Heimat und Zusammengehörigkeit
Afrikanische StipendiatInnen des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes haben in Weingarten über die vielfältigen Aspekte afrikanischer Identitäten diskutiert.
Identität und Kultur sind keine einfachen Begriffe. Es gibt unzählige Definitionen, und viele WissenschaftlerInnen versuchen mittlerweile, die Begriffe entweder mit Spezifikationen zu verwenden („Gruppenidentität“, „Jugendkultur“ etc.) oder möglichst ganz darauf zu verzichten. Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit, ein „sense of belonging“ sind aber, Begriff hin oder her, wichtige Dimensionen von Personsein und des sozialen Miteinanders. Sie schaffen Zugehörigkeit, definieren diese und ziehen damit implizit oder auch explizit Grenzen. Darin – in der Abgrenzung und deren möglichen Mobilisierung zu gewaltsamen Auseinandersetzungen – liegt auch ein großes Problem.
Afrika – der multi-ethische und multi-linguale Kontinent
In Afrika kommt erschwerend dazu, dass die jungen 54 Nationalstaaten in den meisten Fällen Staatsgrenzen aufweisen, die willkürlich durch Kolonialherren gezogen wurden. Nationale Identitäten, wie sie oft von europäischen NationalistInnen vertreten werden und sich auf eine Sprache und eine ethnische Zugehörigkeit beziehen, sind in Afrika und den multi-ethnischen wie multi-lingualen Gesellschaften obsolet.
Fragen nach Identität müssen immer auch ihren Bezugspunkt definieren und festschreibende Essentalismen vermeiden. Dies war ein durchgängiges Thema beim Seminar mit afrikanischen StipendiatInnen des KAAD (Katholischer akademischer Ausländer-Dienst) in Weingarten. Vorbereitet und geleitet wurde das Seminar von Dr. Marko Kuhn und Miriam Rossmerkel für den KAAD und Dr. Heike Wagner für die Akademie der Diözese Rottenburg Stuttgart.
Die Frage nach Identitäten und deren Bedeutung ist für die StipendiatInnen aus Afrika, die derzeit in Deutschland studieren, von besonderer Bedeutung und zwar auf verschiedenen Ebenen – den akademischen wie privaten, den regionalen wie nationalen. Wie sich die verschiedenen Aspekte in konstruktive Übereinstimmung bringen lassen und wie es sich mit afrikanischen Identitäten nicht nur in der Diaspora, sondern auch auf dem Kontinent verhält, war Inhalt der vielfältigen Erörterungen in Weingarten. Aus aktuellem Anlass wurde dem Tigray-Konflikt in Äthiopien besondere Beachtung geschenkt.
Mehrdimensionale Perspektiven auf Kulturen und Identitäten
Begonnen hat das Seminar mit einem Workshop, geleitet von Flavie Singirankabo aus Stuttgart. Sie ist systemischer Coach und eröffnete das Seminar mit den persönlichen Zugängen der einzelnen Teilnehmenden zur Thematik. Dabei wurden bereits die Spannungen zwischen Zuschreibungen und Selbstidentifikationen, die Ideen des Pan-Afrikanismus und auch die Warnung vor Essentialisierungen von Kultur und Identität deutlich.
Am zweiten Tag setzten die Vorträge von Dr. Pradeep Chakkarath (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie der Universität Bochum) und Prof. Dr. Günther Schlee (emeritierter Sozialanthropologe am Max-Plack-Institut in Halle/Saale) das Thema fort. Pradeep Chakkarath thematisierte aus einer psychologischen Perspektive, wie Kulturen Identitäten formen können. Er problematisierte zunächst den Kultur- und Identitätsbegriff und führte Arbeitsdefinitionen dafür ein. Sehr anschaulich und interaktiv zeigte er, wie Stereotypen dabei helfen, andere Menschen zu identifizieren, zu interagieren und dabei aber auch zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen über scheinbar fixe Identitäten werden können. Weltsichten können wichtige Quellen der Narrative von Identität sein, wodurch es auch möglich ist, kulturell bedingte, unterschiedliche Formen von Selbstverständnis und anderen Identitätsformungen im Großen zu unterscheiden. Kulturen haben Einfluss auf die Vorstellungen und Erfahrungen des eigenen Selbst; diese sind aber nicht als statisch zu betrachten.
