Endlich Solidarität beim Asylrecht?
Europa muss bei der Neuregelung des Asylsystems die Solidarität zur Grundlage machen. Dafür ist die deutsche Präsidentschaft besonders wichtig. Ein Gastbeitrag der Europaabgeordneten Tineke Strik
Dieser Artikel ist der fünfte Teil der Reihe Menschenrechte und Krise:
> Teil 1: "Das Gebot: Solidarität und Wachsamkeit"
> Teil 2: "Der fast vergessene Ausnahmezustand"
> Teil 3: "Die Schande Europas"
> Teil 4: "Europäische Solidarität wäre nötig"
> Teil 5: "Endlich Solidarität beim Asylrecht?"
> Teil 6: "Die Lektionen gelernt?"
Das Covid 19-Virus hat die Solidarität der EU-Mitgliedstaaten auf den Prüfstand gestellt. Rational stimmt jeder zu, dass eine wirksame Bekämpfung nötig ist, die Einbeziehung aller Personen und Regionen, sogar auf globaler Ebene. Die Welt ist einfach zu klein, um nicht andere einzubeziehen. Es besteht die Tendenz, dass die Nächstenliebe zu Hause anfängt; sie ist jedoch stärker als das Bewusstsein.
Dies wird an den sensiblen und gereizten Diskussionen der Staatsoberhäupter zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Solidarität unter den Mitgliedstaaten, die von der Gesundheitskrise am meisten betroffen sind, deutlich. Während des Mai-Gipfels konnten sich die Staatsoberhäupter nicht über den Umfang und die Finanzierung des Wiederaufbau- und Genesungsplans einigen und beauftragten die Europäische Kommission für einen Vorschlag, der unter den mehrjährigen Jahreshaushalt fallen würde. Es ist ermutigend, dass das Europäische Parlament, unabhängig von politischen und nationalen Interessen, einen ehrgeizigen Wiederaufbau- und Genesungsplan während der Vollversammlung im Mai erstellte. Dieser Plan schloss die finanzielle Unterstützung ein, die sich auf zwei Billionen Euro belief, von denen mindestens eine Billionen Euro als Kredite durch ein gemeinsames EU Darlehen finanziert wird, das vom EU-Haushalt garantiert wird. Das Geld in dem Fonds würde durch gemeinsame EU-Verpflichtungen aufgebracht und den Mitgliedstaaten unter gewissen Bedingungen, die sich an der Rechtsstaatlichkeit, dem Klima und der Biodiversität orientieren, gewährt. Mit diesem Plan signalisiert das Parlament, dass das Europäische Projekt nicht in Frage gestellt, sondern gebraucht wird zur Stärkung der Europäische Einheit und Solidarität.
Nur sehr wenig Hilfe durch Aufnahme-Zusagen
Gibt es eine Parallele zur europäischen Asylpolitik? Hier sehen wir, dass in den meisten Mitgliedstaaten Asylsuchende durch das Covid 19-Virus betroffen wurden, mit einer Einschränkung der Verfahren für Asylsuchende und Familienzusammenführung. Aber diejenigen, die sich in den Mitgliedstaaten mit der größten Zahl von Asylsuchenden aufhielten, befanden sich unter unhaltbaren Umständen. Wir sehen aus der Entfernung die Situation in den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln, auf denen es keinen Schutz gegen das Virus gibt. Hier war sich auch das Parlament einig, die Mitgliedstaaten dringend aufzufordern, dass die gefährdeten Asylsuchenden umgesiedelt werden. Ebenso wurden die Europäische Kommission und die griechische Regierung aufgefordert, die Asylsuchenden von den Inseln auf das Festland zu evakuieren.
Bis jetzt ist die Antwort der Mitgliedstaaten enttäuschend schwach: von den 42 000 Asylsuchenden sind 1500 Übernahmen versprochen worden. Ironischerweise wird das Virus als Argument häufig genutzt, Asylbewerber nicht zu übernehmen, wo doch gerade das Virus eine schnelle Umsiedlung erfordert. Wir sehen hier einen großen Unterschied zwischen abweisenden Regierungen und großzügigen Gemeinden und Regionen, die willens sind, sich die Verantwortung mit Griechenland zu teilen. Die Politik, die nahe an den Bürgern sein sollte, hat den Schneid zu tun, was von der entfernten Ebene von Bürgern abweicht, oder sollte ich sagen vom Wahlvolk? Gesellschaftliche Unterstützung für Solidarität, in diesem Fall anderer Mitgliedstaaten, kann wesentlich steigen, wenn die Behörden zeigen, dass es gleichzeitig notwendig und umsetzbar ist.
