Lesbos: die Lektionen von Moria gelernt?

Auch nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist in der europäischen Asylpolitik wenig Besserung für die Lage der Menschen in Sicht.

Der folgende Bericht von Martin Gerner geht auf zwei insgesamt sechswöchige Recherche-Reisen im August und September 2020 auf dem EU-Hotspot Lesbos zurück, bei denen die Dokumentation der Situation von Geflüchteten und MigrantInnen sowie die Folgen des Lagerbrandes in Moria im Mittelpunkt standen.

Dieser Artikel ist der sechste Teil der Reihe Menschenrechte und Krise:

> Teil 1: Das Gebot: Solidarität und Wachsamkeit

> Teil 2: Der fast vergessene Ausnahmezustand

> Teil 3: Die Schande Europas

> Teil 4: Europäische Solidarität wäre nötig

> Teil 5: Endlich Solidarität beim Asylrecht?

> Teil 6: Die Lektionen gelernt?

 

Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria sind Politik und Medien gewohnt und zugleich besorgniserregend schnell zur Tagesordnung übergegangen. Dabei verkörpern die Feuer auf Lesbos und auf den ägäischen Inseln, von denen der Brand in Moria lediglich der bisherige Kulminationspunkt ist, an erster Stelle das Versagen der EU-Mitgliedstaaten und ihrer Asylpolitik. An zweiter Stelle jenes von griechischen Behörden, die versuchen, diese Politik umzusetzen. Und drittens das Versagen internationaler Akteure (u.a. Vereinten Nationen), die im alten wie auch im neuen provisorischen Lager Kara Tepe auf Lesbos Verantwortung tragen.

Der grundlegende Fehler der aktuellen EU-Asylpolitik/en liegt, um mit dem Migrationsforscher Gerhard Knaus zu sprechen, in einer Logik der Abschreckung. Ich konnte mich davon empirisch überzeugen, bei meinen Recherchen im alten Lager Moria wie im neuen Lager Kara Tepe.

Schon die ersten heftigen Regengüsse und leichten Stürme auf Lesbos seit dem 8. Oktober haben viele der über 1000 neuen Zelte unter Wasser gesetzt oder aus den Angeln gehoben. Sie bereiten den Menschen schlaflose Nächte. Holzpaletten, die die Zelte am Boden stabilisieren und eine Überflutung verhindern, waren nach der Katastrophe von Moria aus Angst vor Bränden Tabu. Jetzt hat man begonnen nachzurüsten auf dem, was einmal ein militärischer Schießplatz  mit Munitionsresten war. Einmal mehr zu spät und erneut mit erheblichem Schaden für die Betroffenen.

Das provisorische Lager Kara Tepe ist in Windeseile entstanden, für 10.000 Menschen auf der Straße nach dem Brand. Jeden Tag offenbart sich jetzt erneut, dass die Gesundheitsgefahren des Provisoriums Kara Tepe für Leib und Leben erheblich sind. War der Standort wirklich ohne Alternative? Nicht nur Isolierung und besser imprägnierte Zeltplanen sind ein Problem. Im neuen Lager fehlt bis zuletzt ein Anschluss an das kommunale Wasser- und Stromnetz. Ausreichender Gesundheits-, Hygiene- und Pandemie-Schutz können so nicht oder nur ungenügend eingehalten werden.

Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen hat jede Person in einem Flüchtlingslager Anspruch auf 3qm Raum. In Kara Tepe müssen sich mehrere Familien ein Zelt von 7qm teilen. Geboten laut internationaler Standards wären unter aktuellen Bedingungen 250g Seife pro Monat sowie ausreichend Wasser, zum Trinken wie zum Waschen pro Tag. Beides kann das neue Lager nicht leisten. Stattdessen waschen sich viele Bewohner im Lager, ihre Kinder und Kleider unverändert im Meer. Mitten in der EU empfinden wir dies zu Recht als eine Schande.

