Festgefressen – oder doch nicht?

Zehn Jahre ist Papst Franziskus nun im Amt. Wie hat er, wie hat sich die Kirche verändert? Ein „Nachgefragt“ mit dem Tübinger Theologen Peter Hünermann.

Von Paul Kreiner

Am 13. März 2013, einem heftig verregneten Abend, wurde Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. Der damalige Kardinal und Erzbischof von Buenos Aires trat als ein ganz Neuer auf: Er legte sich einen Papstnamen bei – Franziskus –, den vor ihm keiner getragen hatte. Er wollte und will bis heute nicht im „Apostolischen Palast“ wohnen, sondern zieht eine kleine Hotel-Suite vor. Er ist der erste Südamerikaner in diesem Amt; „vom Ende der Welt“ sei er gekommen, sagte er auf der Loggia des Petersdoms, und im Konklave zuvor hatte er die Kardinäle mitgerissen mit seinem Appell, die Kirche müsse „hinausgehen an die Peripherien der Welt.“ Jesus klopfe an die Kirche an, sagte Bergoglio damals: „Aber vielleicht tut er das heute ja von innen.“  

Franziskus ist der erste Jesuit im Papstamt. Er stammt aus einer Migranten-Familie und war ein Fremder auch in der römischen Kurie. Alte Studienfreunde oder gar Seilschaften, die ihm halfen, hatte er nicht. Nach Rom kam er unmittelbar aus der Seelsorge in einer quirligen Millionenstadt, nicht aus der Bücherwelt und der theologischen Studierstube wie sein Vorgänger. Franziskus weckte durch sein unkompliziertes Auftreten – er kann Leute so herzlich umarmen wie noch kein Papst seit Menschengedanken – und durch unerhörte Äußerungen – etwa: „Wenn ein Homosexueller Gott sucht, wer bin ich, dass ich über ihn richte?“ – viele Hoffnungen auf Reformen in der katholischen Kirche. Und gerade sein erstes Rundschreiben, Evangelii Gaudium, wenige Monate nach seiner Wahl, war eine Programmschrift für eine neue, menschenzugewandte, barmherzige, dezentrale Kirche.

Jetzt aber, zehn Jahre später, scheint Ernüchterung eingekehrt, Enttäuschung auch. Oder war alles von Anfang an ein Missverständnis? Der Tübinger Theologe Peter Hünermann meint: Sehr viele Vorhaben dieses Papstes hätten sich „im Apparat festgefressen.“ Die nötige Großreform der katholischen Kirche, und das „bei laufendem System“, sei für einen allein gar nicht zu stemmen, vor allem, wenn dieser eine auch schon 86 Jahre alt sei. Aber Franziskus habe Grundlagen gelegt, hinter die seine Nachfolger nicht mehr zurückkönnten. Hat Franziskus also das Erdreich aufgebrochen, und andere müssen dann säen? „Ja, ganz sicher. Wir stehen in einem solchen Umbruch…“

Peter Hünermann ist fast 94 Jahre alt, aber als Theologe immer noch weltweit unterwegs – unter anderem zur Fertigstellung eines zwölfbändigen „interkontinentalen und interkulturellen Kommentars“ zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Das ist praktisch eine global angelegte Gesamtkirchengeschichte im Lichte des Reformkonzils (1962-65), und zumindest für die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Nun war Hünermann zu Gast in der Akademie, um zehn Jahre nach Bergoglios Wahl eine (Zwischen-)Bilanz zu ziehen. Er sagt, Bergoglio habe im Jahr 2013 die sechs Wochen des Vorkonklaves in Rom „ganz zielbewusst“ für Vorträge und Besprechungen (auch unter den Kardinälen) genutzt, „um zu reflektieren, was die Kirche nötig hat, weil er deren Lage als höchst prekär ansah.“ Und so überraschend, wie Bergoglios Wahl für die Allgemeinheit erschien, war sie für Hünermann schon damals nicht. Die beiden kannten sich; Bergoglio persönlich hatte Hünermann einen Ehrendoktortitel der Katholischen Universität von Buenos Aires verliehen – just in dem Jahr 2005, als Ratzinger Papst wurde und Bergoglio im Konklave auf den zweiten Platz gekommen war.

Hünermann sagt, erst in Rom sei dem Argentinier klar geworden, dass er den Kardinälen nicht so einfach den Kopf waschen konnte, wie er das anfänglich auch getan hatte, sondern dass er mit ihnen weiterarbeiten musste: „Er kannte die Kurie überhaupt nicht, er hatte ein unheimliches Lernpensum vor sich.“ Und die Kurie konnte Franziskus auch nicht mit der Kurie reformieren: „Das ist zuvor schon zwei-, dreimal schiefgegangen. Da wurden Dokumente vom Papst-Schreibtisch gestohlen, und dann die Geldwäsche…“ Deshalb gründete Franziskus einen Reform-Rat von Kardinälen an der Kurie vorbei, und noch zuvor vergab er einen Auftrag an die Internationale Theologische Kommission, über deren Besetzung er als Papst freier verfügen konnte als über die Posten der Kurienkardinäle, die er „geerbt“ hatte. Die Kommission sollte für Franziskus' Vorhaben die theologischen Grundlagen herausarbeiten vor allem zum Sensus fidei, dem Glaubenssinn des ganzen Gottesvolks, sowie zum Thema „Synodalität in Sendung und Leben der Kirche."

