Der fast vergessene Ausnahmezustand

Griechenland und die Geflüchteten – das ist ein Ausnahmezustand im Corona-Ausnahmezustand – und eine absehbare Katatsrophe. Eine flüchtlingsrechtliche Analyse von Robert Nestler.

Dieser Artikel ist der zweite Teil der Reihe Menschenrechte und Krise:

> Teil 1: "Das Gebot: Solidarität und Wachsamkeit"

> Teil 2: "Der fast vergessene Ausnahmezustand"

> Teil 3: "Die Schande Europas"

> Teil 4: "Europäische Solidarität wäre nötig"

> Teil 5: "Endlich Solidarität beim Asylrecht?"

> Teil 6: "Die Lektionen gelernt?"

 

Das Coronavirus hat den Flüchtlingsschutz in Griechenland in einen Ausnahmezustand versetzt. Einen Ausnahmezustand, der einem Ausnahmezustand nachfolgte – initiiert durch die Ankündigung des türkischen Präsidenten von Ende Februar 2020, die Grenzen zur Europäischen Union ‚zu öffnen‘. Doch auch dieser war nur die Ergänzung einer bestehenden Ausnahmesituation, die vor mittlerweile vier Jahren die EU-Türkei Erklärung ausgelöst hatte. Ein dreifacher Ausnahmezustand also, der den Begriff ‚Flüchtlingsschutz‘ ad absurdum führt und sehenden Auges auf eine Katastrophe zurast. Jede Empfehlung, Abstand zu halten und sich sozial zu distanzieren, ist in einer Umgebung, in der 40 000 Menschen in Lagern ‚leben‘, die für 7000 ausgelegt sind, nicht einmal eine Illusion. Jede und jeder weiß, dass dies unmöglich ist. Trotzdem wird es hingenommen. Recht und Gesetz scheinen Griechenland und die EU genauso wenig zu interessieren, wie europäische Werte ‚Achtung der Menschenwürde‘ und ‚ Wahrung der Menschenrechte‘ (Art. 2 EU-Vertrag). Eine vermeintliche Chance für Mitgliedstaaten, sich solidarisch zu zeigen, mündet in Lippenbekenntnissen. Dabei trägt die EU an der jetzigen Situation erhebliche Mitverantwortung.

Ausnahmezustand I, seit 2016: Hotspot-Konzept und EU-Türkei Erklärung

Nachdem die EU 2015 in der Europäischen Migrationsagenda sogenannte Hotspots ermöglicht hat, wurden fünf davon auf den griechischen ostägäischen Inseln etabliert. Damit einher gingen ‚Notfall-Umverteilungsbeschlüsse‘, die auf Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union), die ‚Fehlallokationen des Dublin-Systems‘ ausgleichen sollten. Die EU-Hotspots sollten Zentren sein, aus denen zügig umverteilt wird. Dies änderte sich vor vier Jahren. Die EU-Türkei Erklärung, auf Grundlage derer alle neuankommenden Personen in die Türkei zurückgeführt werden sollten, machte aus Umverteilungs- Rückführungszentren. Von nun an wurde, unter Beteiligung der Agentur EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen), geprüft, ob die Türkei sicherer Dritt- oder erster Asylstaat für Einzelne ist, was eine Rückführung eben dort hin ermöglichen sollte (vgl. Art. 35, 38 Asylverfahrensrichtlinie). Damit einher ging eine vermeintlich einfache Schlussfolgerung: Personen können nur abgeschoben werden, wenn man ihrer habhaft werden kann. Die EU-Hotspots wurden zuerst zu Haftanstalten. Nachdem schnell deutlich wurde, dass eine Rückführung innerhalb eines Monats, wie als Haftdauer im – nur zur Umsetzung der Erklärung verabschiedeten – griechischen Asylgesetz vorgesehen, nicht durchgeführt werden konnte, wurde festgelegt, dass Personen die jeweilige Insel nicht mehr verlassen dürfen (Residenzpflicht, Art. 7 Abs. 2 Aufnahmerichtlinie).

Das Abkommen war zum Scheitern verurteilt und ist offensichtlich gescheitert. Nicht nur, weil die Türkei aus diversen Gründen kein sicherer Dritt- oder erster Asylstaat ist, etwa, weil sie Syrerinnen und Syrer in ihr Herkunftsland abschiebt. Sondern vor allem auch, weil es nicht die gewünschten Ergebnisse liefert. Seit 2016 wurden laut UNHCR-Zahlen nur 43 syrische Staatsangehörige aufgrund der Annahme, die Türkei sei erster Asyl- oder sicherer Drittstaat, in die Türkei zurückgeführt. Insgesamt wurden nur 2000 Personen abgeschoben, viele davon, ohne dass ihr Antrag geprüft wurde, weil gar kein Asylgesuch registriert worden war. 2019 wurden 195 Menschen zurückgeführt, bei weit über 120 000 Ankünften auf den ostägäischen Inseln.

