Eigenes – Fremdes – Neues

Die offene Kirche Sankt Maria ist beispielhaft für die Entwicklung der modernen multireligiösen und multikulturellen Stadt. Auf einer Tagung sind neue Wege diskutiert worden.

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 „Türen auf!“ stellte Pastoralreferent Andreás Hofstetter-Straka bei der Begrüßung fest – das bedeute für ihn Osmose, eine Hin- und Herbewegung zwischen drinnen und draußen, Offenheit, ein Angebot zur Partizipation. Und so blieben während der eintägigen Tagung „Religion in der Stadtentwicklung“ am 1. Juli 2019 nicht nur die Kirchentüren von St. Maria auf – vielmehr nahm die kleine Geste eine Art Quintessenz des Tages vorweg.

Dr. Christian Ströbele, Leiter des Fachbereichs Interreligiöser Dialog, und Barbara Thurner-Fromm, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Akademie, hatten eingeladen, um gemeinsam der Frage nach neuen nachbarschaftlichen Konzepten in zunehmend multikulturellen und multireligiösen Städten und Gemeinden nachzugehen. Die TeilnehmerInnen – ArchitektInnen, StadtplanerInnen, VertreterInnen der Religionen und der öffentlichen Verwaltung – kamen zahlreich. 

In seinem Auftaktvortrag konzentrierte sich Prof. Dr. phil. habil. Klaus Jan Philipp vom Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart auf die historische Perspektive: Stadt und Religion, so Philipp, gehörten seit Anbeginn zusammen: Wo eine Ansammlung von Menschen lebte, wurden rasch sakrale Ort gebaut, um die herum sich Städte durch Zuzug entwickelten. Sowohl die zentrale Lage der Kirchen als auch die Höhe ihrer Türme zeugten im Mittelalter von der höchsten Hierarchiestufe der Gebäude; ihre Innenräume waren oft die einzigen luxuriösen Orte der Stadt. In der Nachkriegszeit ab 1945 dominierten Wiederaufbau, Abriss und Neubau von sakralen Gebäuden. Orthodoxe Kirchen wurden gebaut; vor etwa 40 Jahren kamen erste Moscheen hinzu. Die gesetzliche Festlegung von Kerngebieten 1962, die für den Innenstadtbereich ausschließlich Platz für Verwaltung, Gewerbe, Gastronomie und Kirchen vorsah und keinen Wohnraum gestattete, führte zu einem Paradoxon: „Wo keiner wohnt, geht keiner in die Kirche“, sagte Philipp. Seit der Aufhebung dieser Vorschrift 2017 stehe daher die Wieder-Nutzung im Vordergrund. Gleichfalls gebe es, wie schon seit der Reformation Usus, Konzepte für Umnutzungen von Kirchen für Veranstaltungen etc. Aus städtebaugeschichtlicher Sicht, so Philipp, müsse auch einem hartnäckigen Vorurteil widersprochen werden: Da die Städte seit dem Mittelalter in der Regel dicht bebaut seien, hätten alle neu hinzukommenden sakralen Räume aus Platzgründen an den Rändern gebaut werden müssen. Dies gelte für Kirchen ebenso wie für Synagogen oder Moscheen. Es gehe daher dabei nicht vorrangig um Ausgrenzung.

Neue Sichtbarkeit von Gotteshäusern in der Stadt

PD Dr.-Ing. Ulrich Knufinke vom Institut für Baugeschichte der TU Braunschweig widmete sich den „Religionen in der Stadt heute“ und stellte einen Bedeutungswandel der Bauten fest von Orten sakraler Praxis hin zu allgemeinen Zeichen kultureller Prägungen. Verschwinde eine Kirche als religiöses und soziales Zentrum, gehe das oft mit Verlustgefühlen einher. Umso wichtiger seien die, wenn auch wenigen, Gegenbeispiele: So konnte 2015 nach einer mehr als 70 Jahre andauernden Odyssee die Leipziger Probsteigemeinde einen Neubau der St. Trinitatis-Kirche in der Innenstadt beziehen. Auch Freiburg baut ein neues ökumenisches Zentrum ins neue Stadtzentrum. Um was es hier vor allem gehe, sei die Zeichenhaftigkeit: Kirche sei wieder so sichtbar wie im 19. Jahrhundert.