Hünermann sagt, Franziskus habe seither „eine Art drittes Vatikanisches Konzil vorbereitet“, aber auf neue Art, weil man heute allein wegen der stark gewachsenen Zahl der Teilnehmer – 5000 Orts- und Weihbischöfe auf der Welt – „ein solches Konzil gar nicht mehr durchführen kann." Deshalb habe Franziskus der Bischofssynode „ein neues Gesicht gegeben“, weil ihm das alte „zu eng“ gewesen sei, und dann im zweiten Schritt (für die nun drei Jahre lang laufende „Weltsynode über die Synodalität“) die Gläubigen auf der ganzen Welt über ihr Verhältnis zur und ihre Kritik an der Kirche befragt. Der Papst, der aus den Begegnungen mit den Kardinälen im Vorkonklave den Auftrag mitgenommen hat, er solle die Kirche reformieren, habe nun auch eine ungefilterte „Übersicht, wie sich das Volk Gottes zu den Fragen des Glaubens äußert. Da sind die Bischöfe konfrontiert mit einem Zeugnis, das das Volk Gottes repräsentiert; dahinter können sie nicht mehr zurück.“ Und diese Reform beziehe „das ganze Papsttum und die Kurie mit ein.“

Aber wie ernst meint es Franziskus in der Praxis mit der „Synodalität“? Die Deutschen hat er ja auf ihrem „Synodalen Weg“ gebremst, während eine nicht unähnliche Versammlung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz im Herbst 2021 durchaus vergleichbare Forderungen stellen durfte – neue Struktur des kirchlichen Amtes, weniger Machtgefälle, Aufwertung der Frauen, Entscheidungs-, und nicht nur Beratungsbefugnisse für Laien –, ohne von Rom gerüffelt zu werden? Hünermann antwortet, das liege daran, dass die Deutschen „seit der Reformation als Besserwisser verschrieen“ seien. Die Beschwerden von Gläubigen an die Kirche und die Reformwünsche seien aber in der ganzen Welt ähnlich, und das liege nun für alle sichtbar auf dem Tisch. Man könne gleichwohl kontinental und kulturell verschiedene Lösungen anstreben, etwa die Weihe von verheirateten Männern zu Priestern in Südamerika (wie es ja von der Amazonas-Synode gefordert, vom Papst aber zunächst abgelehnt worden ist), aber vielleicht nicht in Europa, wo eine ganz andere kulturelle Situation herrsche und die Forderung nach der Weihe solcher „viri probati“ – in den Augen von Papst Franziskus – lediglich als Hebel für ganz andere Reformwünsche eingesetzt werde. Aber letztlich „hängt die Krise nicht an Einzelentscheidungen“, sagt Hünermann.

Was für ihn selbst die brennendsten Themen in der Kirche seien, wird Hünermann aus dem Publikum gefragt? Die Stellung der Frau, antwortet er: „Da ist eine Neubestimmung des Amtes nötig. Beim Synodalen Weg habe ich dazu nur ein Sammelsurium gefunden ohne Idee, wie das universal durchgetragen werden könnte. Da muss noch mehr Gehirnschmalz eingesetzt werden.“ Und dann: die Aufarbeitung des Missbrauchs. „Das ist in der Kirche ja kaum erst angelaufen.“ In Afrika und Asien beispielweise gebe es eine „erhebliche Differenz bei der Reflexion dieser Strukturprobleme; das erfordert noch ziemlich viel Arbeit.“

Und es fehlt nach Hünermanns Erfahrung auch viel professionelle Kapazität in der Kirche, einen Wechsel zu managen. Da ist ja nicht nur die stark gewachsene kirchenpolitische Opposition gegen Franziskus, da sind nicht nur die „selbstbewussten“ Kardinäle, die sich „das Maul nicht verbieten lassen“, da fehlt es an Theologie, an Wissen und schlicht an Fähigkeiten zur Moderation. Beispiel: die nun schon zweite von Franziskus eingesetzte und gescheiterte Studienkommission über die Diakoninnen-Weihe von Frauen. „Das Gros der Ernannten hatte keine Ahnung von historischen Befunden, auch der italienische Kardinal und Kommissionspräsident wusste kirchenhistorisch nichts.“ Dann sei ein einzelner Geistlicher gekommen, „der behauptet hat, so eine Weihe sei ausgeschlossen.“ Dieser Priester habe die Regeln der Kommission – dass über einzelne Sachfragen jeweils eine Frau und ein Mann gemeinsam beraten sollten – über den Haufen geworfen, und der Präsident mit ihm. „Der hat gesagt, wenn das nicht geht, dann müssen wir das halt so schreiben.“ Minderheitsvoten – wie von der deutschen Theologin Barbara Hallensleben als  Kommissionsmitglied beantragt – wurden dann auch nicht mehr zugelassen. Wieder eine Idee von Papst Franziskus, aus der nichts hat werden können.

 

Die Video-Aufzeichnung der Veranstaltung vom 14. Februar 2023 finden Sie hier.

 

Über Peter Hünermann:

https://www.katholisch.de/artikel/20939-peter-huenermann-dogmensammler-und-konzils-kommentator

https://www.katholisch.de/artikel/20936-huenermann-mein-brief-wurde-als-attacke-auf-das-papsttum-gedeutet