Frühlingserwachen und Ostern

Da Sie die großartigen motivierenden Werke unserer Ausstellung "Kunst ist Lebensbereicherung" derzeit nicht vor Ort betrachten können, kommen wir zu Ihnen. Heute mit Bernhard Widmann.

Endlich! Endlich ist er da: Der Frühling! In diesen pandemischen Zeiten sind die kleinen Lichtblicke die großen Heilsboten. Diese in der Krise entstandene Demut schadet uns allen nicht – Negatives hat auch positive Seiten. Es ist eine siebenteilige Bildreihe mit Apfelblühten als Bildsujet, welches das letzte Werk der Woche und somit die Beendigung dieser neunwöchigen Artikel-Serie, bildet. Denn die Ausstellung „Kunst ist Lebensbereicherung. Künstler, die in der Akademie gezeigt wurden, leihen selbstausgewählte Werke für diese Ausstellung aus“ geht am Ostermontag zu Ende.

Der Stuttgarter Künstler Bernhard Widmann nimmt hauptsächlich Naturobjekte in den Fokus und arbeitet mit ihnen vorrangig fotografisch in Werkreihen. Dazu gehören blühende Apfelbäume unterschiedlicher Sorten, die nebeneinander aufgehängt wie ein Obstgarten wirken. In der Menge kann die Einzelsorte höchstens vom Fachmann ‚gelesen‘ werden. Eine Halballee mit untergehender Sonne gehört gleichfalls dazu, sie ist zeitglich in Weingarten ausgestellt. Eine Individualisierung des singulären Baumes ist im Halbdunkel kaum und im Gegenlicht gar nicht möglich. Aber nicht das individuell ausgeprägte Einzelobjekt ist für Widmann entscheidend, sondern die Phänomenologie der Reihung als Gesamtkomplex, in der im Direktvergleich sogar lapidare Unterschiede wie Größe, Laubdichte, Stammdicke sichtbar werden.

Seine siebenteilige Arbeit … Eva kommt später … (2002, FUJI Archival Paper, jeweils 65 x 40 cm, Auflage 5 + 2 e.a.) hängt im hinteren Foyer des Tagungszentrums Hohenheim. Der Zyklus zeigt eine sich entwickelnde Apfelblüte vor schwarzem Samthintergrund. Beim Abschreiten der Einzelbilder ist er selbsterklärend. Zur Entstehung der Werkidee schreibt der Künstler: „Die Serie entstand eigentlich zufällig: Ich sah im Garten die aufkeimende Apfelblüte mit der intensiven Rotfärbung. Ich brach eine ab und legte sie auf den Scanner. Weil ich eine Bildsammlung von Blüten u.a. begonnen hatte, dachte ich, schöne Ergänzung.“ Dieses ‚Zufalls-Produkt‘ entwickelte sich unter dem Scanner weiter, trieb zur Blütenentfaltung aus, bis am siebten Tag die Verwelkung – wahrscheinlich aus Wassermangel – einsetzte. Resümierend hielt Widmann fest: „Das erstaunliche ist aber, dass die Blüte, einmal gestartet, sich auch im Dunklen weiterentwickelt – das Tuch ließ ich die ganze Woche unberührt darauf liegen – ein Symbol für die unglaubliche Lebenskraft der Natur.“ Die siebentägige Entwicklung einer Apfelblüte, brachte den Künstler dazu, symbolisch eine gedankliche Parallele zur biblischen Schöpfungsgeschichte zu assoziieren. Während in der priesterlichen Schrift der Genesis von täglichen einzelnen Naturschöpfungen berichtet wird, nimmt sich Widmann die künstlerische Freiheit, die Entwicklung eines Natur-Phänomens in Verbindung mit den mythologisch-exegetischen Erzählungen zu bringen. Da es sich um eine Apfelblüte handelt, ist der Titel „… Eva kommt später …“ nur folgerichtig, naheliegend und zudem noch humorvoll. Diese theoretischen Assoziationsketten zeugen von der tiefen Verankerung biblischer Erzählungen in der Kunstgeschichte und der Kunstszene. Neben der künstlerischen Freiheit, wirken interpretatorische Gedankengänge. In diesem Werkverlauf ist neben der „unglaublichen Kraft der Natur“ – wie Widmann es treffend bezeichnet – auch der Lebenskreislauf ersichtlich. Von der Knospe, über das Aufblühen bis zum Verwelken ist der Naturrhythmus beinhaltet. Das Osterfest, welches in wenigen Tagen gefeiert wird, kann gleichfalls mit diesem, den biologischen Prozess verdeutlichenden, Kunstwerkzyklus in Verbindung gebracht werden. Leben entsteht und vergeht, ein natürlicher Kreislauf. Daran knüpft die christliche Heilsbotschaft an, indem sie besagt, nach dem Tod folgt die Auferstehung. Der Tod als irdisches Ende wird bezwungen. Dieses Auferstehungsprinzip passt, wenn man die Widmann‘sche Motivik gedanklich, prozesshaft erweitert zum Endprodukt der Frucht. Die Apfelblüte verwelkt, um einem Fruchtansatz mit späterer Frucht zu weichen.