Corona-bedingte Abstandsgebote im Lager sind eine Illusion. Das betrifft nicht nur stundenlange Essenschlangen, sondern auch das Anstehen für jegliche Dienste und Verteilungen an die Lagerbewohner. Ärzte sorgen sich, ob die Covid-Schnelltests im Lager effektiv waren. Und warnen vor der Annahme, alle Insassen seien negativ durchgecheckt. Die meisten Zelte trennt wenig mehr als ein Meter Abstand. Auch dies offenbar gegen bestehende Sicherheitsstandards. Insassen wie Helfer drohen sich in Seilen und Heringen zu verfangen, sobald eine Panik ausbricht. 

Essensausgabe: ein würdeloser Vorgang

Essen erhalten die Menschen im Lager bis dato nur einmal am Tag, in der Regel nachmittags. Dann werden ihnen alle drei Tages-Mahlzeiten auf einmal ausgehändigt. Ein würdeloser Vorgang, der zeigt, wie wenig man aus den Protesten von Moria gelernt hat. Zeigt sich hier Abschreckung im Kleinen bzw. im Detail? Viele Menschen im Lager lehnen das Essen ab, das sie bekommen. Es sei ungenügend gekocht, so eine Klage. Andere scheinen Tag für Tag, Monat um Monat im Unklaren darüber, was sie überhaupt zu essen bekommen. Zu meiner Verwunderung steht auf den Essens-Rationen für das Lager nach wie vor nur auf Griechisch, was die Packungen enthalten. Die Angaben auf Arabisch, Farsi/Dari und Französisch auf die Pakete zu drucken, wäre ein Leichtes. Fünf Jahre nach ersten Protesten über die tägliche Nahrungsvergabe in Moria ist dies ein weiterer Skandal in einer von Kontrollverlusten geprägten Kette an Versagen.

Welche Bildung und Schulen für das neue Lager?

In Moria waren vor allem in den ersten Monaten der Corona-Pandemie und nach dem Rückzug eines Teils der Hilfsorganisationen neue Schulen entstanden. Schulen gebaut von Flüchtlingen für Flüchtlinge, in denen Tausende junger wie alter Menschen unterrichtet wurden. Viele bekamen so ein wenig Struktur und Sinn in ihren Alltag des endlosen Wartens und krankmachenden Nichttuns. Die Schulen waren ein Mittel gegen Depression und Gewalt. Im neuen Lager gibt es diese Schulen, die vor allem im sogenannten Dschungel von Moria lagen, nicht mehr. Vereinten Nationen und die Hilfsorganisationen, die im Lager den Ton angeben, sind dabei, den Unterricht im neuen Lager zu zentralisieren, im Guten wie im Schlechten. Schon jetzt aber wären zusätzliche Zelte für Unterricht, Spiel und Spaß dringend benötigt, auch für Ruhezonen im Lager, um eine weitere Traumatisierung der Menschen zu verhindern. Auch zumal nur eine begrenzte Anzahl der Bewohner das Lager täglich verlassen können.

Spannungen und Gewalt vermeiden

Aktuell gibt es Klagen über  zum Teil stundenlange Sicherheitschecks der Bewohner bei der täglichen Rückkehr in das Lager. Allerdings: Sicherheit vor Messerstechereien und physischer Gewalt im neuen Lager sind jetzt besser. Hier lag das große Versagen griechischer wie europäischer Behörden im alten Lager. So konnten Bandenwesen und Kriminalität gedeihen, auch gelegentliche Übergriffe von Rechtsgerichteten der lokalen Bevölkerung. Dazu das monate- bis jahrelange Warten auf Erstanhörung und Asyl-Entscheid, das Erscheinungsformen von Depression oder Aggression befördern kann.

