Europäische Solidarität wäre nötig

Die Corona-Pandemie hat in Europa zu nationalen Abschottungsreflexen geführt. Damit wird eine Chance vertan. Erfolgreicher wäre mehr Kooperation. Von Constantin Hruschka

Dieser Artikel ist der vierte Teil der Reihe Menschenrechte und Krise:

> Teil 1: "Das Gebot: Solidarität und Wachsamkeit"

> Teil 2: "Der fast vergessene Ausnahmezustand"

> Teil 3: "Die Schande Europas"

> Teil 4: "Europäische Solidarität wäre nötig"

> Teil 5: "Endlich Solidarität beim Asylrecht?"

> Teil 6: "Die Lektionen gelernt?"

 

Die europäischen Regierungen sind mit der Aufgabe, Wege zur Eindämmung des Virus zu finden, augenscheinlich überfordert. Die Reflexe nach den Meldungen aus China und den Bildern aus Italien und Spanien scheinen sehr uniform in eine Richtung zu gehen – in die Richtung nationaler Lösungen. Jede Regierung für sich und in Deutschland natürlich auch – einige Bundesländer für sich und im Wettbewerb. Wettbewerb muss dabei nichts Schlechtes sein, wenn er nicht durch einen Überbietungswettbewerb hinsichtlich der Schärfe der Sanktionen und Einschränkungen gekennzeichnet ist.

Jede Einschränkung muss in diesen Tagen mehrere Fragen beantworten können. Insbesondere relevant sind die Fragen zu beantworten, ob sie

1) aus wissenschaftlicher Sicht (mit den aktuell noch beschränkten Kenntnissen) sinnvoll für die Pandemieeindämmung ist,
2) der Bevölkerung vermittelbar und dadurch auch mit möglichst wenig Zwang durchsetzbar ist,
3) demokratisch legitimiert und rechtstaatlich (also insbesondere mit den Grundrechten vereinbar) ist.

Mit Grundrechten ist in diesem Kontext nicht nur die Bewegungsfreiheit gemeint, sondern auch die Wirtschaftsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, und Vieles mehr. Es ist aber auch klar, dass die Fragen miteinander verknüpft sind, und die Vermittlung manchmal sehr schwer ist. Warum zum Beispiel sollten wir nicht annehmen, dass Grenzkontrollen hilfreich sind bei der Erreichung des Ziels, die Pandemie einzudämmen und zu beenden? Die Problematik dabei ist, dass die Reflexe der Abschottung oft stärker und besser vermittelbar sind, als sinnvolle auf den Gesundheitsschutz fokussierte Maßnahmen.

Dabei zeigt das Europäische Recht im Hinblick auf Bewegungseinschränkungen im Dienste der öffentlichen Gesundheit den Weg eigentlich bereits jetzt auf. Statt auf selektiv wirkende Grenzkontrollen zu setzen, die bestimmte Personen (beispielsweise eigene Staatsangehörige) nicht an der Einreise hindern können, auch wenn sie infiziert sind, sollten die Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit von Fragen der öffentlichen Gesundheit getrennt werden, da letztere einer anderen Logik folgen (sollten). Sowohl bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmenden (Art. 45 ff. AEUV) als auch bei der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) ist es möglich, aus Gründen der „öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ Einschränkungen vorzusehen (vgl. Art. 45 Abs. 3 und Art. 52 Abs. 2 AEUV). Genau diese Freizügigkeitsbeschränkungen sind der richtige Anknüpfungspunkt, denn hier kann die Freizügigkeit aller am Wirtschaftsprozess teilnehmenden Personen, anknüpfend an den notwendigen Gesundheitsschutz, beschränkt werden und nicht nur für eine Untergruppe, die kein Einreiserecht hat. Es wäre also sinnvoll, sich nicht auf das Abhalten von Einreisen generell, sondern auf die Unterbindung der Bewegungsfreiheit infizierter Personen zu fokussieren.

Viruseindämmung europäisch gedacht

Die EU-Kommission selbst hat nunmehr erkannt, dass sie die Chance auf europäische Kooperation und Koordination vorerst verpasst hat und sucht gleichzeitig nach einer tragenden Rolle bei der Eindämmung des Virus. Ob die angekündigte Unterstützung finanzieller Natur (Art. 107 Abs. 2 b AEUV), die finanzielle Beihilfen zur Beseitigung von Schäden bei Katastrophen ermöglicht, ausreicht, um ein positives Europa-Bild zu erzeugen, ist mehr als fraglich.

Die EU-Kommission schlägt in ihren „Leitlinien für Grenzmanagementmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von Waren und wesentlichen Dienstleistungen“ vom 16. März 2020 einen koordinierten Ansatz unter Erhalt des Binnenmarktes mit möglichst wenig Grenzkontrollen an den Binnengrenzen vor. Sehr deutlich weist die EU-Kommission darauf hin, dass das Ziel des öffentlichen Gesundheitsschutzes ohne die formale Wiedereinführung von Grenzkontrollen erreicht werden kann (Nr. 20 der Leitlinien).