Trotz der geringen Zahl von Zusagen für die griechischen Inseln verringert diese Umsiedlung die Solidarität der nördlichen Mitgliedstaaten mit Malta und Italien. Als der italienische Innenminister Salvini die Häfen für Migranten, die im Mittelmeer gerettet worden waren, schloss, nahmen in einem Protest wegen fehlender Solidarität Italien, Malta, Frankreich und Deutschland die Erklärung von Malta an, nämlich Asylsuchende aufzunehmen. Frankreich und Deutschland vereinbarten auf der Grundlage dieser Erklärung, diejenigen Asylsuchenden aufzunehmen, die gerettet und die von Malta und Italien abgewiesen wurden. Obwohl sich mehrere Mitgliedstaaten der Erklärung von Malta danach anschlossen, verlangsamte sich diese Umsiedlung durch das Corona-Virus. Als Malta die Umsiedlung 2020 gestoppt hat, nahmen die in Malta ankommenden Migranten zu. Getrieben durch die verabscheuungswürdigen Umstände in Libyen, das ebenfalls von der Gesundheitskrise und durch den bewaffneten Konflikt betroffen war, versuchten viele Migranten der libyschen Hölle zu entfliehen. Jetzt verweigerten die maltesischen Behörden, sie in ihre Häfen zu lassen und waren wohl sogar Mittäter der Zurückweisung nach Libyen.
Die EU muss sich von der Dublin-Verordnung lösen
Trotz des unverhältnismäßigen Drucks auf die südlichen Mitgliedstaaten machen sie sich nicht frei von internationalen Verpflichtungen, genauer gesagt, dem Suchen und Retten, dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und Sammelausweisungen. Es ist eindeutig, dass die ungleiche Teilung der Verantwortung für Asylsuchende, ihre Rechte und ihr Wohlbefinden wesentlich betrifft. Die letzten Jahrzehnte haben uns gelehrt, dass Ungerechtigkeiten im System nicht aufgehoben werden durch freiwillige nationale Solidarität.
Nach Jahren der fehlenden Einigung unter den Mitgliedstaaten für ein effektiveres Verteilungssystem für Asylsuchende, schlug EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, unmittelbar nach ihrer Ernennungsrede, einen neuen Asylpakt vor, um diese Sackgasse zu beenden. Die Kommission wird einen neuen Asylpakt im Juni vorlegen, rechtzeitig vor der deutschen Präsidentschaft, damit diese eine gemeinsame Vereinbarung im Rat findet. Wenn die Kommission und der Rat wirklich ein verhältnismäßiges Teilen der Verantwortung wollen, haben sie sich von dem Prinzip der gegenwärtigen Dublin-Verordnung zu lösen, dass der Mitgliedstaat, in dem der Asylsuchende die EU zum ersten Male betritt, verantwortlich ist für das Asylverfahren und den Schutz. Auf der Grundlage gemeinsamer Verantwortung können Asylsuchende unmittelbar nach ihrer Ankunft verteilt werden. Ein kurzes Verfahren an der Grenze ist notwendig, um die Asylsuchenden zu registrieren und um die beste Verteilung im Mitgliedstaat, dem sie zugewiesen werden, zu finden, aber es sollte auch herausgefunden werden, dass die Gemeinden, die die Asylsuchenden aufnehmen, die finanzielle Unterstützung erhalten, nicht nur für die Kosten das Asylverfahrens, sondern auch für die Integration, nach dem von dem die Mitgliedstaaten, die selbst keine Asylsuchenden aufnehmen, gewährten Schutz. Sie sollten verantwortlich für die Finanzierung sein. Ein derartiger Mechanismus kann die freiwillige Solidarität vergrößern. Aber als letztes Mittel, wenn Mitgliedstaaten ihre Verantwortung abwälzen, sollte ein verbindliches Solidaritätssystem unvermeidlich sein, wenn der Druck auf unsere Außengrenzen gestoppt werden soll.
Obwohl die Vorschläge der Kommission noch nicht veröffentlicht sind, wissen wir, dass es keine ausreichende Unterstützung gibt, das Prinzip des ersten Zutritts aufzuheben. Das Europäische Parlament verlangte in früheren Verhandlungsrunden, dieses Prinzip zu streichen. Die Beibehaltung des Prinzips bedeutet, dass nur dann, wenn der Mitgliedstaat seine Quote erfüllt hat, andere Mitgliedstaaten einschreiten werden. Über diese Ungerechtigkeit hinaus werden diese ‚anderen‘ Mitgliedstaaten vorschlagen, dass sie an den Außengrenzen auswählen werden, auf der Grundlage, dass nur die Asylsuchenden, die wahrscheinlich Schutz erhalten, weiter geleitet werden zu einem anderen Mitgliedstaat. Dies würde bedeuten, dass Mitgliedstaaten wie Griechenland und Italien verantwortlich wären für die Zurückweisung abgelehnter Asylsuchender; sie würden auch komplexere Fälle haben. Da das gegenwärtige europäische Asylsystem national angewandt wird, erfordert es wesentlich mehr an nationaler Verfügbarkeit in Aufnahmezentren, mehr Immigrationsbehörden, aber auch mehr Anwälte und Richter. Es ist wahrscheinlich, dass die gegenwärtigen Probleme in den Hotspots von Griechenland und Italien zu längeren Wartezeiten, längerer Haft, Überbelegung und ungesunden Umständen führen werden.