Um genau diese Sichtbarkeit gehe es auch im Judentum, sagte Knufinke. Die meisten Synagogen seien nach 1945 aus tiefer Verunsicherung im Verborgenen gebaut worden. Erst seit dem Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und einem damit einhergehenden veränderten Selbstverständnis gebe es eine neue Sichtbarkeit in den Innenstädten: Die Neubauten der Synagogen in München (2006), Mainz (2008) und Ulm (2012) brächten das Judentum ins Herz der Städte zurück und setzen damit politische und gesellschaftliche Zeichen. Auf Moscheen bezogen stützte Knufinke die Argumentation seines Vorredners: Sie seien aufgrund von Platzmangel in Gewerbegebieten am Rand zu finden. Städte wie Leipzig, die der Ahmadiyya-Moschee einen Innenstadt-Standort ermöglichen wollten, seien allerdings mit erbittertem politischem Streit konfrontiert. Brückenbaufunktion haben hingegen die Neubauentwürfe für die Ditib-Moschee in Stuttgart-Feuerbach: Hier gebe es eine versuchte Transformation in der Verbindung traditioneller und europäisch-moderner Elemente: Eigenes – Fremdes – Neues sollen Sichtbarkeit und Lesbarkeit erhöhen.

Auf der Suche nach der Seele der Stadt

Der Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, Markus Müller (freier Architekt und Stadtplaner) erklärte, „religiöse Vielfalt als Herausforderung für Stadtplanung und Architektur“, sei so wichtig wie „die Frage nach der Seele der Stadt“. Durch die Vielfalt gebe es viele Herausforderungen: Wenn architektonische Eindeutigkeit und Konsens fehlten, fehle es auch an tradierten Gliederungssystemen. Die über Jahrhunderte geltende Überhöhung von sakralen Orten als architektonisches Thema sei ausgesetzt. Zum anderen gebe es heute eher Konkurrenz statt Zentralität. Chancen lägen hier z.B. in gelebten pragmatischen Lösungen wie der gemeinsamen Nutzung von Flächen. Was nun aber macht die „Seele der Stadt“ heute aus? In den Blick, so Müller, müssten wir hier die Stadt als soziales System nehmen, in der auch Barmherzigkeit, z.B. durch Unterkünfte für Geflüchtete, sichtbar gemacht werde. Als Beispiel führte er den Wettbewerb um einen neuen Konstanzer Stadtteil für 8000 BewohnerInnen an. Entstehen soll eine lebendige Verbindung aus alt, neu, urban und smart sowie einer eigenen Stadtteilmitte als gemeinsamem Eigentum aller. Denn städtische Räume hätten soziale Aufgaben – es sei an der Zeit, diese Wertedebatte zu führen. Müller warb für eine offensive Strategie zur Öffnung sakraler Räume. Positivbeispiele wie Vesperkirche, Kinder- und Jugendprogramme und Konzerte seien hier gute Anfänge. Denn die Kirche als nichtkommerzieller öffentlicher Raum begünstige Öffentlichkeit und könne damit relevanter Teil einer pluralistischen Gesellschaft sein.

Dass die „Seele“, verstanden als Sehnsucht nach Identität und Gemeinschaft, oft auch in den einzelnen Stadtteilen zu finden sei und die soziale Bedeutung der Viertel stadtplanerisch mitbedacht und die Ränder entwickelt werden müssten, war ein Ergebnis der sich anschließenden Diskussion. Auch ließen sich weitere städtische „Seelenorte“ ausmachen: die Stadtbibliothek Stuttgart, Friedhöfe, Aussegnungshallen waren hier nur einige Beispiele.   