Das Abkommen führt also dazu, dass die Inseln zur Sackgasse geworden sind. Es führte zu Zuständen, die mit Worten nicht zu beschreiben sind: zu Kindern in Zelten oder in Haft, zu ‚Behausungen‘ aus Pappkartons, die bei Wind umfallen und nach Regen nicht mehr existieren, zu unglaublichem Gestank wegen fehlender Kanalisation oder, weil etwa auf Chios der EU-Hotspot halb Verwaltungsgebäude, halb Müllpresse ist. Es führte zu unmenschlichen Bedingungen, zu einer Toilette für 300 Menschen. Dennoch haben Emmanuel Macron und Angela Merkel jüngst über die Fortsetzung mit dem türkischen Präsidenten diskutiert – sie verhandelten wegen Corona per Videokonferenz darüber, dass Menschen weiter in Bedingungen leben, die jede Corona-Prävention der Lächerlichkeit preisgeben.

Ausnahmezustand II, seit Februar 2020: ‚Grenzöffnung‘

In dieser Situation, Ende Februar diesen Jahres, vermeldete der türkische Präsident, dass die Türkei die ‚Türen‘ zur EU nicht länger geschlossen halte, es würden ‚Millionen‘ kommen. Türkische Kräfte trugen dazu bei, dass rasch tausende Menschen an Land- und Seegrenzen nach Griechenland einzureisen versuchten. Die Reaktion Griechenlands folgte auf dem Fuße: die Grenzen zur Türkei seien ‚nun geschlossen‘. In den Fokus geriet weniger die See-, als vielmehr die Landgrenze, insbesondere der Grenzübergang zwischen Kastanies und Edirne. Die griechische Polizei setzte Tränengas ein und ging gewaltsam gegen Schutzsuchende vor. An der ‚grünen Grenze‘ wurde eilig eine Militärübung anberaumt, bei der scharf geschossen wurde, und der Ausbau des Grenzzauns angekündigt.

Die Situation eskalierte schnell. Viele derjenigen, die die Grenze trotz der Sicherheitsvorkehrungen überquerten, wurden ohne Verfahren zurückgeschoben (‚Push-Backs‘). Andere wurden inhaftiert und der illegalen Einreise beschuldigt, Strafen von 10 000 Euro und drei Jahren Haft wurden regelmäßig angedroht. Art. 31 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet das. Andere werden wohl – bis zur Abschiebung ohne Verfahren – in einem von der New York Times dokumentierten Geheimgefängnis festgehalten. Von menschenunwürdigen Push-Backs, bei denen Frauen sexuell belästigt werden und andere sich ausziehen müssen und körperlich schwer misshandelt werden, wird berichtet. Die von griechischen Kräften eingesetzte rohe Gewalt ist enorm, das Recherchekollektiv Forensic Architecture hat jedenfalls einen Grenztoten nachgewiesen, von weiteren ist die Rede.

Aussetzung des Asylrechts

Im direkten Anschluss an die Ankündigung Erdoğans am 2. März 2020 erließ Griechenland einen legislativen Akt, der –rückwirkend zum 1. März 2020 – die Beantragung von Asyl unmöglich machte und die Rückführung Schutzsuchender ohne Verfahren anordnete. Sofern angemerkt wird, dies sei mit der Situation in Deutschland 2015 vergleichbar – nicht ‚nur‘ die formale Antragstellung wird zeitlich verzögert, sondern Betroffene werden von allen Garantien für Asylsuchende ausgeschlossen. Ohnehin würde man annehmen, dass es keiner Erläuterung bedarf, dass eine ‚Aussetzung des Asylrechts‘ und eine Rückführung ohne individuelle Prüfung europa-, flüchtlings- und menschenrechtlich verboten ist. Der griechische Premierminister hatte sich wohl auf Art. 78 Abs. 3 AEUV berufen – worauf 2015 die ‚Relocation‘-Beschlüsse gründeten. Einerseits bietet dieser keine Grundlage für eine Aussetzung nicht-derogierbarer rechtlicher Verpflichtungen, andererseits kann ihn nur der Europäische Rat auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung des Parlaments aktivieren.

