Islamisten bedienen sich vieler Ideologien

Mix aus Verschwörungstheorien: Die Online-Tagung „Islamismus in Deutschland – Quo Vadis?“ diskutiert unter anderem aktuelle Entwicklungen in extremistischen Strömungen.

Von Yasemin Ergin

Etwa 100 Teilnehmende aus ganz Deutschland – darunter Mitarbeiter*innen von Landesministerien, Landtagsabgeordnete, Wissenschaftler*innen, Mitglieder muslimischer Verbände sowie Angehörige der Sicherheitsbehörden - haben sich am 14. und 15. März 2022 zu der Online-Veranstaltung „Islamismus in Deutschland – Quo Vadis?“ zugeschaltet. Für die hybride Veranstaltung kamen die etwa 20 Referent*innen und Organisator*innen, darunter Dr. Hussein Hamdan (Akademie), Frank Buchheit (Landeskriminalamt), Tobias Ehrt vom Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg (konex), Derya Şahan und Mathieu Coquelin (Demokratiezentrum) im Tagungszentrum Hohenheim zusammen. Zum Auftakt betonte der Staatsekretär im Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg Wilfried Klenk in seiner Videobotschaft, dass Hass und Hetze nun vor allem im Internet und in den sozialen Netzwerken Verbreitung fänden und entsprechende Gegenmaßnahmen der Landespolitik erfolgten. Trotz vieler anderer drängender Entwicklungen wie die Zunahme rechtspopulistischer Straftaten beschäftige der Islamismus die Sicherheitsbehörden aber weiterhin.

Der Begriff "Islamismus" ist umstritten

Zunächst gab der Islamwissenschaftler Prof. Dr. Tilman Seidensticker von der Universität Jena einen historischen Überblick über islamistische Strömungen und schätzte, dass etwa fünf Prozent der Muslim*innen als extremistisch eingestuft werden könnten. Den umstrittenen Begriff „Islamismus” durch ein anderes Wort zu ersetzen, lehnte er ab und führte aus, dass man ohne den Begriff „Islam“ dieses Phänomen nicht adäquat beschreiben könne. Gleichwohl nannte er äußere Faktoren wie die Fremdbestimmung oder Missstände in den islamischen Ländern als Entstehungsursachen. Seidensticker hat sich ganz bewusst für eine sehr offene Definition entschieden und beschreibt deshalb den Islamismus als "Bestrebung zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden". Von Islamismus könne man vor allem dann sprechen, wenn islamische Werte und Normen zu Kampfbegriffen für revolutionäre Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung werden. Er lasse sich in mehrere Schulen und Strömungen aufteilen. So wurden die Muslimbruderschaft und der Salafismus als maßgebliche Strömungen ausgiebig erläutert.

Salafistische Influencer haben Millionen Follower

Dr. Benno Köpfer, Leiter der Abteilung Islamistischer Extremismus und Terrorismus beim Landesamt für Verfassungsschutz, befasste sich in seinen Vortrag vor allem mit den Begrifflichkeiten, der Geschichte und den aktuellen Geschehnissen im Islamismus. Er betonte, dass es „den Islamismus“ genauso wenig gebe wie „den Islam“ und die Vielfältigkeit beachtet werden müsse. Köpfer ging in seinem Überblick suf Gruppen wie die Taliban, Boko Haram, Salafisten, Hizbullah so-wie Millî Görüş ein und berichtete auch über salafistische Influencer*innen, die bis zu 20 Millionen Abonnent*innen haben.

All diese Extremist*nnen verbinde ein dualistisches Weltbild, das Menschen in Gut und Böse aufteilt. Zur Rechtfertigung ihrer Ideologie würden Extremist*innen die Skepsis gegenüber etwa dem Kapitalismus, der Globalisierung oder Medien für ihre Feindbilder nutzen und hierbei die Muslim*innen als Opfer darstellen. Als Beispiel nannte Köpfer muslimische Jugendliche der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), die in Instagram-Beiträgen die antizionistischen Aussagen des türkischen Politikers Necmettin Erbakan zitierten. Seine Ausführungen rundete Köpfer mit konkreten Zahlen ab. So beobachte der Verfassungsschutz in Deutschland 28.715 IslamistInnen. Auch gebe es mehrere Hundert Rückkehrer*innen aus den so genannten Jihad-Gebieten.

Praxisnahe Workshops zu diversen Themen

Eine Workshop-Phase bot Raum zum Austausch. Workshop 1 beschäftigte sich unter Anleitung von Aaron Kunze vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg mit Entwicklungsszenarien für den Salafismus bis zum Jahr 2030. Derya Şahan und Esra Biçer beleuchteten in Workshop 2 die Sichtweise muslimischer Communities auf den Islamismus. Ein Fokus lag dabei auch auf einzelnen Projekten bis hin zu ganzen Gemeinschaften, die das Thema Islamismus aufgreifen und Radikalisierung vorbeugen möchten. In Workshop 3 nahmen sich Hussein Hamdan und Tobias Ehrt des sogenannten legalistischen Islamismus an. Prominentestes Beispiel ist die IGMG, die in Baden-Württemberg unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht – nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Äußerungen in der Tradition des türkischen Politikers Necmettin Erbakan. Andererseits stellten Vertreter*innen der IGMG im Workshop dar, dass der Verband Maßnahmen unternimmt, um diese problematischen Themen aufzugreifen. Hussein Hamdan berichtete aus seiner Perspektive als Islamberater, dass es auf kommunaler Ebene große Unsicherheit im Umgang mit der IGMG und deren Einbindung in Projekte gebe, die Entscheidung darüber aber am besten im Einzelfall vor Ort getroffen werden können. Mathieu Coquelin und Jens Ostwaldt beleuchteten in ihrem Workshop 4 die Rolle reziprok aufeinander bezogener Narrative in extremistischen Ideologien.