Nahrungsmittel sind nicht gleich Nahrungsmittel verdeutlicht Bernhard Widmann in einer anderen Werkgruppe. Auf dem Porträtfoto sehen wir ihn während einer aktuellen Ausstellung Corona-gerecht mit Mund-Nasen-Schutz zwischen seinen Fotografien stehen. In den 90er-Jahren ließ sich der Künstler Obst und Gemüse vom Handel schenken, welches nicht der Norm entsprach, aus diesem Grund ausgesondert wurden, um anschließend weggeworfen zu werden. Statt auf Abfallbergen zu vergammeln, separierte Widmann diese gesunden Nahrungsobjekte und erhöhte sie jeweils zum fotografischen Porträt. Gerade vor schwarzem Hintergrund verstärkt sich die formale Individualität des Objektes. Zwei Obstporträts von Apfel und Birne, die auf einem Sockel aufliegend von Justus Juncker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gemalt wurden und sich Städelmuseum Frankfurt befinden, sind damit vergleichbar. Während Juncker hauptsächlich die Vergänglichkeit thematisieren wollte, geht es dem Stuttgarter Fotografen, um Sinn und Unsinn von politisch eingeführten Lebensmittelgesetzen. Gerade die abnormen Verwachsungen auf den Widmann’schen Arbeiten sind es, die die Werkgruppe so anziehend macht. Zudem sagt die Form nichts über die Lebensmittelqualität aus. Um das Paradoxon noch zu steigern, betitelte Bernhard Widmann seine gesamte Bildserie mit: GOOD FOOD. Ein Hoch auf die Natur. Gegenwärtig besinnt sich der Lebensmittelhandel und verkauft auch Obst und Gemüse, die nicht der Normierung entsprechen. Somit sind es wir die Verbraucher, die es in der Hand haben und darüber entscheiden, welche Lebensmittel uns wichtig sind, die natürlich-freiheitlich gewachsenen oder die menschlich-normierten, weil aussortierten. Diese Fotos sind auf die demokratische Gesellschaft transformierbar: Wollen wir nicht alle unsere menschliche Freiheit ausüben dürfen, statt einer uniformierten Norm entsprechen zu müssen?

Ilonka Czerny

 

Dieser Artikel ist Bestandteil unserer Reihe "Das Werk der Woche":

 

Bernhard Widmann: "… Eva kommt später …" hängt im hinteren Foyer des Tagungszentrums Hohenheim.

Die aufkeimende Apfelblüte mit der intensiven Rotfärbung am ersten Tag auf dem Scanner.

Tag Sieben: auch im Dunklen unter dem Tuch auf dem Scanner entwickelte sich die Blüte weiter - ein Symbol für die unglaubliche Lebenskraft der Natur.

Bernhard Widmann in seiner aktuellen Ausstellung "GOOD FOOD" in der er verdeutlicht: Nahrungsmittel sind nicht gleich Nahrungsmittel.