Andreas Hofer, der schweizerische Intendant der IBA`27 Stadtregion Stuttgart, referierte zum Thema „Die Stadt von morgen als eine Stadt für alle gestalten“. In der Schweiz seien die Städte nach 1918 regelrecht explodiert, was einen verstärkten Siedlungsbau nach sich zog. Mit dem Beginn der Bauhausbewegung habe sich die Betrachtungsweise auf das Thema Wohnen in kürzester Zeit geändert. Fragen nach dem „Wie?“ rückten in den Vordergrund. Jedem sollte Wohnraum zugänglich gemacht werden. „Wohnmaschinen“ im befreienden Sinn entstanden, mit geschmeidigen Räumen für Kleinfamilien. Erst als Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre viele Städte die „Wohn- und Arbeitsmaschinen“ zunehmend für Segregation benutzten, endete die Zeit der Großstrukturen. Heute stünden wir vor neuen Herausforderungen: Die Bedürfnisse urbanen Wohnens zwischen Individualisierung und Gemeinschaft bräuchten neue architektonische Wege, die über Diskurse geschaffen werden könnten. Neue Programme für eine Gesellschaft im Wandel mit überproportionaler Nachfrage nach Mikrowohnungen einerseits und nach sehr großem Wohnraum andererseits müssten her. Wichtig seien dabei Parameter wie Qualität und Dichte als identitätsstiftende Komponenten. Als positives Beispiel für eine gelungene Neuorientierung in der Architektur nannte Hofer das genossenschaftliche Quartiersprojekt „Mehr als Wohnen“ am Stadtrand von Zürich: Für die rund 1000 BewohnerInnen, von denen 54 Prozent Nicht-Schweizer sind, sei ein Quartier entstanden, in dem den Wünschen nach Partizipation und Individualität gleichermaßen entsprochen werde. Kleine und große Wohneinheiten schmiegten sich architektonisch aneinander und ließen Geborgenheit entstehen; Gemeinschaftsräume, Kitas, Gewerbe, Gastronomie und ein integriertes Hotel mit gemeinsam genutzter Rezeption sowie ein Raum der Stille schafften Raum für Begegnung. Ermöglicht worden sei dadurch ein gesellschaftlicher Transformationsprozess – ein Wohnen der Zukunft, das, so der Referent bei der anschließenden regen Diskussion, für die BewohnerInnen immer wieder ein neues Austarieren der jeweiligen Bedürfnisse in unterschiedlichen Lebensphasen zwischen Privatheit und selbstgewähltem Kollektiv bedeute.

 

In ihrem Impulsvortrag zur ersten Podiumsrunde „Religiöse Orte und Nachbarschaften in Bewegung“ gab Prof. Dr. Chantal Munsch von der Universität Siegen einen Einblick in das von ihr geleitete Forschungsprojekt über die Bedeutung von Moscheen für Muslime in Deutschland. Hinter den oft nicht erkennbaren Moschee-Fassaden, so die Erziehungswissenschaftlerin, seien ganze Kosmen versteckt. In unterschiedlichsten Räumen wie Verwaltungsgebäuden oder Kellern fänden sich neben den Gebets- und Waschräumen Großküchen, Teestuben, Friseure, Supermärkte und Kinderbetreuungen, die in Funktion und Nutzung nicht selten unterschiedlich seien: So fänden Geflüchtete im Gebetsraum einen Ruhepol und die Möglichkeit zum Aufladen ihrer Handys, während kleine Kinder auch während der Gebetszeiten ungehindert herumtoben dürften. Fast „wesenhaft“ sei zudem die Baustelle als Symbol für eine ständige Anpassung an neue Bedürfnisse, wobei Bildung, soziale Arbeit, Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit sowie Treff- und Rückzugspunkte für Rentner und Jugendliche im Zentrum stünden.

30 Prozent mehr antisemitische Straftaten in Stuttgart

Stadtdekan Dr. Christian Hermes warf die Frage auf, was Integration eigentlich bedeute und appellierte an eine Form der Integration nicht als One-Way-Bemühung sondern als gemeinsamen Lernprozess. In den polyzentrischen Städten bräuchte es Kräfte, die Menschen zusammenhielten, und Religion könne ein Teil dieser positiven Kräfte sein.

Professorin Barbara Traub, die Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, nahm diesen Faden auf und analysierte die vielfältige jüdische Geschichte in Stuttgart, in der sich vom 15. bis 18. Jahrhundert keine Juden niederlassen durften. Als sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ab dem 19. Jahrhundert änderten und vor allem das liberale Judentum Teil der bürgerlichen Gesellschaft wurde, gingen die Bemühungen dahin, prachtvolle Synagogen im Maurischen Stil stolz sichtbar zu machen. Nach den Erfahrungen des Holocaust und den tiefen Verunsicherungen sei das Judentum über Jahrzehnte überwiegend in den Gemeinden gelebt worden, die sich nach außen wenig zu erkennen gaben und als Rückzugsorte dienten. Erst mit dem Zuzug von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre habe sich das Selbst- und Außenbild gewandelt. Die neue Generation wollte sich zeigen, öffnen und austauschen, vor allem aber eine gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung der Stadtgesellschaft auf Augenhöhe tragen. Die Fassade der Stuttgarter Jüdischen Synagoge wurde verändert, Projekte wie die „Jüdische Kulturwoche“ und das „Forum Hospitalviertel“ entstanden. Doch durch einen Wiederanstieg des Antisemitismus – die Zahl der antisemitischen Straftaten in  Stuttgart hat in den letzten Jahren um 30 Prozent zugenommen – gebe es eine erneute Diskussion, inwieweit eine Öffnung beibehalten und gleichzeitig Möglichkeiten eines schützenden Rückzugs für die Gemeindemitglieder gewährleistet werden können.

