Die Welt – nur Zahlen
Da Sie die großartigen motivierenden Werke unserer Ausstellung "Kunst ist Lebensbereicherung" derzeit nicht vor Ort betrachten können, kommen wir zu Ihnen. Heute mit Hubert Kaltenmark.
Das "Werk der Woche" wurde vom Bodensee-Künstler Hubert Kaltenmark geschaffen und hängt momentan im Foyer des Tagungszentrums Hohenheim. Es entführt uns in einen anderen Kulturkreis. Wehmütig blickt man auf eine Frau im gelben Sari, die mit einem Regenschirm in der Hand durch eine üppig bewachsene Kulturlandschaft läuft. Eine leichte Unschärfe kennzeichnet das gesamte Bild. Das Ausgangsfoto, welches Kaltenmark selbst aufnahm, entstand auf einer Südindien-Exkursion im Herbst 2019 – als man noch reisen durfte. Bis auf den menschlichen Körper und dem Regenschirm ist das Werk mit Zahlen in der Malayalam-Schrift, die im Bundesstaat Kerala geschrieben wird, überzogen. Wie ein Schleier legt sich die Schrift über den Hinter- und Untergrund.
"Numberdiary 7.10.2019 – 8.10.2019 (Indien 3)" lautet der Titel des Werkes. Die Daten deuten zwei Tage aus dem Indien-Aufenthalt des Künstlers an und kennzeichnen die Zeit-Spanne, in der der Reisende seine Malayalam-Zahlen notiert hat. Das können Telefon- oder Kennnummern, Bank- oder Kalenderdaten, Autokennzeichen, Postleitzahlen, Uhrzeiten und vieles mehr gewesen sein, die ihm in diesen beiden Tagen begegnet sind. Kaltenmark weiß den Ursprung auch nicht mehr. In seinen bisherigen "Numberdiaries" tauchen nur arabische Ziffern auf. Im Indien-Zyklus beschäftigt er sich erstmals mit Ziffern der Landessprache, aus denen die Zahlen notiert wurden.
Seit Jahren führt Hubert Kaltenmark ein "Tagebuch der Ziffern und Zahlen". So wie andere Personen in Tagebüchern ihre Erlebnisse niederschreiben, notiert sich der Künstler Zahlen, die ihm während eines Tages begegnet sind. Dabei gewichtet er nicht – stoisch werden die Zahlen festgehalten. Die Orte, an denen sie aufgeführt waren, sind unwichtig. Die Bedeutung durch Abgrenzungen zueinander wird aufgehoben, weil er diese Reihungen ohne Abstände, Punkte oder Striche durchgängig festhält. Meist kann er bereits am Ende eines Tages nicht mehr den Ursprung der Einzel-Ziffern herleiten. Das interessiert ihn auch nicht, nur der Realitätsbezug als solcher ist ihm wichtig. Es sind keine Fantasiezahlen, die sich Kaltenmark in Tagebücher notiert. Bücher von Zahlen-Kolonnen entstehen, obwohl er weder Mathematiker, Steuerberater, noch Zahlenfetischist ist. Kaltemark weiß um den herausragenden Stellenwert von Zahlen und Ziffern in unserer Gesellschaft. Mittlerweile können wir alle letztlich auf Nummern reduziert werden: Ausweis-, Identifikations- und Steuer-Nummern. Zahlen wie Bar- und Kenncodes, Kaufbelege, Kunden- und Rechnungsnummern bestimmen mittlerweile unser Leben und legen sich wie ein Vorhang über unseren Alltag, ob wir das wollen oder nicht. Diese Tatsache macht Kaltenmark im wahrsten Sinne des Wortes offen-sichtlich.
Die Erstellung eines Werkes ist jeweils gleich. Eine Fotografie wird im Pigmentdruck-Transferverfahren meist auf saugfähiges Chinapapier gedruckt, welches auf Leinwand kaschiert wird. Darüber schreibt der gelernte Bildhauer bravourös mit feinem Pinsel und monochromer Acrylfarbe seine persönlichen chronologischen Zahlenfolgen aus den Notizbüchern ab und verbindet sich dadurch regelrecht mit seinem Gegenüber. Früher hat er seine Motive mit Geschriebenem völlig überzogen, heute spart er die Figuren aus und die Zahlenreihen verschwinden dahinter, wie es auf dem Porträt-Foto gut sichtbar ist. Das Individuum tritt in den Vordergrund.
Bei seiner neuesten Werkreihe, die in Corona-Zeiten entstand, fällt auf, dass keine menschlichen Abbildungen mehr den Bildträger zieren. Die Zahlen werden auf schmucklosem Papier, welches in Obstkisten zum Auslegen genutzt wird, notiert. Hubert Kaltenmark erläutert diese Wende: "Nach dem ersten Lockdown gab es keine Bildeindrücke mehr, war man auf sich selbst zurückgeworfen. So war die Welt draußen nur noch durch Zahlen greifbar, Beihilfen, Verluste, Ansteckungen. Meine seitherigen "Numberdiaries", auf denen die Zahlen aus dem Zahlentagebuch über die Fotodrucke geschrieben sind, verloren jetzt also die Bilder und wurden nun auf Blaupapier von Bodensee-Obstkisten geschrieben. Dieses Papier verliert mit der Zeit seine Farbe und wird grau, nur die Zahlen bleiben so wie sie waren." Dieses Eingeständnis ist ernüchternd und erschreckend zugleich: bleibende Ziffern auf grauem Hintergrund. Alleine aufgrund dieser Bild- und somit gleichfalls Farblosigkeit erhoffen wir sehnsüchtig eine Pandemie-Reduktion, um wieder Leben und Farbe in unseren Alltag zu implementieren und auch die Kunst selbst.
Ilonka Czerny
Dieser Artikel ist Bestandteil unserer Reihe "Das Werk der Woche":
Teil 9: Bernhard Widmann: Frühlingserwachen und Ostern
Teil 8: Sr. Pietra Maria Löbl: „Schuld und Sühne“ / Schuld und Kunst
Teil 7: Simone Westerwinter: Das Regenbogenfarben-JA
Teil 6: Gerhard Langenfeld: Die Farbenpracht des Schwarz
Teil 5: Daniel Bräg: Eine "Kunstfigur" als Schutzpatron
Teil 4: Susanna Messerschmidt: Natur-Assoziationen in der Corona-Zeit
Teil 3: Hubert Kaltenmark: Die Welt – nur Zahlen
Teil 2: Andreas Pytlik: Das Grün der Hoffnung
Teil 1: Sabine Becker: Meditatives Kobaltblau