Das Regenbogenfarben-JA
Da Sie die großartigen motivierenden Werke unserer Ausstellung "Kunst ist Lebensbereicherung" derzeit nicht vor Ort betrachten können, kommen wir zu Ihnen. Heute mit Simone Westerwinter.
Im Tagungszentrum Hohenheim hängt ein kleines, relativ dickes Leinwand-Werk (O.T. 2006, Acryl auf Leinwand, 40 x 30 x 3 cm) als Solitär an einer Beton-Wand. Es handelt sich dabei um ein Schriftbild, auf dem ein lapidares Wort geschrieben steht: JA. Diese zwei Buchstaben wurden durch eine aufliegende Schablone durch eine umliegende Farbgebung im Negativ gestaltet. Eine Negativform, die Positives bezeichnet. Die hellsten aufgesprayten Farben wie Gelb, Orange und Neonrot treffen sich horizontal in der Bildmitte. Ein dunkles Blau und Violett wirken am oberen und unteren Leinwandende einrahmend. Insgesamt sind es die Regenbogenfarben, welche wie eine abstrahierte Landschaft erscheinen. Das in Weiß gehaltene "Ja" hebt sich gut vom Kolorit ab. Dieses Werk wurde von der in Besigheim lebenden Künstlerin Simone Westerwinter geschaffen. Das besagte deutsche Wort "Ja" drückt auch im künstlerischen Kontext bei Westerwinter das aus, wie es im Sprachgebrauch Verwendung findet. Es ist eine Zustimmung auf eine Entscheidungsfrage, die in der Regel mit "ja" oder "nein" beantwortet werden kann. Ein klares eindeutiges "Ja" ist kein "Nein" oder ein "Vielleicht". Eine besondere Bedeutung erhält es beim Eheversprechen, wenn das Brautpaar, sich der gegenseitige Zustimmung bewusst, die Ehe stiftet. Eine weitreichende lebensverändernde Entscheidung wird so herbeigeführt. Mit diesem bejahenden Wort positioniert man sich, wird ein Standpunkt eingenommen, an dem man gemessen werden kann. Die Ja-Arbeiten entstehen bei Simone Westerwinter seit 1991 in verschiedenen Medien, Formaten und Farben. In einer Ausstellung in Tuttlingen konnten sich mutige Besucher und Besucherinnen sogar ein kleines Ja, welches von der Künstlerin gestaltet worden war, kostenfrei von einem professionellen Tattoo-Stecher in die Haut eingravieren lassen. Der menschliche Körper wird somit selbst zum performativen Statement. Es gibt auch einige Nein-Arbeiten von Westerwinter, aber diese findet die Künstlerin selbst im „Sinne der Auslöschung“ weniger umfassend. Ein "Ja" bei Simone Westerwinter ist gleichfalls eine Standortbestimmung, ein Ja zum Leben, ein Ja zum Sein. Westerwinter schreibt dazu: "Leben heißt Bewegung und Veränderung. Alles Leben im Universum ist eine Folge und Verkettung von unendlich vielen Entscheidungen, die bewusst oder unbewusst stattfinden. Wer die Entscheidungen trifft ist eine philosophische/theologische Sinn-Frage und wird von jedem individuell beantwortet. Momentan mutet uns Corona und der Lockdown einiges zu. Am liebsten würde man nein dazu sagen. Unser Weltbild gerät aus den Fugen, wir müssen es mal wieder überprüfen und erneuern. Resilienz ist gefragt. Mein JA-Bild scheint hierzu Stellung zu nehmen, doch es ist lange vor Corona entstanden." Auch ein entschiedenes Ja muss im Zuge der Selbstvergewisserung immer wieder reflektiert und hinterfragt werden.
Eine gleichfalls positive lebensbejahende Grundstimmung wurde in der gynäkologischen Ambulanz, dem Brustzentrum und dem Entbindungsbereich im Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart, angestrebt. Hier hat Simone Westerwinter ein Gesamtkonzept aus Rauminstallationen und Einzelbildern geschaffen, die sich gegenseitig unterstützen und eine Positiv-Spirale initiieren sollen. Auf der Homepage des Krankenhauses kann man dazu lesen: "Die Fröhlichkeit der Form- und Farbwahl in Kombination mit der offenen Grundhaltung, die durch das eingeschriebene ‚Ja‘ angeregt wird, unterstützt die positive Einstellung der werdenden Mütter sowie der Mitarbeiter und Besucher." Die darin enthaltene Intention ist nicht nur werbewirksames Wunschdenken, sondern tatsächlich beim Betrachter und der Betrachterin der Krankenhaus-Station spürbar. Die kreisrunden Formen in den Fluren, welche symbolisch die Einheit, das Absolute und das Vollkommene ausdrücken, in Kombination mit dem intensiven Kolorit gleichfalls in den Regenbogenfarben und mit einzelnen Ja-Worten gestaltet, strahlen eine große Harmonie und emotionale Wärme aus, die die Schwere und Nüchternheit eines Krankenhauses aufhebt. Kunst wird hier als Therapeutikum eingesetzt – ohne Risiken und Nebenwirkungen.
Die Arbeiten mit den Regenbogenfarben gehören neben den Ja-Bildern in eine weitere wichtige Werkgruppe Westerwinters. Der Regenbogen als künstlerisches Motiv ist ein Symbol der Hoffnung, des Aufbruchs und der Veränderung. In der Kunstgeschichte wurden Regenbögen mit den charakteristischen Farben oft als Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und den Menschen von Künstlern verwendet. Die Regenbogenflagge steht für die italienische Friedensbewegung oder findet am Christopher Street Day Verwendung. Auch sie demonstriert Aufbruch, Veränderung, Frieden, Toleranz, Akzeptanz, Diversität, Hoffnung und Sehnsucht. Auf dem Porträtfoto ist Simone Westerwinter mit ihrer neuesten Teppich-Bodeninstallation "Iris/over the rainbow", 2020/21, im Museum Kleihusbau, Kornwestheim, zu sehen. Noch bis 27. Juni 2021 kann man den Regenbogenteppich in der Ausstellung "Roland Wesner – Regenbogenfalle" begehen und die positiven Energien des Westerwinterschen Farbspiels aufnehmen – gleich einer Regenbogendusche von unten.
Ilonka Czerny
Dieser Artikel ist Bestandteil unserer Reihe "Das Werk der Woche":
Teil 9: Bernhard Widmann: Frühlingserwachen und Ostern
Teil 8: Sr. Pietra Maria Löbl: „Schuld und Sühne“ / Schuld und Kunst
Teil 7: Simone Westerwinter: Das Regenbogenfarben-JA
Teil 6: Gerhard Langenfeld: Die Farbenpracht des Schwarz
Teil 5: Daniel Bräg: Eine "Kunstfigur" als Schutzpatron
Teil 4: Susanna Messerschmidt: Natur-Assoziationen in der Corona-Zeit
Teil 3: Hubert Kaltenmark: Die Welt – nur Zahlen
Teil 2: Andreas Pytlik: Das Grün der Hoffnung
Teil 1: Sabine Becker: Meditatives Kobaltblau