Europa im Blick

Bereits zum 13. Mal widmeten sich Studierende und Promovierende aus unterschiedlichen fachlichen Hintergründen dem intensiven Austausch über christlich-islamische Themen.

Bereits zum 13. Mal widmeten sich unter der Leitung von Dr. Christian Ströbele, Dr. Ertuğrul Şahin und Stefan Zinsmeister fortgeschrittene Studierende und Promovierende im Rahmen der Studienwoche der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Eugen-Biser-Stiftung dem nach wie vor drängenden Thema „Christlich-Islamische Beziehungen im europäischen Kontext.“ Die 28 Teilnehmenden aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Bosnien-Herzegowina, dem Kosovo und dem Iran wiesen unterschiedliche fachliche Hintergründe auf: So waren nicht nur die evangelische, katholische und islamische Theologie vertreten, sondern auch Kultur-, Religions-, Geschichts- und Sozialwissenschaften. Sechs Tage lang bot sich die Gelegenheit, sich intensiv disziplinär, interdisziplinär, aber auch persönlich auszutauschen.

Diskussion über aktuelle Fragen von Staat und Religion

In der ersten inhaltlichen Session skizzierte Dr. Johannes Frühbauer (Heidelberg) Etappen und Positionen hinsichtlich der Frage, was Säkularisierung bedeutet und wie weit fortgeschritten sich diese in Europa und Nordamerika darstellt, bevor das Verhältnis von Ethik und Vernunft diskutiert wurde. Einer vernunftbezogenen, autonomen Ethik stünden „Glaubensethiken“ gegenüber, die sich stärker auf Offenbarungstexte und traditionsimmanente Doktrinen stützen. Aktuelle Fragen zum Verhältnis zwischen Staat und Religion(en) beleuchtete Professor Dr. Christian Walter (München) aus rechtshistorischen und religionsverfassungsrechtlichen Perspektiven. Im Hinblick auf Fragestellungen um die Sichtbarkeit religiöser Symbole im öffentlichen Raum optierte der Jurist für eine weitgehende Toleranz, die er mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit begründete. Ein katholischer Gottesdienst mit Martin Haas, dem Akademie- und Studentenpfarrer der Stuttgarter Universität, dem alle Teilnehmenden der Studienwoche beiwohnen konnten, bot Einblicke in den katholischen Messritus und im Anschluss die Gelegenheit zum offenen Austausch mit dem Zelebranten.

Im dritten thematischen Block wurden die Fragen des ersten Tages unter stärkerem Fokus auf den Islam besprochen. Dr. Ertuğrul Şahin (Frankfurt) zeigte die nivellierten Grenzen zwischen islamischer Moral (Normen, Sitten, Werte) und Ethik (Reflexion der Moral) auf sowie unterschiedliche Positionen im Verhältnis von Vernunft und Moral in der islamischen Tradition. Sodann wurde am Beispiel von Tariq Ramadan diskutiert, inwiefern die auf Europa bezogenen Reformbemühungen zu einer tatsächlichen Erneuerung der islamischen Ethik im säkularen Kontext beitragen könnten. Şahin selbst sieht Ramadans Ansatz nicht in der Lage, die philosophische Fundierung einer islamischen Ethik im Kontext säkularer Gesellschaften zu leisten. Solchen Versuchen fehle grundsätzlich der Praxisbezug: Sie schaffen keinen Durchbruch, die theoretische Theologie in ein breitenwirksames, kollektives Handeln einfließen zu lassen.