Beifall der Europäischen Union

Das Bedrückende ist auch nicht, dass die Maßnahmen rechtswidrig sind. Rechtswidriges Verwaltungshandeln ist Teil des Rechtstaats und kann Gegenstand gerichtlicher Überprüfung werden. Indes sind die Aussetzung des Asylrechts und das Verhalten griechischer Behörden nicht nur eine rechtswidrige Einzelmaßnahme, sondern evident rechtswidrig. Jede und jeder weiß das. UNHCR hat dies früh deutlich gemacht, der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten Griechenland kürzlich deutlich dazu aufgefordert, sich an Recht und Gesetz zu halten. Es ist kaum vorstellbar, dass es die griechische Regierung für möglich hält, dass sie in den Grenzen des rechtlich Erlaubten handelt. Und sie tut es trotzdem. Und wurde dafür von Ursula von der Leyen, die eilig nach Griechenland gereist war, als ‚Schild Europas‘ gelobt. Die personifizierte ‚Hüterin der Verträge‘ ( Art. 17 EUV) hat die Werte der Union, so deutlich muss man es sagen, öffentlichkeitswirksam dem Verfall preisgegeben. Damit, ob das Vorgehen Unionsrecht verletze, setzt man sich nicht auseinander.
 

Die Geister, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rief

Und doch werden (vermeintlich) juristische Diskussionen geführt. Nämlich darüber, dass das gewaltsame Verhalten der griechischen Behörden an der Grenze zur Türkei im Einklang mit dem jüngsten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (ND & NT) stünde. Dort hatte das Gericht überraschend entschieden, dass die direkte Verbringung von Schutzsuchenden aus Spanien nach Marokko nicht gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoße. Manfred Weber übertrug sein Verständnis des Urteils auf die griechisch-türkischen Grenze: das Vorgehen sei in Ordnung, weil es sich bei den am Grenzübergang Schutz Suchenden um ‚keine individuellen Menschen‘ handele. Zu diesem Verständnis sei angemerkt, dass menschenunwürdige Push-Backs, bei denen sich Personen nackt ausziehen müssen, immer gegen Art. 3 EMRK verstoßen, und rohe Gewalt, bei der unter Einsatz scharfer Munition Tote billigend in Kauf genommen werden, in der Regel Art. 2 EMRK verletzt. Zum anderen ist das Urteil auf die vorliegende Situation nicht übertragbar, in der Personen in der Regel schon die türkische Zollstelle überquert haben. Es betraf das Verbot der Kollektivausweisung aus Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK. Dieses hat Griechenland nicht ratifiziert. Das Urteil setzte zudem voraus, dass Personen an einer Stelle rechtmäßig Schutz beantragen können (Rn. 206 ff.) – dies ist an der türkisch-griechischen Grenze unmöglich. Schließlich spielte das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aus prozessualen Gründen keine Rolle – dies gebietet indes eine Einzelfallprüfung, ob bei einer Rückführung eine Behandlung droht, die Art. 3 EMRK zuwider läuft. Dass dieses Urteil nun derart gebraucht wird, sind die Geister, die der EGMR nicht zuletzt etwa mit der jedenfalls unglücklichen Pressemitteilung („Spain did not breach the Convention in returning migrants to Morocco who had attempted to cross the fences of the Melilla enclave“) rief. Dies schien auch dem Gericht klar gewesen zu sein, wies es doch untypisch explizit darauf hin, dass man annehme, dass die Geltung des Grundsatzes des non-refoulement von einem weiten Konsens in der Staatengemeinschaft getragen sei (Rn. 232). Jedenfalls scheint davon nur einen Monat später nicht viel übrig zu sein.
 

Nicht-Registrierung von Asylanträgen 

Denn genau diesen Grundsatz verletzen Push-Backs und verletzt die Abschiebung ohne Einzelfallprüfungen offensichtlich. Alle auf den ostägäischen Inseln Ankommenden werden nicht in die Lager gebracht, sondern im Hafen, in untauglichen Häusern oder, wie für lange Zeit auf Lesbos, auf einem Kriegsschiff inhaftiert. Sie erhalten keinerlei Garantien, die Aufnahme- und Asylverfahrensrichtlinie vorsehen. Stattdessen: Keine Betten, Duschen, taugliche Nahrung. Gleich nach Ankunft erhalten Sie eine Benachrichtigung, dass sie abgeschoben werden. Tatsächlich möglich sein wird das – auch aus tatsächlichen Gründen – aller Voraussicht nach nicht. Die Türkei hat jüngst verweigert, Personen zurückzunehmen. Abschiebungen in Herkunftsländer finden aus Griechenland in der Regel nicht statt. Und so ist die Inhaftierung auf Kriegsschiffen und anderswo vor allem eines: eine neue Dimension der Abschreckung.
 

