Hoffnung, Erwartung, Enttäuschung
Vor 100 Jahren ist der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. Die Nachkriegsordnung wurde lange Zeit Europa-zentrisch diskutiert. Erst jetzt weitet sich der Blick auf die globalen Folgen.
Oft wird verkürzt behauptet, die Ereignisse von 1933, 1939 und 1945 seien schon im Ersten Weltkrieg und seinen Folgen angelegt worden. Doch im Jahr 1918 war die Zukunft noch völlig offen. Welche Erwartungen und Hoffnungen verknüpften die ZeitgenossInnen mit dem jungen Frieden – in Deutschland, aber auch auf internationaler Ebene? Diesen Fragen ging die Veranstaltung „1918 und die Welt. Europäische und globale Auswirkungen von Weltkrieg und Friedensordnung“ im Tagungszentrum Hohenheim auf den Grund. Mehr als 100 Interessierte waren der Einladung der Akademie und des Landesverbandes Baden-Württemberg im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. gefolgt.
Schmalzl: Nationalismus muss überwunden werden
In einem Grußwort stellte Professorin Loretana de Libero aus dem Vorstand des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Arbeit des Verbandes vor und erinnerte daran, dass der letzte Gefallene des Ersten Weltkriegs, Erwin Thomä, aus Stuttgart kam und hier auf dem Waldfriedhof begraben ist. Johannes Schmalzl, der Geschäftsführer der IHK Region Stuttgart, der als Ehrenvorsitzender den Landesverband des Volksbundes und gleichzeitig als stellvertretender Vorsitzender das Kuratorium der Akademie repräsentierte, mahnte in seiner Einführung eindringlich ein geschlossenes Eintreten für die Überwindung des Nationalismus und für den hart erkämpften Frieden in Europa an. Dr. Petra Steymans-Kurz, Fachbereichsleiterin Geschichte an der Akademie, führte durch den restlichen Abend.
Professor Jörn Leonhard (Freiburg) veröffentlicht dieser Tage sein neues Buch „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923“. Einige der darin vertretenen Thesen stellte er in seinem Vortrag zur Diskussion. Er konzentrierte sich dabei vor allem auf die Friedensverhandlungen in Paris 1918/19, die sich in mancher Hinsicht von früheren Friedenskonferenzen unterschieden hätten. So seien in Paris erstmals die neu entstandenen Formen der Öffentlichkeit bemerkbar geworden: Die Verhandlungen wurden von tausenden Journalisten aus aller Welt begleitet und seien so zum „globalen Medienmoment“ geworden. Deshalb hätten auch geschichtspolitische Symbole eine besonders große Rolle gespielt. Damit zusammenhängend hätten sich die Verhandlungen auch in einem anderen Punkt von allen vorherigen Friedensverhandlungen unterschieden: Großes Gewicht sei nun auf die moralischen Implikationen von Schuld und Verantwortung gelegt worden; Schuld und Schulden wurden miteinander verknüpft.
Mao Tse-Tung war von Friedensverhandlungen enttäuscht
Leonhard kritisierte, der Blick auf Kriegsende und Nachkrieg konzentriere sich bislang zu häufig nur auf Europa. Schon der Fokus auf den Waffenstillstand vom 11. November 1918 verdecke den Blick auf das Fortleben der Gewalt etwa im Zuge des anschließenden Staatenzerfalls in Südosteuropa oder im Russischen Bürgerkrieg, der weit mehr russische Tote forderte als der vorangegangene Weltkrieg. Rund um den Globus seien zudem bald ganz neue Gewaltzentren entstanden, etwa in Irland, Ägypten oder Indien. Diese Ungleichzeitigkeit des Kriegsendes erschließe sich jedoch erst in der globalen Zusammenschau.
Große Hoffnungen in aller Welt, vor allem in den Kolonien der europäischen Großmächte, befeuerte die Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die am prominentesten von Lenin und vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vertreten wurde; Wilson habe manchem als geradezu messianische Retterfigur gegolten. Am Beispiel Chinas zeigte Leonhard, welche Erwartungen weltweit an die Konferenz gestellt wurden – und wie sehr diese letztendlich enttäuscht wurden. Die Imperien Englands und Frankreichs erreichten nach 1918 sogar noch größere Ausdehnungen als je zuvor. Auch China hatte eine Delegation zu den Friedensverhandlungen nach Paris entsendet; Ziel war unter anderem die Rückgabe der deutschen Kolonien in Shandong. Stattdessen wurden diese – in eklatantem Widerspruch zum nationalen Selbstbestimmungsrecht – der japanischen Besatzungsmacht zugesprochen. Die Enttäuschung darüber führte in der Folge zur zunehmenden Entfremdung von westlichen Idealen. Der Völkerbund wurde als Instrument der westlichen Sieger wahrgenommen; und für den jungen Mao Tse-Tung wurden die russischen Bolschewiki zum neuen Orientierungspunkt.
Angesichts dieser hierzulande noch wenig beachteten Zusammenhänge zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und den globalen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte machte Jörn Leonhard in seinem Schlusswort noch einmal die offene Zukunft des historischen Moments von 1918/19 gegenüber einer angeblichen Determiniertheit der Geschichte deutlich, die die Jahre 1914/1918 im Rückblick bereits als Basis für die Jahre 1933/1939/1945 interpretiere.
Professor Ewald Frie (Tübingen) hatte die laut eigenem Bekunden undankbare Aufgabe übernommen, den Vortrag seines Kollegen zu kommentieren; angesichts der Brillanz von Leonhards Überlegungen müsse jeder Tadel kleinlich erscheinen, sagte er. Er griff noch einmal die Schlüsselbegriffe aus Leonhards Vortrag – Hoffnung, Erwartung, Enttäuschung – auf und betonte, welch eminente Rolle Emotionen in den Friedensverhandlungen gespielt hätten – umso mehr, als die Bevölkerung der beteiligten Nationen die Verhandlungen durch die neuen Medienformen nun auch zeitnah mitverfolgen und öffentlichen Druck ausüben konnten. Frie verwies darauf, wie die Dementierung von Wilsons Verheißungen durch Versailles auch dazu führen konnten, dass Lenins Verheißungen im Gegenzug für viele Enttäuschte umso attraktiver wurden.
Sei 2014 viel über die Verantwortung für den Kriegsausbruch hundert Jahre zuvor diskutiert worden, so biete Leonhards Buch nun die Gelegenheit, eine Debatte darüber zu beginnen, ob die Verantwortung für die geringe Attraktivität liberaler Ideen in der nichtwestlichen Welt bis ins 21. Jahrhundert hinein auch in den enttäuschten Erwartungen von 1918/19 zu suchen sei. Johannes Kuber