Interpretationen von Bibel und Koran

In ihrem Vortrag („Christentum und Islam – theologische Verhältnisbestimmung aus evangelischer Sicht“) widmete sich Privatdozentin Dr. Verena Grüter (Neuendettelsau) folgenden Fragen: Welche theologischen Aspekte im Verhältnis zwischen Christen und Muslimen sind mir wichtig? Wie kann christlicher Glaube gegenüber Muslimen bezeugt werden? Hierbei nannte sie den Dialog als Grundform für die Beziehungsgestaltung. Als Ausgangspunkt wurde die Öffnung gegenüber dem Islam in den Raum gestellt, wie sie im Dokument „Christen und Muslime. Gesprächspapier zu einer theologischen Wegbestimmung der Evangelischen Landeskirche in Baden“ vom Juli 2018 zum Ausdruck kommt. Die dort genannten „Wegmarken“ wurden von Kritikern beispielsweise wegen der von Jesus aufgetragenen Mission abgelehnt. Als „Kritik an den Kritikern“ wurde mit Reinhold Bernhardt argumentiert, dass seit der Weltmissionskonferenz von 1952 in Willingen im Sinne der „Missio Dei“ jeder Mensch zur Nachfolge eingeladen, jedoch kein Missbrauch durch Zwangskonvertierung zugelassen wird. Insgesamt machte Grüter deutlich, dass man aus christlicher Sicht den Islam als Ganzes betrachten müsse und es bei der Interpretation von Bibel und Koran im Wesentlichen auf die Essenz ankomme. Anknüpfungspunkte und Differenzen sollten diskutiert werden, damit die Theologie nicht stagniert, sondern durch die Selbstkritik wandelbar wird.

Am Nachmittag widmeten sich die Teilnehmer in Gruppenarbeit zum Vergleich von Christentum und Islam den Themen: Glaube und Wissen, Lehrtradition, Handlungen, der Theodizee-Begriff und Vorherbestimmungen. Aufgabe war es herauszuarbeiten, inwiefern der Glaube als Bindung an den jeweiligen Gott bestimmt wird und dazu eine Frage an die jeweils andere Tradition zu stellen. Die Sprecher der jeweiligen Gruppen diskutierten im kleinen Kreis über die einzelnen Themenbereiche, wobei die restlichen Gruppenmitglieder im Außenkreis die Möglichkeit nutzten, in den Innenkreis zu wechseln und damit den Dialog weiter voranzutreiben. Hierbei wurden religiöse Doktrinen wie Tauhīd (Glaube an die Einheit Gottes), Fitra (Schöpfung), der Mensch als Verantwortungsträger, die Reinheit der Seele, die Gleichheit aller Menschen und die Gerechtigkeit herausgearbeitet, die zu dem Schluss führten, dass sich die christliche und islamische Ethik sehr ähneln. Nach diesem spannenden Dialog am Nachmittag endete der Tag mit einem Filmabend. Bei „Pilgern auf Französisch“ handelt es sich um ein Roadmovie, in dem sich eine interkulturelle, heterogene Gruppe auf den Jakobsweg macht.

Wahrheitskonzeptionen und Heilspotenziale

Am Mittwoch präsentierte Professor Dr. Abdullah Takım (Frankfurt) koranische Perspektiven auf das Christentum. Seinem Zugang zufolge muss der Koran insgesamt als Offenbarungstext frei von inneren Widersprüchen sein. Aus dieser Annahme folgt angesichts von Widersprüchen im Koran auf der Literalebene die Notwendigkeit, durch eine angemessene Koranhermeneutik die Bedeutungsebene zu erschließen. Einen Ansatz dazu bietet die zeichentheoretische Hermeneutik im Anschluss an Jacques Waardenburg, die ermöglicht, ein vertieftes Verständnis von Offenbarungsschriften zu erreichen.
Am Nachmittag gewährte die Diskussion durch Gruppenarbeiten eine gesteigerte Interaktivität, bei der Grüter und Takım miteinbezogen werden konnten. In den Gruppen wurden zentrale Begriffe der Dogmatik, Bedingungen gelingenden Dialogs sowie Möglichkeiten und Grenzen für gemeinsames Gebet und Ritual aus christlichen und islamischen Perspektiven erörtert. Anschließend ergaben sich ausgiebige Diskussionen über Wahrheitskonzeptionen und Heilspotentiale, im Zuge derer vielfach auf das Schema von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus rekurriert wurde.

Am Abend waren die Leiter und Teilnehmenden der Studienwoche bei dem Stuttgarter Moscheeverein des Verbands der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) zu Gast. Neben einer Moscheeführung und dem anschließenden Austausch auf theologischer, gesellschaftlicher, poltischer und struktureller Ebene bei Tee und Gebäck bot sich für die muslimischen Teilnehmenden die Gelegenheit zum Gebet.

