Gleiche Bedürfnisse, viel mehr Probleme
Menschen mit Behinderung haben das gleiche Recht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen wie Menschen ohne Behinderung. Doch im Alltag müssen die Betroffenen vielfältige Hindernisse überwinden.
„Nichts über uns ohne uns“ – diese unmissverständliche Forderung des Landesverbandes von Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg gilt ganz besonders auch für das Thema „Liebe, Partnerschaft, Familie und Sexualität für Menschen mit schwerer Behinderung“, das im Mittelpunkt der diesjährigen gemeinsamen Akademie-Tagung im Tagungszentrum Hohenheim stand. Rasch wurde dabei deutlich, dass dieses eigentlich höchst private Thema noch immer in mehrfacher Hinsicht schwierig ist, weil Menschen mit Behinderung ihre Sexualität – wie immer sie auch ausgeprägt ist – oft nur schwer oder gar nicht ausleben können. Dabei stellt der Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention fest, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen und dass ihnen dazu die notwendigen Mittel zugestanden werden müssen. Sie haben zudem das Recht auf Privatsphäre und das Recht, ihre Fruchtbarkeit zu erhalten. Angesichts von rund 400 000 Zwangssterilisierten in der Nazi-Zeit ist dies gerade in Deutschland ein wichtiger Punkt.
Es fehlt vielfach an Wissen und Erfahrung bei Ärzten und Betreuern
Doch die Rechte auf dem Papier sind das eine, die Lebenswirklichkeit sieht oft anders aus. Das belegten die ersten 100 ausgewerteten Fragebögen einer Studie von Dr. med. Lotte Habermann-Horstmeier, der Leiterin des Villingen Institute of Public Health (VIPH) der Steinbeis+Akademie der Steinbeis-Hochschule Berlin. Gefragt wurde bei der diesen Mai begonnenen Studie nach der Geschlechtlichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung in Einrichtungen aus der Sicht der BetreuerInnen. Nur acht Prozent der BetreuerInnen sprechen demnach regelmäßig mit den behinderten Menschen und ihren Angehörigen über Fragen von Liebe, Partnerschaft und Sexualität; die meisten reden nur bei Bedarf über diese Themen. Dabei sind diese Fragen durchaus relevant. 76 Prozent der Befragten sagen, dass es feste Partnerschaften in ihren Einrichtungen gibt, 65 Prozent schildern wechselnde Partnerschaften. Aber nach Angaben der BetreuerInnen haben die meisten behinderten Menschen keinen Partner und keine Partnerin; 84 Prozent der befragten Betreuungskräfte geben an, dass sich unter den von ihnen betreuten Menschen mit geistiger Behinderung Personen befinden, die einsam sind, weil sie keinen Partner haben. 83 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass eine Ehe auch für Menschen mit geistiger Behinderung möglich sein sollte. 35 Prozent meinen, dass Menschen mit geistiger Behinderung auch Kinder haben sollen, sofern sie das möchten.
Auffällig ist aber, dass das Wissen über Fruchtbarkeit und Schwangerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung zu wünschen übrig lässt. So sagen 86 Prozent der BetreuerInnen, dass alle oder einige der von ihnen betreuten Frauen mit geistiger Behinderung Verhütungsmittel nehmen, darunter sind freilich auch solche, die sexuell überhaupt nicht aktiv sind. Schwierig bei Frauen mit geistiger Behinderung sind häufig auch Menstruation und gynäkologische Untersuchungen; sei es weil die Betroffenen sich ängstigen, sei es, weil die Praxen und ÄrztInnen nicht genügend erfahren genug sind, um mit dieser Klientel richtig umzugehen. Ebenfalls stark problembehaftet: das Thema Sexualität und Gewalt. 71 Prozent der Befragten gaben an, dass es Fälle sexualisierter Gewalt in ihrem Umfeld schon gegeben habe, in 58 Prozent der Fälle sei diese von Mitbewohnern ausgegangen, in 20 Prozent der Fälle seien es Verwandte und Familienangehörige gewesen.
