir ein echtes Problem.“

Schneckenburger zeigte sich auch erfreut, dass die Bundesregierung beim Flüchtlingsgipfel eine Milliarde Euro zusätzlich für die Kommunen zugesagt habe. Städte und Gemeinden seien bereits jetzt „nicht mehr in der Lage, Menschen so unterzubringen, wie wir es für angemessen halten.“ Zeltstädte und Sporthallen rückten näher, sagte Schneckenburger. Sie kritisierte jedoch, die versprochene  Milliarde sei „nicht dynamisiert“, werde also steigenden Zuströmen nicht bedarfsgerecht angepasst: „Und die Flüchtlinge kommen eben, wie sie kommen.“ Dass gerade aus dem Nahen Osten einiges zu erwarten sein könnte, machte Roland Bank vom UNHCR deutlich. Er sei „hochgradig besorgt“, sagte er, dass gleich „beide Präsidentschaftskandidaten in der Türkei“ die syrischen Flüchtlinge dort aus dem Land drängen wollten.

Deutlich machte Daniela Schneckenburger ebenso wie Tanja von Uslar-Gleichen (Bundesaußenministerium), dass Deutschland viel mehr Zuwanderung – 400.000 Menschen pro Jahr – brauche, um seinen Bedarf an Arbeitskräften zu decken: „Es gab noch nie so viele offene Stellen wie heute“, sagte Schneckenburger. Dieses Stellenangebot dürfe in der öffentlichen Zuwanderungsdebatte nicht als „Pull-Faktor“ verunglimpft werden. Aus Thüringen erzählte Isabel Rößner (Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz) von starken Bevölkerungsverlusten in den zurückliegenden zwanzig Jahren, von massenhaft leerstehenden Wohnbauten und erheblichem Fachkräftemangel. Zuwanderung könnte helfen. „Die Bürgermeister aber sagen uns: das ist nicht zu vermitteln, wir haben zu viele andere Probleme.“ Rößner berichtete auch, beim Zustrom ukrainischer Flüchtlinge seien syrische Migrantenvereine die ersten gewesen, die Hilfe angeboten hätten. „Sie sagten: Wir wissen ja, wie sich Krieg anfühlt.“

 

Solidarität – ein schwieriges Thema

Tanja von Uslar-Gleichen sagte, der hohe Bedarf an Arbeitskräften erlaube es Deutschland nicht, an seinen „altmodischen Visaverfahren“ festzuhalten; diese führten zu „extrem langen“ Wartezeiten: „Warum kann ich für die USA ein Visum digital beantragen, für Deutschland aber nicht?“ Die Visa-Erteilung sei derzeit „der Flaschenhals erwünschter Einwanderung“; das Außenministerium habe deshalb einen „Aktionsplan Visabeschleunigung“ aufgelegt, werde bis nächstes Jahr 39 Einwanderungskategorien digitalisieren und nicht mehr „waschkörbeweise Papier-Anträge mit der Diplomatenpost durch die Welt transportieren.“

Staatssekretär Krösser vom Bundesinnenministerium sagte, die Bundesinnenministerium wolle, dass Deutschland nun „als Flucht- und Einwanderungsland“ anerkannt werde: „Das wollen wir aktiv gestalten.“ Ziel sei ein „humanitärerer Umgang mit Migration.“ Reguläre Wege nach Deutschland müssten dafür gestärkt, irreguläre Zugänge reduziert werden. „Zugangszahlen müssen so gesteuert werden, dass sie funktionieren und in geordneten Verfahren hier verteidigt werden können.“ Ein „reines Begrenzungsgesetz“ strebe die Bundesregierung nicht an. Krösser sagte, es brauche eine „Balance aus Solidarität und Verantwortung.“ Allerdings sei Solidarität „schwer zu verhandeln im Moment.“

Viel Kritik aus dem Fachpublikum galt dem von der Bundesregierung „mit Absicht behinderten“ Familiennachzug. Für gute Integration sei die Zusammenführung von Familienangehörigen „eine wichtige Ressource; wir lassen sie hintenrunter fallen“, hieß es in zahlreichen Wortmeldungen. Die Ulmer Rechtsanwältin Maria Kalin schilderte einige jahrelang ungelöste, im bürokratischen Dickicht festhängende, dramatische Fälle: „Bei der Einwanderung von Fachkräften geht alles sehr schnell; der humanitäre Bereich hinkt hinterher.“ Und: „Was ist das für ein Rechtsstaat, wo ich über Jahre hinweg meine Ansprüche nicht durchsetzen kann?“ Marie von Manteuffel, die als Mitglied von Ärzte ohne Grenzen und Zentralkomitee der Deutschen Katholiken auf dem Podium saß, ergänzte: „Solange reguläre Zugänge nur auf dem Papier stehen, bleibt den Familien nur die Illegalität.“ Schon zuvor hatte Tanja von Uslar-Gleichen (Auswärtiges Amt) den zahlreichen kritischen Stimmen in Hohenheim recht gegeben: Im Migrationsrecht überschreite Deutschland Fristen, die nach europäischem Regelwerk verpflichtend wären: „Wir hinken hinterher.“

 

Ist Scheitern das bessere Gelingen?

Zu den schärfsten Kontroversen bei den insgesamt sehr gepflegten Hohenheimer Debatten kam es beim GEAS, dem neuen „Gemeinsamen Asylsystem der Europäischen Union“. Ulrich Weinbrenner (Bundesinnenministerium) sagte, die Verhandlungen über die insgesamt 13 Rechtsakte stünden derzeit „auf Messers Schneide“. Das Thema sei „ausgesprochen sensibel in allen Mitgliedsstaaten“, und es gebe angesichts der Zunahme von rechtspopulistischen Parteien in Regierungsverantwortung eine „stärkere skeptische, ablehnende Haltung“ gegenüber Migration als noch vor fünf Jahren. Weinbrenner befürchtete aber, wenn es beim Treffen der europäischen Innenminister am 8. Juni und in den Wochen danach keine Einigung gebe, dann werde es mit einer Reform des Asylsystems in der aktuellen Wahlperiode des Europaparlamentes nichts mehr, „und es steht völlig in den Sternen, ob eine neue EU-Kommission ab nächstem Jahr einen dritten Anlauf startet.“ Krösser sagte, die Bundesregierung sehe sich in der „besonderen“ Verantwortung, „den europäischen Laden zusammenzuhalten“ und werde „auch bei schmerzhaften Kompromissen“ einer „Einigung nicht im Wege stehen“.

Worum geht der Streit? Zunächst einmal grundsätzlich: um die Art und Weise, wie Europa mit seinen zunehmenden rechtspopulistischen Kräften auf die Asylsuchenden blickt. Das laufe „alles unter restriktiven, asylfeindlichen Aspekten“, kritisierte Karl Kopp von Pro Asyl. Es gebe eine „Rechtsstaatskrise und eine Menschenrechtskrise“, es seien „viele rote Linien schon überschritten.“ Dann, konkreter und exemplarisch, geht der Streit um die sogenannten „Grenzverfahren“, die die EU-Kommission nun ausweiten und verpflichtend machen will – mit der Folge, dass Flüchtende ihr Asylsuchen gar nicht mehr auf europäischem Boden stellen und womöglich inhaltlich auch nicht begründen können. NGOs wie Pro Ayl kritisieren, damit würden die Standards bei der Prüfung von Asylbegehren in „entrechtender“ Weise abgesenkt; es drohten „systematische Inhaftierung“ an den Außengrenzen, Ausbeutung, Kettenabschiebung und mehr. In Deutschland stehe das im Widerspruch um Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien, wo es unter anderem heißt: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“

War es eine mögliche Zustimmung dazu, die Weinbrenner von womöglich „schmerzhaften Kompromissen“ auf Seiten Deutschlands sprechen ließ? Karl Kopp von Pro Asyl kritisierte in Hohenheim, die Absprachen im EU-Kreis seien „völlig intransparent“, die Verhandlungskommissionen „abgeschottet“. Und in Antwort auf Ulrich Weinbrenners Satz, Deutschland müsse „den europäischen Laden zusammenhalten“, sprach Karl Kopp davon, gerade die Werte, die Fundamente der EU erforderten eine Ablehnung des „toxischen Asylpakets“ der EU-Kommission: „Es gibt überhaupt keinen Grund, um jeden Preis, auf Biegen und Brechen, zu einem Kompromiss zu kommen. Das Paket bringt für den Schutz der Menschrechte gar nichts.“ Und: „Wir werden alles tun, dass es nicht angenommen wird.“

 

Hinweis: Videos von den Plenumsdiskussionen der Veranstaltung finden Sie demnächst hier.