Der Donnerstag begann unter Stefan Zinsmeister (München) mit einer Gruppenarbeit zu Grundbegriffen aus Christentum und Islam aus dem 2016 als Taschenbuch erschienenen „Lexikon des Dialogs“ der Eugen-Biser-Stiftung, das inzwischen auch in arabischer Übersetzung vorliegt. Dieses Lexikon war das Ergebnis einer Kooperation deutscher und türkischer Autoren der Universität Ankara, die aufgrund bestehender Kontakte sowie der im damaligen Entstehungskontext (Erstauflage 2013) erst anfanghaften deutschsprachigen islamischen Theologie und der überwiegend türkischstämmigen Muslime in Deutschland daran mitwirkten. Die Gruppenarbeit bestand aus der formalen und inhaltlichen Analyse der Artikel mit Querverweisen zu den vorherigen Sessions. Aus ihr ging hervor, dass es sich bei den unterschiedlichen Begriffen um niedrigschwellige Erklärungen zu zentralen Termini handelt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird jedoch gar nicht gelegt; zudem kann ein diagnostizierter Bias der Lemmata auch zum gewünschten Dialog zwischen den beiden Religionen einladen.

Bioethische Fragestellungen aufgeworfen

Der zweite Themenblock des Tages wurde von Fatma Aydınlı (Tübingen) mit einem Impulsvortrag zur Reproduktionsmedizin eingeleitet. Überspitzt wurden zum „besten Baby“ vom „besten Mann“ mehrere bioethische Fragestellungen aufgeworfen und die unterschiedlichen Stellungnahmen von christlicher Kirche und Islam bezüglich des Embryoschutzes dargelegt. Es folgte daraufhin ein von Dr. Christian Ströbele (Tübingen/Stuttgart) mitinszeniertes Planspiel, bei dem Vertreter verschiedener religiöser und säkularer Gruppen der Zivilgesellschaft über das Vorhaben eines internationalen Unternehmens debattieren sollten, eine Klinik zu eröffnen, die nicht nur In-Vitro-Fertilisation sondern auch z.B. homosexuellen Paaren Möglichkeiten zur Erfüllung eines Kinderwunsches anbietet. Entgegen aller Erwartungen kamen viele angenommene Reibungspunkte durch weitgehend tolerante Standpunkte gar nicht zur Sprache.

In einem Abendvortrag skizzierte der Islamwissenschaftler und Historiker Professor Dr. Hugh Goddard (Edinburgh) lange Linien des Verhältnisses von Christentum und Islam. Die 1300-jährige Geschichte von Angehörigen beider Religionen zeigt ein breites Spektrum von kriegerischen Auseinandersetzungen, friedlicher Koexistenz und produktivem kulturellen Austausch in den Dimensionen des Interreligiösen, Interkulturellen und Politischen.

Am letzten Tag widmete sich Hugh Goddard einem ganz aktuellen Thema, indem er über das heutige Zusammenleben von Christen und Muslimen in Großbritannien und ihre Kooperation auf der Ebene der Zivilgesellschaft referierte. Hierbei machte er insbesondere auf die unterschiedlichen Gemeinschaften aufmerksam, die Raum für Austausch über den jeweils anderen Glauben geben.

Abschließend lässt sich das Fazit ziehen, dass die Tagung nicht nur ein Forum des wissenschaftlichen Austauschs war. Jegliche Zurückhaltung, die sich am Anfang zeigte, wandelte sich von Tag zu Tag auf zwischenmenschlicher Ebene in eine von Harmonie geprägte Übereinkunft, welche die Basis gegenseitigen Vertrauens bildete und die Teilnehmer zu einem offenen Austausch auf Augenhöhe verleitete. Der gegenseitige Respekt und die Achtung der jeweiligen religiösen Überzeugungen sollten auch in Zukunft in die Welt getragen werden. In den Worten von Hugh Goddard „It’s up to us“ gilt es, den Dialog zwischen Christen und Muslimen weiterzuführen.

Kathrin Paszek, David Rüschenschmidt

Diskussion zur Textarbeit mit dem Lexikon des Dialogs der Eugen Biser Stiftung

Einführung in die Thematik theologischer Ethik in säkularer Gesellschaft durch Professor Johannes Frühbauer

Vortrag und Diskussion mit Professor Christian Walter zu religionsrechtlichen Rahmenbedingungen

Diskussionsrunde zu theologischen Verhältnisbestimmungen von Christentum und Islam

Gesprächsrunde nach dem Gottesdienst in der Kapelle mit dem Akademiegeistlichen Pfarrer Matthias Haas

Kurzeinschätzungen zu Ertrag und Klima der Studienwoche