Wenig Kontakte und nie ganz privat
Maria-Christine Hallwachs und Pierre Mayer, beide in Stuttgart lebend und mit dem Rollstuhl unterwegs, berichteten im Gespräch mit Jutta Pagel-Steidl, der Geschäftsführerin des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung über die alltäglichen Probleme beim Thema Liebe und Sexualität. „Wenn ich mit einer Frau ins Bett will, muss immer jemand dabei sein und mir helfen“, sagte Pierre Mayer, „eine Partnerin muss viele Abstriche machen,“ sagte Pierre Mayer. Doch nicht nur deshalb sei es sehr schwierig, überhaupt eine Partnerin zu finden, so Mayer. Als behinderter Mann entspreche man den Erwartungen nicht. Deshalb bleibe oft nur die Möglichkeit, eine Sexualbegleiterin zu buchen oder ins Rotlichtmilieu zu gehen. „Da weiß ich zwar, worauf ich mich beim bezahlten Sex einlasse, aber es fehlt halt was.“ Zudem dürfe er sich auf keinen Fall in eine Betreuerin verlieben, weil dies massive unerwünschte Probleme nach sich ziehe bis zum Arbeitsplatzwechsel. Maria-Christine Hallwachs beschrieb als Problem, dass man sich bei der Pflege berühren lassen müsse, ob man wolle oder nicht. Sie riet deshalb, offen darüber zu sprechen, dann könne man auch Stopp sagen. Sie riet dazu, sich von Rollenklischees zu verabschieden, wichtig sei „wir haben die gleichen Wünsche und Bedürfnisse wie Menschen ohne Behinderung und das sollte endlich selbstverständlich sein.“
Jessica Phillipps aus Leinfelden hat die Bedürfnisse der behinderten Menschen zu ihrem Beruf gemacht: Sie nennt sich „Berührerin“ und arbeitet als Sexualbegleiterin. Die Grenzen in diesem Bereich zur Prostitution seien fließend, räumte sie ein. Sie biete alle Handlungen an, um das Recht auf Sexualität zu verwirklichen, aber keinen Geschlechtsverkehr. Es gehe vielmehr darum, Bedingungen zu schaffen, damit Sexualität stattfinden könne. Sie biete eine „Surrogatpartnerschaft“ auf Augenhöhe und mit einer emotionalen Ebene, anders ausgedrückt: „Hilfe zu Selbsthilfe“. Bei bestimmten Behinderungen sei aber dauerhaft Hilfe nötig. Gebucht würde man nicht für bestimmte Leistungen, sondern ausschließlich für ein bestimmtes Zeitfenster.
Ungleiche Machtverhältnisse begünstigen Missbrauch
Die Professorin Dr. Julia Gebrande von der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen kritisierte beim Thema „Schutz vor Missbrauch: mein Körper gehört mir“, dass die Menschen mit Behinderungen noch immer viel zu stark unter dem Fokus Beeinträchtigung und Defizit betrachtet werden. Doch eine Behinderung sei nur ein zusätzliches Merkmal eines Menschen, sagte die selber mit einer Körperbehinderung geborene Sozialwissenschaftlerin. Allerdings gebe es fast doppelt bis dreifach so viele Übergriffe auf Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung wie auf nicht behinderte. Dieser Personenkreis habe eine erhöhte Verletzlichkeit durch die gesellschaftliche Zuschreibung und weil es strukturelle Merkmale gibt – etwa bei der Pflege – in der dieser Personenkreis weniger selbstbestimmt agieren könne. Sie hätten auch ein erhöhtes Risiko, weil das Leben in Einrichtungen ungleiche Machtverhältnisse bedeute; Betroffene seien häufiger auf Hilfe angewiesen und zudem einer „starken Übermacht an ExpertInnen“ ausgeliefert. Nicht zuletzt stelle auch ungelebte Sexualität ein Risiko dar.
Schließlich machte die Esslinger Inklusionsbeauftragte Danielle Gehr deutlich, dass es unter den Menschen mit Behinderung ebenso fünf bis zehn Prozent LSBTTIQ-Menschen gebe wie bei den nicht behinderten Menschen. Das Kürzel LSBTTIQ steht dabei für: lesbisch, schwul, bisexuell, Transgender, transsexuell, Inter und queer. Darüber zu sprechen sei besonders wichtig bei jungen Menschen, ihren Sorgeberechtigten und den sozial Arbeitenden. Es müsse aber so mit den Betroffenen gesprochen werden, dass sie es auch verstehen. Im übrigen hatte Gehr nur einen Rat: Auch diese Formen der Sexualität sollten als „normaler Lebensentwurf akzeptiert werden ohne blöden Sprüche. Oder: Einfach anders und gut. Da muss nichts geheilt werden.“
Die Foren am Nachmittag boten Gelegenheit; die angesprochenen Themen zu vertiefen, Fragen zu stellen und zu diskutieren: über Sexualität und Behinderung, Kinderwunsch und Elternschaft im Hinblick auf begleitete Elternschaft und ambulante Elternassistenz sowie Schutz und Prävention vor sexualisierter Gewalt und Missbrauch von Menschen mit Behinderung.
Ein großartiger Auftritt von „Rollin‘ Love“ aus Weingarten rundete die Tagung ab. Zwei Schüler des Geschwister-Scholl-Schule der Stiftung Körperbehindertenzentrum Oberschwaben fragten: „Darf man Witze über Menschen im Rollstuhl machen?“ – Klar, wenn man Witze über Menschen machen darf, dann auch über Menschen mit Behinderung. Nur gut sollten sie sein und mit Humor vorgetragen werden. Und dass Stand-up-Comedy auch im Rollstuhl geht, belegten sie im folgenden Programm mithilfe jeweils eines Translators eindrücklich. Es gab viel Beifall!
(Barbara Thurner-Fromm, Thomas König)