Es mangelt an gemeinsamer Verantwortung
Die Bedeutung der Solidarität im Fall des Asyl ist sehr ähnlich dem Bewusstsein, dass wir das Covid 19-Virus besiegen, wenn wir alle einschließen. Wenn wir den Mitgliedstaaten erlauben würden, keine gemeinsame Verantwortung zu tragen, dann werden diese Mitgliedstaaten nicht in der Lage sein, die EU-Regeln zu Asylverfahren und Aufnahmebedingungen zu akzeptieren. Ein gemeinsames europäisches Asylsystem funktioniert nur, wenn die Regeln akzeptiert und in der gesamten EU umgesetzt werden und Asylsuchende in derselben Weise geschützt werden. Nur dann kann von ihnen erwartet werden, dass sie in dem verantwortlichen Staat bleiben.
Aber der wichtigste Grund für Solidarität ist, dass jeder Asylsuchende das Recht auf Würde und Schutz hat. Das größte Versagen gegenwärtig ist, dass Asylsuchende und Flüchtlinge unter dem Mangel der gemeinsamen Verantwortung leiden. Weltweit ist der Mangel an Solidarität mit Flüchtlingen schmerzhaft. Da schwache Länder weltweit in Konfliktzonen die meisten Flüchtlinge aufnehmen, leben viele Flüchtlinge in ärmlichen Bedingungen und haben keine Möglichkeit, sich eine neue nachhaltige Zukunft aufzubauen. Die COVID 19-Krise hat deren Lage sogar noch verschärft, durch die Schließung der Grenzen, durch das Fehlen von Räumlichkeiten und Dienstleistungen, keine Möglichkeit zu haben, vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Und sie haben Hindernisse zu humanitären Organisationen aufgebaut, ihre Dienstleistungen zu liefern. Im Jahr 2019 initiierten die UN den Global Pakt für Flüchtlinge, der den Solidaritätsmechanismus weltweit stärken sollte durch mehr strukturierte finanzielle Mittel und mehr Umsiedlung von verletzlichen Flüchtlingen. Da die Staaten jedoch zurückhaltend sind, sich zu binden, beruht die Umsetzung des Paktes auf Zusagen und politischen Erklärungen.
Anders als der Globale Pakt beruht das europäische Asylsystem auf Gesetzgebung mit durchsetzbaren Regeln. Es sollte gehofft werden, dass für eine effektive Solidarität, die demnächst kommende Gesetzgebung einen effektiven Mechanismus enthält, mit dem die Verantwortung gleichermaßen geteilt ist und alle Mitgliedstaaten unterstützt werden, den Flüchtlingen effektiven Schutz und Integration in ihrer neuen Gesellschaft zu ermöglichen. Dies verlangt nicht nur geschicktes Verhandeln, sondern auch einen langen Atem und den Ehrgeiz, Solidarität zum Schlüsselelement eines europäischen Asylsystems zu machen. Ich hoffe, dass die Kommission und die deutsche Präsidentschaft diese Qualifikationen zeigen werden. Wenn sie erfolgreich sind, sollten sie diese Qualifikationen auch dafür gebrauchen, dass die EU mehr Verantwortung für Flüchtlinge trägt, die außerhalb der Außengrenzen sind, mit größerer Kooperation, Unterstützung und Umsiedlung. Hierdurch würde die EU ein Signal an andere reiche Regionen senden, dass die gegenwärtige Verlagerung auf Dritte für Flüchtlinge nur das gegenwärtige Problem verschärft. Die Welt ist zu klein, um sich vor der Solidarität zu drücken.
(Wir danken Dr. Gisbert Brinkmann, MPA (Harvard), Ministerialrat a.D. für die kurzfristige Übersetzung. Er hat die Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht über Jahrzehnte mit Rat und Tat begleitet.)
Zur Person: Tineke Strik hat Öffentliches Recht studiert und ist seit 2019 für die niederländische Partei GroenLinks Abgeordnete im Europäischen Parlament. Davor war sie zwölf Jahre lang Abgeordnete der ersten Kammer in den Niederlanden.