„Mich beschämt es zutiefst, dass an den Synagogen und der jüdischen Schule Polizeischutz steht“ entgegnete Hermes. Er erläuterte Chancen, aber auch Schwierigkeiten in den konkreten Konstellationen eines kommunalen interreligiösen Dialogs. So sei zum Beispiel eine Mitgliedschaft im Stuttgarter „Rat der Religionen“ an die wichtigen Grundsätze gebunden, nur Gruppen zuzulassen, die weder antisemitische noch verfassungsfeindliche Tendenzen aufwiesen. Bestimmte Gemeinschaften seien damit ausgeschlossen – damit aber auch der Kontakt zu ihnen. Sollten wir aber nicht gerade zu diesen Gruppen Kontakt haben, um Partizipation und Öffnungsprozesse zu stärken?

Das Haus der Religionen in Bern – ein Leuchtturmprojekt

In der abschließenden Diskussionsrunde ging es um konkrete Beispiele für interreligiösen Dialog im Rahmen der Stadtentwicklung, aber auch um die Rahmenbedingen und Gestaltungsräume von Stadtverwaltungen dafür. Als ein herausragendes Projekt gilt das „Haus der Religionen – Dialog der Kulturen“ im schweizerischen Bern. Zeinab Ahmadi vom Leitungsteam des Zentrums, in dem acht Religionen vereint sind, schilderte anschaulich nicht nur die finanziellen Hürden bis zur Realisierung des Millionenprojekts. Sie berichtete auch über den enormen Abstimmungsbedarf zwischen den Religionsgemeinschaften und erläuterte die Aktivitäten zur Integration und der besonderen Förderung Jugendlicher.

Pastoralreferent Andreas Senn von der katholischen Kirche in Böblingen stellte das Projekt der Religionen auf dem Neubaugebiet Flugfeld zwischen Sindelfingen und Böblingen Flugfeld vor: „Dem Himmel nah“. Er schilderte die Möglichkeiten, über Religionsgrenzen hinweg Gemeinsamkeiten zu finden - etwa bei gemeinsamen Feiern im Jahresverlauf oder einem Friedensgebet, er verhehlte aber auch nicht die Schwierigkeiten, in dem Neubaugebiet für mehrere Tausend Bewohnerinnen und Bewohner aus vielen Ländern überhaupt an die Menschen heranzukommen, weil versäumt wurde, Begegnungsräume mitzuplanen. 

Eher kritisch bewertet der Leiter des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt, Dr. Armin von Ungern-Sternberg, die Situation aus Verwaltungssicht. Eine interne Pluralität innerhalb der Religionsgemeinschaften - christlicherseits bei näherem Besehen ähnlich wie z.B. muslimischerseits - was Ausprägungen und Organisationsstrukturen betrifft, erschwere oft eine stabile Zusammenarbeit. In den letzten Jahren seien Kommunalverwaltungen bei interreligiösen Projekten eher zurückhaltender geworden. Die Komplexität gehöre aber zur Realität, auf die man sich zukunftsgerichtet einstellen müsse.

Lena Zoller von der Stiftung Weltethos (Tübingen) beschrieb neue Entwicklungen im Zuge des Modellprojekts „Lokale Räte der Religionen in Baden-Württemberg“, das der baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha initiiert hat. Sie berichtete, dass - über bereits seit längerem existierende Gremien hinaus - seit der Laufzeit des Projekts bereits elf Gemeinden solche Räte etablierten, um religiöse Fragen gemeinsam zu besprechen – und zahlreiche weitere Kommunen haben bereits Interesse angemeldet. Diese Räte böten die Chance, die Zusammenarbeit zwischen der Bürgergesellschaft mit ihren pluralen religiösen Akteuren und der Stadt nachhaltig zu fördern.

(Stefanie Jebram)

In der derzeit für unterschiedlichste Projekte geöffneten Kirche St. Maria mitten in der Stadt Stuttgart fand die Tagung zu Religion in der Stadtentwicklung statt.

Der Intendant der IBA 27 befasste sich mit der Frage, wie die Menschen künftig leben und wohnen wollen.

Dr. Christian Ströbele (zweiter von links) diskutierte mit Professorin Dr. Chantal Munsch (links), der Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinschaft Prof. Barbara Traub und dem Stuttgart Stadtdekan Dr. Christian Hermes die Position der Religionsgemeinschaften.

Der Präsident der Landesarchitektenkammer, Markus Müller, forderte, die Seele der Stadt zu suchen.

Der Architekturhistoriker Prof. Klaus Jan Philipp von der Universität Stuttgart hielt den Eröffnungsvortrag.