Verschwörungstheorien spielen große Rolle

In einem Fachgespräch diskutierten Julia Ebner und Daniel Köhler aktuelle Entwicklungen in mehreren extremistischen Strömungen. Über alle Szenen hinweg stellten Brückennarrative, wie Judenfeindschaft, toxische Männlichkeit, Opfernarrative und Gewaltverherrlichung Anknüpfungs- und Einstiegspunkte für mögliche Übergänge dar. Andererseits lasse sich beobachten, dass sich Extremist*innen zunehmend wählerisch der Ideologien bedienen und sich individuelle Ideologien zusammenstellen. Es lasse sich ebenfalls zunehmend beobachten, dass online und realweltliche Kontexte zu einem „Onlife“-Kontext zusammenwachsen. Dabei spielten in allen Szenen Verschwörungstheorien eine zentrale Rolle. Islamistische Akteur*innen versuchten dabei von anderen Szenen zu lernen und setzten mehr und mehr auf Memes und nichtsprachliche Kommunikation (Emojis).

Verbände zwischen Engagement und Stigmatisierung

Derya Şahan, Simone Trägner-Uygun und Prof. Dr. Jens Ostwaldt beleuchteten in der ersten Podiumsdiskussion am zweiten Veranstaltungstag die Sichtweise der Muslim*innen auf Radikalisierungs- und Islamismusdiskurse. Dies sei vor allem für die Verbände eine Herausforderung, die sich zwischen Engagement und Stigmatisierung befänden. Über positive und negative Beispiele hinweg zeichnete sich ab, dass eine verengende und monothematische Beschäftigung weniger zielführend ist. Neben allgemeinen Bildungsthemen sollten auch im Kontext des Islamismus Nationalismus, Antisemitismus, Misogynie und andere Ungleichwertigkeitsideologien allgemein thematisiert werden. Gemeinsam mit dem Moderator Dr. Hussein Hamdan wünschten sich die Diskutant*innen einen „Fünfjahresplan“ der Verbände aber auch der Politik zum Umgang mit zentralen Islamthemen.

Von Prävention bis Repression

Die zweite von Ulrich Pick vom SWR moderierte Podiumsdiskussion verortete das bislang Diskutierte zwischen den Zugängen der Integration und dem der Sicherheitsbehörden. Gari Pavokovic stellte als Integrationsbeauftragter der Stadt Stuttgart Erfahrungen und Herausforderungen im Umgang mit dem Islamismus und seinen Auswirkungen auf die Integration dar. Der Aufbau muslimischer Strukturen in Deutschland scheint ihm erfolgversprechend. Weit über 90 Prozent der Muslim*innen stünden mit beiden Beinen auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – diese Mehrheit sollte bei allen (Sicherheits)Problemen nicht außer Acht gelassen werden. Daniel Köhler (konex) ordnete Ausstiegsangebote als zweite Chance und als Beitrag zu einer demokratischen Kultur ein. Er machte deutlich, dass vorhandene Probleme durch extremistische Gruppen aufgegriffen werden und sie damit Propaganda für ihre eigenen Ziele machen, indem sie ultimative Lösungen angeben. Eine weit verstandene Prävention könne dabei einen Beitrag zur Integration und Partizipation leisten und damit die demokratische Kultur fördern.

Thomas Georgi, Leiter des polizeilichen Staatsschutzes beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg, stellte die Rolle der Repression vor. Insbesondere die Erkennung von Homegrown-Terrorist*innen, Kriegs-Rückkehrer*innen und digital vernetzten Einzeltäter*innen beziehungsweise irrational handelnden Einzeltäter*innen bereiteten ihm Sorgen. Sie erfordere ein eng vernetztes und grenzübergreifendes Vorgehen von Behörden – aber auch der Zivilgesellschaft. Alle Diskutant*innen stellten den Wert der Prävention, der politischen Bildung und des Diskurses innerhalb der wehrhaften Demokratie heraus - aber auch die Wichtigkeit von sozialer Sicherheit, die die Entstehung radikalisierender Tendenzen reduziert.

Berichte über die Tagung:

https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/110980/5170000

https://www.evangelisch.de/inhalte/198440/14-03-2022/experte-weiterhin-am-begriff-islamismus-festhalten


Vorbereitungsteam und ReferentInnen (v. l. n. r.): Frank Buchheit (LKA), Volker Emmert (konex), Dr. Benno Köpfer (LfV), Derya Şahan (Demokratiezentrum), Prof. Dr. Tilman Seidensticker (Universität Jena), Dr. Hussein Hamdan (Akademie), Mathieu Coquelin (Demokratiezentrum), Tobias Ehrt (konex)

Podium I Junge MuslimInnen: zwischen Anerkennung und Ausgrenzung (v. v. n. h.): Derya Şahan (Demokratiezentrum), Simone Trägner-Uygun (Universität Tübingen), Prof. Dr. Jens Ostwaldt (IU – Internationale Hochschule), Dr. Hussein Hamdan (Akademie)

Podium II Islamismus in Deutschland – Quo Vadis? (v. l. n. r.): Gari Pavkovic (Stadt Stuttgart), Dr. Daniel Köhler (konex), Thomas Georgi (LKA)

Über 100 Personen aus ganz Deutschland nahmen online an der Tagung teil.

Die Tagung wurde aus dem Tagungshaus Hohenheim gestreamt.