Ausnahmezustand III, seit März 2020: Die vorhersehbare Katastrophe

Zum status quo hinzu tritt nun die Corona Pandemie. Athen ist menschenleer. Abstand ist das wichtigste Gebot. Auch für die über 40 000 Personen auf den griechischen Inseln? Die Camps sollen nicht verlassen, sondern ‚versiegelt‘ werden. Personen dürfen nicht ins Krankenhaus, die Krankenversorgung ist ohnehin vollkommen unzureichend. Ein schwer Erkrankter, der seit Wochen nicht essen konnte und häufig ohnmächtig wurde, ist, trotz mehrfacher Versuche, nicht bis zu medizinischem Personal im EU-Hotspot Chios vorgedrungen. Der EGMR hat Griechenland nun im Eilverfahren (Rule 39) verpflichtet, den Zugang zu Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Zudem hat sich das Gericht erkundigt, welche Maßnahmen Griechenland hinsichtlich des Corona-Virus in den Camps ergriffen hätte. Nun wurde ein Notfallplan vorgestellt: jegliche finanzielle Unterstützung wird ausgesetzt, bis Geldautomaten in den Camps aufgestellt werden. In den Lagern sollen Verkaufsstellen eröffnet‚ Gesundheitsstationen‘ installiert und Quarantäne-Bereiche geschaffen werden. Vor allem aber: niemand darf die Lager bis zum 31. Mai verlassen, auch nicht für einen Krankenhausbesuch. Die Katastrophe ist absehbar.
 

Fehlende Solidarität

Für Griechenland ist es unmöglich, der Situation Herr zu werden. Die Lager sind Lager der EU. Und die EU ist es, die sich diesen dringenden Fragen stellen muss. Bisher ist sie kaum zu vernehmen. Die Bundesrepublik hatte, schon bevor Corona auf die Tagesordnung trat, zugesichert, im Rahmen einer ‚Koalition der Willigen‘ bis zu 1500 Minderjährige und Familien aufzunehmen. Wie viele Personen auf Deutschland entfielen, bleibt unklar. Das Vorhaben liegt wahlweise ‚auf Eis‘ oder soll ‚zügig umgesetzt‘ werden. Klar ist: 1500 Personen mögen ein erster Schritt sein. Sie wären ein willkommenes Zeichen gewesen in Zeiten, in denen die Lager zwar überfüllt sind, sich die hier beschriebenen Ausnahmezustände II und III aber noch nicht angeschlossenen haben. Zwischenzeitlich hat sich die Situation bedrohlich geändert. Auch, wenn 1500 aus den Camps umverteilt werden, verbleiben noch über 40 000 in der Enge der Lager. Eine Enge, die, auch ohne medizinische Expertise mitzubringen, ein Paradies für das Virus sein dürfte. Eine Enge, die alle betrifft: Frauen, Kinder, Alte, Schwache, die teilweise zwei Jahre ohne feste Behausung in Zelten gelebt haben – die ‚Risikogruppe‘. Die größte anzunehmende Katastrophe ist absehbar, Tote sind absehbar. Und der Wille, diese zu vermeiden, scheint nicht über Lippenbekenntnisse und über Versuche, politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, hinauszugehen.

Dass Griechenland vor einem Monat Unionsrecht, Flüchtlingsrecht und Menschenrechte aufgekündigt hat, haben die meisten mittlerweile vergessen. Dies verheißt nichts Gutes für die Reformbemühungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.
 

Zur Person:

Robert Nestler ist juristischer Koordinator bei Equal Rights Beyond Borders. Die Organisation betreibt Büros in Griechenland in Athen und auf Chios. Viele der Darstellungen beruhen auf auf seinen eigenen Erfahrungen. Er ist der Akademie über das Netzwerk Migrationsrecht seit Jahren als engagierter Experte und Kooperationspartner verbunden.

 

Auch viele Kinder leben im griechischen Lager Moria unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Unser Autor Robert Nestler ist aus eigener Anschauung davon überzeugt, dass den Geflüchteten in Griechenland eine humanitäre Katastrophe droht.