Günther Schlee erörterte anschließend unter einer kultur- und sozialanthropologischen Perspektive die Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Zusammenhalt in Afrika, ganz besonders in Äthiopien und Kenia. Er führte die anfangs genannten Aspekte zu Kultur und Identität an konkreten Beispielen aus Afrika aus und verdeutlichte, wie Identitätsfragen immer situational und im Kontext zu betrachten sind. In Äthiopien zeigt sich derzeit deutlich, wie bestimmte ethnische Zugehörigkeiten negativ bewertet werden und wie sich dies in nationalen Politiken auswirkt: Ethnischen Gruppen, welche als „rückständig“ bewertet und als den nationalen Fortschrittsprojekten entgegenstehend betrachtet werden, werden bestehende Rechte verweigert. Wie Professor Schlee erklärte: „If your group is classified as backward, then your ethnicity is not associated with any entitlement to resources and does not have a voice in politics.“ Es geht daher auch um verschiedene Machtpositionen, um Zuschreibungen und Bewertungen von Lebensstilen ethnischer Gruppen und deren kulturellen Praktiken inklusive der Landnutzung. Ethnische Grenzen sind dabei direkt mit Ressourcen, mit Landfragen verbunden. Diese Problematik ist jedoch nicht nur eine afrikanische Frage, auch ein Blick in die gewaltsame Geschichte der Nationalstaaten in Europa zeigt dies sehr deutlich.
Arbeit mit konkreten Beispielen und eigenen Erfahrungen
Am Beispiel Kenia erörterte Professor Schlee, wie ethnische Zugehörigkeiten das Wahlverhalten prägen und Gewählte sich den „eigenen Leuten“ verpflichtet fühlen ganz nach dem Motto: Wie soll ein Politiker für ein ganzes Land nützlich sein, wenn er nicht einmal seinen eigenen Leuten helfen kann?
Abgerundet wurde das Thema durch Vorträge der Teilnehmenden über Identitäten und Identitätspolitik in ihren jeweiligen Herkunftsländern Kenia, Tansania, Uganda, Äthiopien, Nigeria, Gambia, Ghana und Simbabwe. Aspekte wie Sprache und Dialekt, aber auch Essen, Kleidung und Traditionen wurden bezüglich ihrer Bedeutung für die jeweilige Identitätsbildung besprochen und es wurde zum Beispiel deutlich, dass Vielsprachigkeit in Afrika ganz normal ist. In Nigeria leben beispielsweise über 400 ethnische Gruppen, und es werden über 400 Dialekte und Sprachen gesprochen. Viele NigerianerInnen sprechen mehrere Sprachen, so wie dies auch in anderen afrikanischen Ländern der Fall ist.
Gegenstand der Debatte war, welche Bedeutung die verschiedenen Aspekte für das eigene Wohlbefinden haben, während gleichzeitig von vielen Teilnehmenden betont wurde, dass Zugehörigkeiten und Selbst-Identifikationen fließend sind und sich verändern. Mehrere Vortragende zeigten dies auch an den eigenen Biographien, zum Beispiel mit ihren Fluchterfahrungen innerhalb der eigenen Länder, auf. Betont wurde daher mehrfach, wie situationsabhängig Identitätsbildung ist und wie eine nationale oder eine „afrikanische Identität“ gerade auch in einer „Diaspora“-Situation, in der sich die Studierenden derzeit befinden, sich immer wieder neu und auch unterschiedlich ausbildet. Ein weiteres spezielles Augenmerk wurde folglich auch auf regionale Integrationsprozesse in Afrika und auf die pan-afrikanische Idee gelegt mit der Suche nach einer lingua franca in verschiedenen Regionen des Kontinents.
Ergebnissicherung und Exkursion zum Abschluss
Die Vorträge der Studierenden gaben Anlass zu sehr lebendigen Diskussionen und vielfältigen Lern- und Erkenntnisprozessen, weshalb der Wunsch der Teilnehmenden, eine Publikation aus den verschiedenen Seminar-Beiträgen zu gestalten, vom KAAD aufgenommen wurde und nun realisiert wird.
Das Seminar klang mit einem Ausflug an den Bodensee – einer ganz besonderen Region mit dem Zusammenfließen dreier Länder – mit einem Einblick in das Leben und Wirtschaften dieser Gegend aus. Den Abschluss bildeten der Besuch und die Gelegenheit zum gemeinsamen Gottesdienst in der barocken Wallfahrtskirche St. Maria (Basilika) auf der Birnau am Bodensee.
(Dr. Heike Wagner / Akademie
Miriam Roßmerkel, Dr. Marko Kuhn / KAAD)