Das ökologische Gleichgewicht ist gestört
Die Landwirtschaft steht im Verdacht, schuld am Insektensterben zu sein. Experten verweisen allerdings darauf, dass dieses ökologische Problem gesamtgesellschaftflich angegangen werden muss.
Video-Dokumentation im Forum Grenzfragen
Der Titel „Insektensterben: Sommer ohne Summen?“ war bewusst mit einem Fragezeichen versehen; denn nicht um Skandalisierung, sondern vor allem um Erkenntnisgewinn sollte es gehen bei der Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Nachgefragt“ im Tagungszentrum Hohenheim. Doch die Experten waren sich im Kern einig: Es gibt ein tiefgreifendes Insektensterben. Das ökologische Gleichgewicht wird dadurch massiv gestört, weshalb gegengesteuert werden muss. Erste politische Schritte dafür sind getan, allerdings fehlt es in vielerlei Hinsicht noch an belastbaren Daten für eine zielgenaue Gegenstrategie. Unterschiedlich bewertet wurde die Rolle der Landwirtschaft; einig war man sich allerdings darin, dass es nicht darum gehen könne, „Landwirt-Bashing“ zu betreiben. Denn ohne die Landwirte lasse sich das als gravierend beschriebene Problem nicht lösen.
Professor Dr. Johannes Steidle vom Institut für Zoologie der Universität Hohenheim verwies auf dramatische Befunde in der so genannten Krefelder Insektenstudie. Von 1989 bis 2016 wurden dafür an 63 Standorten Insektenfallen ausgezählt. Darin fanden sich zu Beginn der Studie etwa zehn Gramm Insekten pro Tag, am Ende waren es nur noch zwei Gramm pro Tag – ein Rückgang von 80 Prozent. Besonders drastisch ist der Rückgang bei Ameisen, Wildbienen, Wespen, Raubfliegen und Großschmetterlingen.
Der Rainfarn verschwindet - und mit ihm die Insekten
Steidle, der Leiter des Fachgebiets Tierökologie und Direktor des Zoologischen und Tiermedizinischen Museums ist, diskutierte die populärsten Ursachen, die für das Insektensterben ins Feld geführt werden: den wachsenden Verbrauch an Verkehrs- und Siedlungsflächen, die Klimaveränderung, zunehmende Lichtverschmutzung und Windkrafträder. Keines der genannten Ursachen sei freilich so verdächtig für das Artensterben wie die Landwirtschaft. 51 Prozent der Fläche Deutschlands werden von ihr genutzt, rund 30 Prozent der Fläche sind Wald, nur knapp 20 Prozent entfallen auf die restliche Nutzung durch Verkehrswege und Besiedelung. „Es geht aber nicht darum, die Landwirtschaft an den Pranger zu stellen, sondern das als gesamtgesellschaftliches Problem zu betrachten“, sagte Steidle.
Neben der intensiven landwirtschaftlichen Produktion machte Steidle auch strukturelle Veränderungen verantwortlich für das Insektensterben und erläuterte dies am Beispiel Rainfarn. 24 Insekten fressen allein diese und artverwandte Formen der Pflanze, die seit jeher an Wegrändern und Feldrainen wuchs. Durch die Flurbereinigung, also das Zusammenlegen von landwirtschaftlichen Flächen, ihre intensive Nutzung bis an den Wegrand und das häufige, radikale Mähen kommunaler Grünränder verschwinde diese Pflanze zunehmend. Die Folgen für das Öko-Gleichgewicht seien dramatisch, sagte Steinle: „Wir haben rechnerisch sieben bis zehn Jahre Zeit, bis die Insekten verschwunden sind.“
Gerhard Glaser, Vizepräsident des Bauernverbandes in Baden-Württemberg und mit Leib und Seele Bauer in Schemmerhofen (Kreis Biberach), zeigte sich angesichts der Vorwürfe beim Thema Insektensterben schon froh, „dass man mit uns spricht und nicht nur über uns als Hauptverdächtige“. Augenzwinkernd provozierte Glaser mit der paradoxen These, es könne auch ein zu erfolgreicher Umweltschutz mit einer überzogenen Sauberkeitsvorstellung verantwortlich für das Insektensterben sein.
Landwirtschaft fühlt sich allein gelassen mit dem Problem
Er erinnerte daran, dass es in seinem Dorf vor einigen Jahrzehnten noch 100 Höfe mit 100 Misthaufen gegeben habe, die so viele Fliegen angezogen hätten, dass sie reichlich auch die Küchen bevölkert hätten: „Artenvielfalt braucht Dreck“, sagte Glaser, heute aber gebe es in seinem Ort nur noch vier Höfe, sämtliche Misthaufen seien verschwunden.
Von Anekdotischem einmal abgesehen belegte Glaser auch quantitativ, dass „Bauern kompetent und zu Änderungen bereit sind“. So sei der Nitratgehalt um 25 Prozent und die Treibhausgase um 15 Prozent gesenkt, der Antibiotikaeinsatz bei der Tiermast sogar um 50 Prozent reduziert worden. Glaser verwies darauf, dass heute sehr viel weniger und vor allem sehr viel zielgenauer Pflanzenschutz betrieben werde.
Allerdings benannte er ein Grundproblem: Landwirte müssten bei ihrer Produktion zwar deutsche Kosten bezahlen, erzielten aber nur Weltmarktpreise: „Wir werden dabei zermahlen“, sagte er und kritisierte, dass in Deutschland allein zehn Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen werden. Er forderte, beim Artenschutz nicht nur die Landwirtschaft, sondern alle möglichen Ursachen ins Visier zu nehmen. Dazu gehöre etwa, dass man untersuche, welche negativen Wirkungen Feinstaub, Elektrosmog und Lichtverschmutzung haben. Außerdem gelte es, Hausgärten wieder naturnah statt mit Schotter zu gestalten und den Grünrändern wieder mehr Beachtung zu schenken.
Landesregierung stockt Mittel für Naturschutz deutlich auf
Ministerialdirigent Karl-Heinz Lieber vom baden-württembergischen Ministerium für Umwelt, Klima und Energie erläuterte, inwieweit sich die Landesregierung für die Artenvielfalt engagiere. Sie habe ihren Einsatz bis 2021 von 30 auf 90 Millionen für Maßnahmen und Personal verdreifacht und verfolge dabei sieben Oberziele mit über 100 Einzelzielen, die vom Moorschutz bis zum Biotopverbund reichten. Beispielsweise gebe es eine Strategie für die Reduzierung von Pestiziden und Fördermaßnahmen zur Begrünung von Brachflächen.
Das Problem sei allerdings, dass die Dynamik beim Artensterben größer sei. Deshalb versuche man, die Kräfte in Landschaftserhaltungsverbänden zu bündeln. Im Doppelhaushalt 2018/19 seien dafür zusätzliche 30 Millionen Euro vorgesehen. Weitere sechs Millionen Euro sollen für ein wissenschaftliches Monitoring ausgegeben werden, damit die Datenbasis für die Ursachen des Insektensterbens konsolidiert, aber auch die Wirksamkeit der Gegenmaßnahmen überprüft werden kann.
Auch das Verkehrsministerium bringe sich ein, indem es sich beispielsweise dem Thema Straßenbegleitgrün widme, erläuterte Lieber. All diese Vorhaben ließen sich allerdings nur gemeinsam mit den Menschen vor Ort verwirklichen. (Barbara Thurner-Fromm)