Eine Entschärfung der Spannungen zwischen den Akteuren auf der Insel tut deshalb Not. Die griechische Regierung verweist darauf, dass in den vergangenen Wochen mehrere Tausend Menschen von der Insel auf das Festland ausgeschifft wurden. An einem Nachfolgelager für Moria will sie dennoch festhalten. Dann unter stärkerer EU-Aufsicht, wie es bisher wenig konkret heißt. Bis Sommer 2021 könnte es stehen: Tief im Inneren der Insel und weitab jeglicher Zivilisation. Womöglich erneut auf dem unwirtlichen Boden eines militärischen Schießstandes, wie aktuell in Kara Tepe. Kein normaler Mensch, so Kritiker, würde an diesem Ort auf Lesbos je über die Ansiedlung von Menschen nachdenken.

Die neue EU-Asylpolitik verheißt wenig Gutes

Diese Beobachtungen aus meiner aktuellen Recherche können und müssen im Licht des neuen Migrationspakts der EU-Kommission gelesen werden, der seit dem 23. September vorliegt. Auch hier ist fraglich, welche Lektionen aus Moria – einer Tragödie mit Ansage – gelernt worden sind, sofern beabsichtigt.

Statt Mittelmeer-Anrainern wie Griechenland und Italien nachhaltig solidarisch zu helfen, wird im neuen Migrationspakt ein dreifacher Modus vorgeschlagen, der faktisch zu einem ausgedehnten Verbleib von Geflüchteten in Lagern auf Lesbos führen könnte. Ein sogenanntes „Sponsorship“-Programm, mit dem sich EU-Staaten gegenseitig rückgeführte Flüchtlinge abnehmen wollen und die mit nicht erfolgten Aufnahmen von Geflüchteten verrechnet werden können, lässt erneuten Rechtsabbau befürchten.

Ein Monitoring-Verfahren an den EU-Außengrenzen soll die wachsende Zahl an Pushbacks reduzieren, deren Existenz offiziell unverändert geleugnet wird. Auch der Vorschlag sogenannter Screening-Verfahren, also Vorprüfungen auf den EU-Hotspots unter anderem für Flüchtlinge mit „niedriger Bleibeperspektive“ (unter 20 Prozent Anerkennungsquote) dürfte eher die Zahl fragwürdiger Schnellverfahren erhöhen, warnen Kritiker. Die neue EU-Asylpolitik verheißt demnach wenig Gutes. Zu befürchten steht, dass das Asylrecht weiter eingeschränkt, rechtsstaatliche Prinzipien unterlaufen werden. Neue Ausbrüche von Gewalt auf Lesbos erscheinen nach meinem Eindruck deshalb jederzeit möglich. Geboten erscheint deshalb mehr denn je die rasche Aufnahme der auf Lesbos und auf den übrigen EU-Hotspots Lebenden zunächst auf das griechische Festland. Dann eine Verteilung auf die EU-Mitgliedstaaten nach einem festen Schlüssel. Griechenland ist groß – aber arm. Europa ist grösser – und absehbar reich genug.

Was das Versagen Europas angeht, erscheint – neben einer Änderung der Asylpolitik, die Menschenrechte und juristische Standards einhält – die Einrichtung einer EU-Untersuchungskommission wünschenswert. Auch, um den Verlauf von über 2,5 Milliarden Euro nachzuzeichnen, die in den vergangenen Jahren nach Griechenland geflossen sind für Flüchtlingshilfe. Die möglichen Täter des Brandes in Moria dingfest zu machen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europas inhumanes Grenzschutzsystem viele Menschen unverschuldet in Not und Tod gebracht hat. Um mit Wolf Biermann und seiner Ermutigung zu sprechen: „Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit. Die allzu hart sind, brechen... Du, lass dich nicht erschrecken, in dieser Schreckenszeit. Das woll'n sie doch bezwecken, dass wir die Waffen strecken...“
 

(Martin Gerner, Konfliktforscher, Privatdozent, Autor)

Info: Die Stadtkirche Göppingen zeigt bis zum 6. November die Ausstellung MEMENTO Moria von Martin Gerner in Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz, dem Diakonischem Werk, der Caritas sowie dem Kreis Göppingen nazifrei und Amnesty International Göppingen.

Essensausgabe im neuen Lager Kara Tepe

Besteck und Reste persönlicher Gegenstände im abgebrannten Lager Moria auf Lesbos