Nationale Alleingänge gefährden in dieser Situation die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit sowie die öffentliche Gesundheit viel mehr als eine koordinierte europäische Antwort. Die EU-Kommission betont, dass die Binnengrenzen durchlässig bleiben müssen, um die Versorgung insbesondere im Gesundheits- und Ernährungsbereich aufrechtzuerhalten und um ganz generell die Arbeitswelt nicht völlig zum Erliegen zu bringen (Nr. 23). Deutlich wird durch die Leitlinien vor allem, dass die jetzt geplanten und durchgeführten Binnengrenzkontrollen für eine effektive Virusbekämpfung ungeeignet sind.

Die Pandemie böte eine große Chance zu zeigen, wie wichtig und sinnvoll die europäische Solidarität ist. Der EuGH hat im Zuge der sogenannten Migrationskrise immer darauf hingewiesen, dass die Solidarität nach Art. 80 AEUV in Krisensituationen zur rechtlichen Verpflichtung werden kann. Diese mit Leben zu füllen, wäre eine europäische Koordinationsaufgabe. Sinnvoll wäre beispielsweise ein Meldesystem für freie Betten, freie Beatmungsgeräte aber auch Hospizbegleitung, um möglichst effektiv mit den Herausforderungen durch Virusinfektionen umzugehen. Das würde aber erfordern, gerade nicht an den Grenzen zu kontrollieren, sondern in den Risikogebieten zu testen, die infizierten Personen effektiv zu isolieren und bestmöglich zu versorgen, und zwar gerade auch bei milden Verläufen, um die weitere Ausbreitung zu verhindern. Das Virus schert sich nämlich nur wenig um Staatsgrenzen und Staatsangehörigkeiten, weshalb der WHO Recht zu geben ist, dass eigentlich sogar eine internationale koordinierte Suche nach Lösungen nötig wäre.

Zielgerichtete Maßnahmen

Das Plädoyer gegen Binnengrenzkontrollen und mehr europäische und internationale Koordination soll aber nicht bedeuten, dass keine punktuellen Verschärfungen der aktuell beschlossenen Maßnahmen notwendig sind. Ganz anders als in den Hinweisen der EU-Kommission vom 30. März 2020 zur Durchsetzung der Reisebeschränkungen, in denen eine Infektion ein Grund für eine Einreiseverweigerung ist, wurden in Singapur und Südkorea beispielsweise Grenzkontrollen zu konkreten Gesundheitsmaßnahmen genutzt und Abweisungen nur vorgenommen, wenn keine Anzeichen auf eine Infizierung der Person vorliegen. Infektionsfälle hingegen werden identifiziert und isoliert, um zu verhindern, dass sich weitere Personen anstecken. Mit hohem Aufwand wird zudem in jedem Einzelfall ein contact tracing betrieben, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Dies europäisch zu organisieren, könnte eine weitere wichtige und vorrangige Aufgabe für die Europäische Union sein, die im Bereich Gesundheitsschutz eine Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompetenz hat, die insbesondere auch die „Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“ umfasst (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Die Mitgliedstaaten wären übrigens in diesen Bereichen auch EU-verfassungsrechtlich zur Koordination ihrer Politiken verpflichtet, Art. 168 Abs. 2 AEUV. Dies gilt nach dem International Health Regulations [Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV)] auch für die weltweiten Bemühungen zur Eindämmung und Beendigung von Pandemien generell.

Dass die EU beziehungsweise der Schengen-Raum in dieser Krise (außer beim wirtschaftlichen Ausgleich) eine tragende, innovative und unterstützende Rolle spielen kann, scheint unrealistischer denn je, auch wenn die EU-Kommission versucht, mit ihren Richtlinien den europäischen Weg zu weisen. Das ist nicht nur eine verpasste Chance, sondern wird unser Verständnis von Europa nachhaltig beeinflussen. Die „Erfahrung“, dass es in der Krise besser ist, sich auf nationale Maßnahmen zurückzuziehen, wird zur Folie für unsere EU-Erfahrung, die EU zum „Schönwettersystem“, brauchbar für wirtschaftlich gesunde Zeiten als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung, aber als Referenzrahmen in Krisen ungeeignet.

Dies bereitet den Boden für eine national orientierte Politik und das Zurückdrängen des europäischen Solidaritätsgedankens. Diesen Gedanken in der Krise nicht aufzugeben, sondern politisch einzufordern und immer wieder zu betonen, ist eine wichtige Aufgabe nicht nur der zivilgesellschaftlichen Akteure und der Kirchen. Den Kopf in den Sand zu stecken, ist jedenfalls eine riskante Strategie für Personen, die an das europäische Friedensprojekt glauben. Denn nur wenn die europäische Solidarität als Gedanke und als Teil der praktischen Lösung der Krise als hilfreich wahrgenommen wird, kann die Bedeutung und Sinnhaftigkeit der EU als Ganzes betont werden und Wirkung entfalten. Diesen Gedanken und die dahinterstehende Idee der europäischen Solidarität zu stärken, ist eine der wichtigsten Aufgaben in der Zeit der Coronakrise.
 

Zur Person

Dr. Constantin Hruschka ist seit 2017 als Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und seit 2008 als Lehrbeauftragter an der Universität Bielefeld tätig, vorher hat er unter anderem bei UNHCR und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH gearbeitet. Er ist zudem beim Netzwerk Migrationsrecht und den Refugee Law Clinics aktiv und organisiert die Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht mit.
 

Die EU hat in der Krise zu wenig Kooperation gezeigt, weil die Staaten sich abgeschottet haben.

Constantin Hruschka arbeitet am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik.