Corona ist wirklich nicht die Pest!

In der Berichterstattung über das Coronavirus werden oft Parallelen zur Pest gezogen. Der Medizinhistoriker Professor Martin Dinges beleuchtet den historischen Zusammenhang.

Als sich Anfang Februar die Nachrichten über die Corona-Epidemie in China häuften, kam mir plötzlich der Gedanke, dass ich das alles schon einmal früher „erlebt“ hatte, allerdings als Thema der Seuchengeschichte. Seit den 1990er Jahren hatte ich mich intensiv mit den Pestzügen in Europa und dem angrenzenden Mittelmeerraum befasst. Ähnlich wie im Spätmittelalter waren nun in Wuhan wieder die ersten Hinweise auf den Ausbruch der Epidemie unterdrückt worden. Der Arzt, der dort früh gewarnt hatte, war gemaßregelt worden. Später starb er und wurde in den Medien zu einem Kristallisationspunkt der Kritik an der Regierung. Außerdem gab es Bilder von Ausgangssperren, einige Orte in der Umgebung der Stadt richteten schon wilde Kontrollposten ein, bevor die ganze Provinz offiziell abgesperrt wurde. Berichte über derartige Selbsthilfemaßnahmen von Dorfbewohnern hatte ich das letzte Mal über Katalonien im 17. und Russland im 18. Jahrhundert gelesen. Also war das alles gar nicht mehr nur ferne Geschichte, sondern wurde zur Gegenwart! Abends gab es in den Nachrichten dann „Seuchengeschichte live“ – aber eben zunächst nur als Medienereignis.

Ferne Ereignisse bekommen wir heute zeitnah durch die Nachrichten und – seit dem Vietnamkrieg – insbesondere durch einprägsame Bilder vermittelt: In Wuhan sollte die Handlungsfähigkeit der Partei- und Staatsspitze durch massives Eingreifen demonstriert werden: das nächtliche Ballett der Bagger auf der Baustelle für das Sonderkrankenhaus, das in Rekordzeit aufgebaut wurde; radikale Quarantäne-Maßnahmen, die umfassende Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Auffallend war der volle Einsatz aller elektronischen Überwachungsmöglichkeiten, auch sonst ein Markenzeichen Chinas. Irgendwie wirkten diese Nachrichten und Bilder von Gesundheitskontrollen mithilfe von Smartphones aber auch etwas surreal.

Als dann die Lufthansa sehr früh und gleich für eine ziemlich lange Periode noch vor den anderen Airlines ihre China-Flüge strich und einige zurückgekehrte Mitarbeiter einer bayrischen Firma als erste Fälle in der Bundesrepublik isoliert wurden, bekamen die Fernsehbilder für mich einen höheren Realitätsgehalt. Sie wurden konkreter, weil mir die Orte bekannt vorkamen. In der zweiten Woche trafen besorgniserregende Nachrichten aus der Lombardei und Venezien ein. Am Sonntag unserer Abreise aus den Schneeferien meinte der Hotelier, nun würden die Schulen in Südtirol ab Montag geschlossen. Da war Corona endgültig in „unserer“ Welt, nicht mehr nur im fernen China. Aus der Medienwirklichkeit war erlebte Wirklichkeit geworden.

Mittlerweile stecken wir alle mittendrin – erst mit der Schließung aller Schulen und Kultureinrichtungen, dann der Geschäfte und schließlich mit den Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum. Aber die eigenen Alltagserlebnisse bleiben durch Medienbilder, diesmal aus Deutschland, überlagert. Imaginierte und erlebte Wirklichkeit vermischen sich – dazu trägt die Gerüchteküche in den oft asozialen Medien erheblich bei. Falschnachrichten und Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urständ – sie lösen Ängste aus und machen den Supermärkten, Ärzten und vielen anderen das Leben zusätzlich schwer.

Der geistige Nährboden, auf dem dies alles gedeihen kann, sind historische Erfahrungen unserer Gesellschaften. Die mögen zwar lange zurückliegen, aber bei jeder Epidemie werden recht schnell die Horrorbilder aus Pestzeiten wieder mobilisiert. Selbstverständlich gab es zwischendurch viele andere, tödliche Seuchen. Cholera und die Spanische Grippe – mit fast 50 Millionen Toten – waren die wichtigsten. Aber auch deren Visualisierung variierte lediglich den Bildervorrat aus dem Pestarsenal und entwickelte ihn hier und da weiter. Das grundlegende Deutungsmuster, das Paradigma aller Vorstellungen von Seuchen bleibt bei uns die Pest.   
Deshalb will ich im Folgenden das aktuelle Geschehen zum Anlass nehmen, Parallelen und Unterschiede zu den Pestzeiten herauszuarbeiten. Vielleicht kann das dazu beitragen, die aktuelle Lage etwas besser einzuordnen.

Die gerne vermiedene Erkenntnis, dass es ernst wird

Auf eine Ähnlichkeit habe ich bereits hingewiesen, den Versuch, den Ausbruch der Corona-Epidemie in Wuhan zu verschleiern. Dass der betroffene Arzt von den politischen Verantwortlichen unter Druck gesetzt wurde, passt ganz gut zu unserem Bild des höchst repressiven politischen Systems in China. Die Motive dürften wirtschaftlicher Natur gewesen sein, Sorgen um Produktion und Export.

In Pestzeiten war allerdings auch in Europa das Herauszögern der „Deklaration“ der Pest aus Angst um Handel und Verkehr gängige Praxis. Die Stadträte waren zum großen Teil selbst Kaufleute und bangten um ihre einträglichen Geschäfte. Manchmal erwartete man gerade noch eine Lieferung, die man nicht durch eine zu frühzeitige Ausrufung des Pestzustandes gefährden wollte. Oder es sollte noch eine Verkaufsmesse zu Ende geführt werden. Deswegen kam es gelegen, dass die dazu bestellten Ärzte oder der Stadtarzt, wenn es einen solchen schon gab, noch einmal genauer hinsehen wollten. Bei den ersten Pestzügen ab 1348 waren die als entscheidend geltenden Symptome noch nicht einmal eindeutig klar. Allerdings lernte man mit der Zeit, dass zumindest bestimmte Beulen eindeutige „Krankheitszeichen“ waren, und machte auch die Erfahrung, dass eine Unterbrechung der Außenbeziehungen die Stadt schützten konnte – vor allem, wenn man sie früh genug verfügte.   

Handeln trotz unsicherem Wissen

Damals wie heute musste man also bereits handeln, bevor man sichere Erkenntnisse hatte. Allerdings hat sich das Feld der Unsicherheit durch die Entwicklung des Wissens während der letzten Jahrhunderte völlig verändert. Die Meinung der Ärzte war zwar schon seit dem ersten Pestzug für die Entscheidungen der Obrigkeiten wichtig, aber ihre Vorstellungen über die Entstehung der Krankheit waren ganz anders als heute – und blieben es bis zu den Erkenntnissen der Bakteriologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Seit der Entdeckung des Pesterregers Yersinia pestis durch den Schweizer Arzt Alexandre Yersin im Jahr 1894 in Hongkong weiß man, dass die Krankheit auf diese Ursache zurückgeht. Bis zur Entdeckung des Übertragungswegs durch den Biss des Rattenflohs dauerte es noch drei Jahre, aber schon vorher konnte Yersin in Paris an einem Heilserum forschen. Unser Verständnis der Pest und anderer ansteckender Krankheiten ist seither durch das Erklärungsmodell der Bakteriologie geprägt. Entscheidend ist dabei die Vorstellung, dass es eine ganz bestimmte und mit Sicherheit bestimmbare Ursache für diese Seuche gibt, die durch genau diesen Krankheiterreger definiert ist. Wenn er nicht nachweisbar ist, dann ist es nicht diese Krankheit.

Visualisiert wird das heutzutage in den Medien durch das überall auftauchende Bild des Modells eines Virus. Ob das Virus unter dem Elektronenmikroskop so ähnlich aussieht oder nicht, ist zweitrangig. Wichtiger ist, dass man etwas, das gar nicht sichtbar ist, durch ein solches Abbild vorstellbar zu machen versucht. Der Bakteriologe Robert Koch hatte auch deshalb einen so großen Erfolg in der wissenschaftlichen und später auch allgemeinen Öffentlichkeit, weil er Krankheitserreger sichtbar machen konnte. Das schafft Nachvollziehbarkeit und damit Glaubwürdigkeit. Mittlerweile sind solche Verbildlichungen, die aus der Wissenschaft stammen, allgemein akzeptiert.

Drei konkurrierende Wissensformen bis ins 19. Jahrhundert

Seit dem ersten Pestzug und bei der häufigen Wiederkehr der Epidemie bildeten sich noch ganz anders Vorstellungen über die Entstehung der Krankheit. Man griff auf drei Wissensformen zurück: das damalige wissenschaftliche Wissen, religiöse Deutungen und Alltagsbeobachtungen. Alle diese Erklärungen galten als gleichwertig, bestanden nebeneinander und konnten auch in Konkurrenz zueinander treten. Das machte auch die Bekämpfung der Krankheit so schwierig.

Seit der Antike nahm man an, dass sich im Boden, besonders bei Feuchtigkeit, giftige Substanzen befanden. Diese würden als miasmatische Dämpfe ausgedünstet und könnten Krankheiten auslösen. Der alltägliche Gestank – auch von all den Abfällen, die die meist frei herumlaufenden Schweine nicht gefressen hatten – wurde zum Problem, vor allem im Sommer, wenn die Gärungsprozesse schneller ablaufen. Folglich vertrieb man die schlechten Dämpfe durch Feuer, räucherte Wohnungen von Pestkranken und öffentliche Gebäude aus und brachte die Anwohner zur Reinigung der Straßen auf Trab. Diese waren meist nicht gepflastert und dienten gleichzeitig als Kloake.

Auch die Idee einer Ansteckung gab es schon seit der Antike. Als man deren Texte in der Renaissance wiederentdeckte, stießen Ärzte auch auf das Konzept einer Materie, die irgendwie Krankheiten übertragen könnte. Es existierte eine Vorstellung von Krankheitskeimen – aber es gab keine Methoden, um diese Theorie empirisch zu belegen. Außerdem gab es noch nicht die Idee von der einen einzigen Krankheitsursache. Man kann also den Beginn der Bakteriologie nicht bei dem Arzt Girolamo Fracastoro (1477–1553) ansetzen, denn seine Überlegungen zum Krankheitskeim beruhten auf antiken (Selbst-)Zeugungstheorien und astrologischen Vorstellungen. Diese Ahnengalerie braucht die moderne Medizin wirklich nicht, auch wenn Medizinhistoriker das früher behaupteten!
Der Stand der Sterne galt als weitere mögliche Krankheitsursache. Am Firmament ließ sich wenig ändern, aber man konnte das wenigstens deuten und versuchen, ein Muster des zeitlichen Zusammenhangs mit dem Ausbruch der Krankheit zu erkennen. Auch das war – nota bene – Wissenschaft!

Die Kirchen hatten theologische Erklärungen des Geschehens. Sie konnten es in der Predigt massenwirksam verbreiten. Insofern waren sie sehr einflussreich. Viele Menschen vertrauten ihnen. Die katholische Kirche deutete die Pest als Strafe Gottes, die Reformatoren beschränkten sich darauf, in ihr eine Glaubensprüfung zu erkennen. Im Ergebnis waren die Empfehlungen aber ähnlich: Beten und Buße tun waren das Gebot der Stunde, um die Pest von der Gemeinde fernzuhalten. Hat man derzeit nicht auch bei manchem Pressekommentar zum „Ende eines Zeitalters“ (FAZ) des Wohlstands und Friedens oder auch – strenger – des Egoismus' der verwöhnten Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg (StZ) ebenfalls das Gefühl, dass hier eine derartige moralische Kommunikation obwaltet? Corona als Strafe für die Auswüchse der Wohlstandsgesellschaft – die Kulturpessimisten wussten es schon immer!

Den Katholiken blieb auch nach der Reformation eine größere Auswahl an Handlungsmöglichkeiten. Seit dem Spätmittelalter baten sie häufiger den mit Pfeilen getöteten Märtyrer Sebastian um Hilfe, der schon 680 bei der justinianischen Pest Rom geschützt und 1348 dort wieder die Pest beendet haben soll. Sein Abbild als Pestheiliger verbreitete sich seither mit großer Geschwindigkeit über den ganzen Kontinent. Außerdem unterstrichen einzelne Personen oder auch ganze katholische Stadtgemeinden ihre Bitte um Erlösung von der Pest durch das Versprechen, später eine Kapelle oder Kirche zu errichten. In Venedig zeugt die Kirche Santa Maria della Salute gegenüber des Dogenpalastes noch heute von einem solchen Gelöbnis aus dem Jahr 1630.

Individual- und sozialpsychologisch lässt sich schwer abschätzen, ob es dieser Glaube an die Wirkung guter Werke den Katholiken leichter machte, mit den traumatischen Erfahrungen der Seuchenzüge umzugehen. In dem genannten Katastrophenjahr verlor Venedig ein Drittel seiner Bevölkerung! Möglicherweise hatten die evangelischen Christen, die ausschließlich auf das Gebet verwiesen waren, mit ihrer Praxis ebenso sehr das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Die Vorstellung, überhaupt sein Leben kontrollieren zu können und eine entsprechende Wirksamkeit zu entfalten, gilt heute als ein wesentlicher Faktor zur Förderung der Gesundheit. Solche salutogenetischen Feststellungen erscheinen mir interessanter als ein abwertender Blick der Nachgeborenen auf religiöse Praktiken früherer Generationen – von deren epidemiologischer Wirkungslosigkeit man trotzdem überzeugt sein kann.

Schließlich war die dritte Quelle des Wissens die genaue Beobachtung der konkreten Verbreitung der Seuche. Diese ging zeitnah in die ärztlichen Seuchenbeschreibungen ein. In den stark betroffenen oberitalienischen Städten fiel bald auf, dass die ersten Fälle in den ärmeren Vierteln gemeldet wurden und sich dann von da aus verbreiteten. Die Polizei, die diesen Fragen nachging, entdeckte die Bedeutung von Personen, die erst kürzlich in die Stadt gekommen waren: Ambulante Kleinhändler mit ihren Waren auf Kiepen, Leute aus dem Umland, Höker, gartende Soldaten auf der Suche nach einer neuen Anstellung, Bettler oder andere Fremde konnte man identifizieren – heute würden wir sagen als „Patient Nummer 1“. Aber auch Lumpenhändler und sogar der Textilhandel insgesamt kamen ins Visier der Ordnungskräfte. Irgendwie waren also Kleidung und Stoffe mit der Ausbreitung der Seuche verbunden. Demnach gab es eine Form der Ansteckung, es fragte sich nur, wie die Übertragung zustande kam.

Dementsprechend richteten sich Verbote sofort und vor allem gegen diese Gruppen: Fremde, insbesondere fremde Arme, sollten die Stadt nicht mehr betreten dürfen. Man hielt sie an den Stadttoren auf. Diese Personengruppe taucht immer als erste in den Pestmandaten, also den Anordnungen der Stadtregierungen, auf. Man handelte also, obwohl man noch nicht alle Zusammenhänge durchschaut hatte. Die Figur des Fremden galt sesshaften Gesellschaften generell als beunruhigend. In Krisenzeiten eignete sie sich besonders gut als Kristallisationspunkt von Ängsten und als Ziel von öffentlichen Maßnahmen. Aber man liest fast nichts von individuell aggressiver Fremdenfeindlichkeit, die sich in Einzelfällen während der ersten Tage der Epidemie im heutigen Italien gegen einige chinesisch aussehende Personen gerichtet haben soll.

Nach Schließung der Stadttore schrieb man sicherheitshalber den Inhabern von Beherbergungsbetrieben vor, jeden Fremden zu melden, damit man sie schnell auffinden konnte – wenn man den Gastwirten nicht gleich gänzlich untersagte, Fremde, selbst Kaufleute, aufzunehmen oder zu bewirten. Die Auswärtigen gerieten unter Generalverdacht. Die Maßnahmen waren natürlich schwer durchzusetzen. Es fehlte an Personal – und die Wirte verkauften lieber doch noch eine Mahlzeit oder eine Übernachtung. Man wusste ja nicht, was die nächste Zukunft noch brachte. 

Jedenfalls muss man sich klarmachen, dass die Zeitgenossen diese drei Wissensbestände problemlos parallel verwendeten. Das lässt sich anhand der Pesttraktate verfolgen, einer neuen Literaturgattung, die vor allem von Ärzten genutzt wurde, um ihre Erfahrungen in Druckschriften an die zahlungskräftige Bevölkerung weiterzugeben und sich damit einen Namen zu machen. Manche entstanden auch auf Wunsch der städtischen Obrigkeiten – gewissermaßen als Handlungsanleitung für die häusliche Pflege der Bürger. Diese Texte enthielten im ersten Teil zumeist eine umfängliche Analyse der Krankheitsentstehung. Dann folgten Verhaltensempfehlungen, die uns heute merkwürdig erscheinen mögen. Sie hatten aber einen manchmal erst auf den zweiten Blick nachvollziehbaren Bezug zu den teilweise widersprüchlichen Krankheitskonzepten und -beobachtungen der Zeit.   

Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen

Interessanter ist es, wie in der Öffentlichkeit die Geltungsansprüche der unterschiedlichen Wissensformen austariert wurden. Dahinter standen jeweils Interessen und – unterschiedlich – mächtige Institutionen, deren Gewicht sich von Seuchenzug zu Seuchenzug verschob. Anfangs war keineswegs ausgemacht, wer Recht hatte. Und schon gar nicht, was wichtiger war: Das persönliche und kollektive Seelenheil oder die öffentliche Gesundheitsvorsorge?

Konkret wurden solche Konflikte, wenn der Ortsbischof vorschlug, in der Hauptkirche des Ortes einen großen Bittgottesdienst abzuhalten. Das war auch bei militärischen Belagerungen üblich. Noch besser wäre gleich eine Bittprozession durch die ganze Stadt, möglichst mit großer Beteiligung der beunruhigten Bevölkerung. Da könnte man den miasmatisch verunreinigten Stadtraum durch Gebete und das Herumtragen einer Skulptur des Stadtpatrons symbolisch reinigen. Auch eine besonders feierliche Messe anlässlich eines Gelöbnisses für den Fall der Errettung aus der Pest war eine naheliegende Idee. Da die Seuche im zeitgenössischen Verständnis sehr wohl eine Strafe Gottes sein konnte, waren solche Maßnahmen zur Besänftigung durchaus „rational“: Diese Mittel könnten helfen, das Ziel zu erreichen. Da auch die Rettung des eigenen Seelenheils für viele wichtig war, wurden solche Vorschläge der Kirche auch von den Obrigkeiten sehr ernst genommen. Und dafür sprach außerdem, dass die Bevölkerung durch Prozessionen beruhigt wurde, was die Lage in der Stadt entspannen könnte.
Zeitgleich machten die Ärzte bei der Beobachtung der Ansteckungsverläufe in der Stadt aber auch weiter solide Arbeit: Die Suche nach eindeutigen Symptomen – etwa Pestbeulen bei dieser Art der Pest – zeigten ein Muster der Verbreitung von Person zu Person, Haus zu Haus. Treffen von mehreren Personen erwiesen sich schnell als Ansteckungsherde.

Mit diesem neuen Wissen mussten die Obrigkeiten nun zwischen der Förderung des Seelenheils und der Vermeidung weiterer Ansteckungen abwägen. Sie tendierten im Lauf der Jahrzehnte immer mehr dazu, eher den Ärzten zu vertrauen. Allerdings brauchten manche Bischöfe einige Pestzüge, bis sie sich wirklich darauf einließen, die städtischen Prozessionsverbote zu akzeptieren. Das bedeutete nämlich auch, dass sie während einer existenziellen Katastrophe der Stadt massiv an Einfluss verloren: Ihr Hilfsangebot war nicht mehr gefragt, ja, es galt sogar als gefährlich. Zumindest die repräsentativen Formen in der großen Öffentlichkeit.

Nach Ende der Krise konnte man die Bedeutung des Glaubens wieder öffentlich umso massiver manifestieren. So wurde etwa die Erinnerung an den mutigen Mailänder Erzbischof und Kardinal Karl Borromäus (1538–1584), der sich 1576–1578 intensiv um die Versorgung der Pestkranken bemühte und sie besuchte, mit vielen Bildern unter das Volk gebracht. Bei der Karlskirche in Wien, die nach der Pest von 1713 gelobt wurde, oder der bereits erwähnten Santa Maria della Salute in Venedig hatte aber nicht mehr der Bischof das Sagen. In beiden Fällen war der Hauptakteur die Staatsspitze, einmal der Doge, das andere Mal der Kaiser. Selbst bei der repräsentativen Glaubenspropaganda hatte sich das Gewicht symbolisch zu den Obrigkeiten verschoben.

Die Durchsetzung des Verbots von Prozessionen und Gottesdiensten mit großer Beteiligung der Bevölkerung kann man als einen der vielen Schritte zu einer Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zwischen weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten im Okzident sehen. Der Verzicht auf solche Heilsmittel mag für viele Gläubige ein schmerzhafter Erkenntnisprozess gewesen sein – aber letztlich war er zielführend.

Urbi et Orbi auf dem menschenleeren Petersplatz

Die Moskauer Bevölkerung musste das 1771 schmerzhaft lernen. Sie sammelte während eines Pestzuges mithilfe des niederen Klerus Geld, um eine populäre Ikone mit einem neuen Silberrahmen zu verschönern. Diese Aktion sollte ein angekündigtes Pestwunder befördern. Der gesundheitspolizeilich informierte Patriarch untersagte aber die Kollekten und wollte das Geld anderweitig verwenden. Die Moskauer fühlten sich von der „Elite“ verlassen und genau der Heilsmittel beraubt, deren Wirksamkeit man ihnen früher vermittelt hatte. Als diese „Versammlungen“ polizeilich mit Gewalt aufgelöst wurden, steigerte sich der soziale Protest über tagelange Straßenschlachten bis zur Ermordung des Erzbischofs, der in ein Kloster geflüchtet war.

In der aktuellen Corona-Krise wurden Gottesdienst-Verbote von den Kirchen zwar bedauert aber umgehend akzeptiert, denn mittlerweile besteht Konsens darüber, was gegen Ansteckung hilft und was schadet. Die Medien bieten immerhin seit den Tagen des Rundfunks die Möglichkeit zur Übertragung von Gottesdiensten. Wenn man schon nicht täglich Fernsehgottesdienste senden will, so bleiben doch die Videoandachten und andere Kanäle. Visuelle Präsenz ist auch hier sehr gefragt. Wer hätte sich vor ein paar Wochen einen außerordentlichen Papstsegen „Urbi et orbi“ vorstellen können, ohne die Kulisse des Petersplatzes mit hunderttausend Gläubigen? Mit Hilfe der „neuen Medien“ lassen sich die pastoralen Ziele nun also anders erreichen. Vor diesem Hintergrund ist es umso pikanter, dass die massive Ausbreitung des Virus ausgerechnet in Spanien und in Brasilien jeweils durch einen Massengottesdienst mit mehr als 10 000 Evangelikalen massiv beschleunigt wurde. Der fand jeweils zu Beginn der Infektionswelle statt – allerdings war das zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht verboten…

Der Konsens über Nutzen und Schaden von Versammlungen aller Art ist aber brüchig. Die Selbstverständlichkeit eines umfassenden Monopols der Mediziner bei der Deutung von Krankheit mag das Ergebnis eines langen Prozesses der Medikalisierung und letztlich auch ein Säkularisierungsschritt sein. Aber in unseren Tagen zeigt sich wieder, dass auch innerhalb der Ärzteschaft erheblich abweichende Meinungen über die Besonderheit dieses Virus und die Schwere der Krise bestehen: Offen war zunächst, ob es vielleicht doch nur eine schwere Grippewelle sei, ob man vielleicht der Ansteckung ihren Lauf lassen sollte, um so schnell die ganze Bevölkerung zu immunisieren („Herdenschutz“). Das Vereinigte Königreich, Schweden und die Niederlande haben zunächst auch eine dementsprechende Politik gemacht – mittlerweile aber teilweise umgesteuert.

Viel „Wildes Wissen“ im Internet

Außerdem entsteht bei jeder neuen Art von Epidemie viel „wildes Wissen“. Das kam während der Cholera seit 1829 in Europa auch noch aus ärztlicher Feder, weil man anfangs die Krankheitsursachen der völlig neuen Seuche nicht kannte und deshalb jedes Schutzmittel empfohlen werden konnte. Viele Laien beteiligten sich ebenso an diesem Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Manche zielten auch auf gute Geschäfte durch den Absatz ihrer „absolut wirksamen“ Produkte. Ein ernsthafter Nachweis wurde nicht erbracht, aber in der allgemeinen Verzweiflung griffen die Käufer nach jedem Strohhalm, der Schutz versprach. Derartig marktschreierische Versprechungen gehörten und gehören zum Geschäft. Mit der massiven Ausweitung der Presse im 19. Jahrhunderts erwiesen sich die Medien als Beschleuniger dieser Diskurse durch das dazugehörige Anzeigengeschäft.

Die aktuell viel diskutierten Fake-News zur Corona-Krise – ob angebliche Schließungen der Lebensmittelgeschäfte, Wundermittel oder was auch immer – kursieren nun vor allem im Netz. Auch Verschwörungstheorien gibt es wieder und gab es schon damals: In Mailand verfolgte man polizeilich im 17. Jahrhundert „Pestsalbenschmierer“, die die Kirchenbänke und andere Orte mit Krankheitskeimen verseucht hätten. Das Gerücht wurde also sehr ernst genommen. In den Cholera-Zeiten des 19. Jahrhunderts hieß es, die Ärzte vergifteten die Bevölkerung, was in Paris zu Angriffen gegen Mediziner auf offener Straße führte. Insofern sind die derzeitig verbreiteten Gerüchte lediglich die Modernisierung eines wohl bekannten Musters.

Der Versuch, durch „Faktenchecks“ Inhalte auf verschiedenen Kanälen richtigzustellen, sind eine aktuelle Reaktion. Offen ist die Frage, wie gut die Eindämmung solcher öffentlichen Paniken gelingt. Ist die Vereinzelung bei manchen schon so weit vorangeschritten, dass sie wirklich nur noch in einer Blase aus derartigen Internet-Pseudo-Nachrichten leben oder nutzen sie noch den Zugang zu geprüften Informationen? Haben sie noch genug persönlichen Kontakt zu Mitmenschen, die die Erdung an handfeste Realitäten ermöglichen? Zu viel Medienkonsum konnte schon im 19. Jahrhundert die Angst unnütz schüren.

Wann werden schließlich noch mehr Ökonomen wieder ihre Stimme erheben und sich kritisch gegenüber der Meinung von Virologen äußern, die nach ihrer Ansicht derzeit zu ausschließlich beachtet werden? Risikoabschätzungen bleiben also auch unter den heutigen Bedingungen strittig. Die autoritative Abwägung obliegt der Politik, die dabei immer auch mit den Grenzen ihres Wissens und dem Nichtwissen umgehen muss.  

Von der persönlichen Ethik zum Amtsverständnis

Eine weitere Konkurrenz betraf weniger die Wissensformen als die persönliche Ethik. Die Inhaber städtischer Ämter gehörten zumeist zur Oberschicht. Auch sie kannten die erste und beste Regel für den Ausbruch der Pest: „Fliehe schnell, weit weg und bleibe lange“. Außerdem konnten sie das am leichtesten verwirklichen, denn sie hatten meist Häuser auf dem Land für die Sommerzeit – im Umfeld von Nürnberg und Rothenburg o. d. Tauber kann man sie noch besichtigen. In Florenz entstand bei einer solchen Zwangsgesellschaft vor der Pest geflüchteter Städter, die sich mit Erzählungen gegenseitig amüsieren wollten, mit Bocaccios Decamerone bedeutende Weltliteratur.

Aber konnte man als Amtsinhaber einfach die individuelle Rettung den Amtspflichten vorziehen? Martin Luther griff das Thema auf und entschied sich – natürlich – für die Pflicht. Damit begründete er im deutschsprachigen Raum ein spezifisch modernes, ethisch fundiertes Amtsverständnis auch für politische Ämter, das dessen Anforderungen kategorial über die persönlichen Neigungen stellte –  sogar über den naheliegenden Selbsterhaltungstrieb in Katastrophenzeiten. Tatsächlich lässt sich an Stadtratsprotokollen zeigen, dass immer eine handlungsfähige „Mannschaft“ auf dem Posten blieb.

Ein europäischer Konsens über das Maßnahmepaket entstand

Pragmatisch kristallisierten sich seit dem Spätmittelalter eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung der Pest heraus, die als besonders hilfreich galten. Man versuchte früh, die bereits erwähnte Abschließung von Städten auf ganze Territorien auszuweiten. Das war auf dem Land schwierig umzusetzen, besser klappte es in Hafenstädten. Da war es auch am dringendsten, denn in der Regel wurde die Pest in Italien von der Levante, der Ostküste des Mittelmeeres eingeschleppt, weil sie in einigen Gegenden Asiens dauernd vorkam, also endemisch war. Venedig war im Mittelalter und der Frühen Neuzeit die führende Handelsmacht im Verkehr mit dieser Gegend und wurde so zum Labor für neue Methoden des Selbstschutzes. In den Hafen durften nur noch Schiffe mit einem Pestzertifikat, das bestätigte, dass man aus einem nicht verseuchten Gebiet kam oder bereits in Quarantäne gewesen war. Anderenfalls musste man 40 Tage (daher der Begriff Quarantäne) an einer vorgelagerten Insel ankern. Beim Seehandel ließ sich das gut implementieren. Die infizierten Stadtbewohner schickte man in riesige Spitäler auf zwei Inseln mit dem Namen Lazaretto vecchio und Lazaretto nuovo, nach der alle späteren Lazarette der Welt benannt sind. (Man kann sie heute wieder besichtigen).

Italiens Vorsprung bei der Seuchenbekämpfung wurde von den Ländern nördlich der Alpen bemerkt und anerkannt. So schickten süddeutsche Städte ihre (Stadt-)Ärzte zur Fortbildung dorthin. Schließlich brauchte man dringend das neueste Know-how. Veröffentlichungen und Biographien deutscher Pestärzte des 16. und 17. Jahrhunderts belegen diesen medizinischen Wissenstransfer von Süden nach Norden. Damals mussten die Druckschriften mit den neuesten italienischen Erkenntnissen noch mühselig über die Alpen gebracht werden. Derzeit läuft der Datenabgleich zu den letzten Kenntnissen über das Virus zwischen den weltweit kooperierenden Forschungslaboren praktisch zeitgleich mit der Forschung.

Im Lauf des 16. bis 18. Jahrhunderts ahmten auch die größer werdenden Territorialstaaten und Reiche das italienische Beispiel nach. So entstanden während der Seuchenzüge militärisch gesicherte Pestkordons wie 1666 zwischen Preußen und Polen. Das Habsburgerreich machte seine Kontaktzone zum Osmanischen Reich auf dem Balkan ab 1522 zur Militärgrenze. Bis 1766 auf 1600 km verlängert, umfasste das Gebiet über eine Million Menschen, die von der Adria bis zur Bukowina unter Militärverwaltung lebten. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts baute man sie mit Quarantänestationen zur Pestgrenze aus. Militärisch waren die Osmanen nicht mehr gefährlich, aber die Seuchengefahr blieb bestehen. So sollten die Handelswege über Land kontrolliert werden, indem man jede ankommende Person und ihre Waren in eine Quarantänestation steckte. Zeitweise mussten Waren, vor allem die verdächtigen Textilien, auch verbrannt werden, später „reinigte“ man sie, etwa mit Rauch. Dramatischer als die Abgrenzung gegen ein konkurrierendes Großreich war die Abriegelung der Stadt Marseille. Wegen ihres aufblühenden Levantehandels brach bezeichnenderweise genau dort 1722 die Pest zum letzten Mal in Westeuropa aus. Die Provence und Frankreich riegelten sich umgehend mit Kontrollposten militärisch gegen die eigenen Landsleute ab.

Im 19. Jahrhundert konnten die Europäer durch internationale Absprachen den Kontinent vor der insbesondere in Indien weiter endemischen Pest schützen. See- und Kaufleute, sowie die Mekka-Pilger waren das Hauptrisiko. Sie alle mussten durch das Nadelöhr Alexandria und wurden dort zur Quarantäne gezwungen. Damit hatte man die Risiken und Kosten der Schutzmaßnahmen erfolgreich ausgelagert.

Nicht alle sind gleich vor dem Virus

Auch heute kann man wieder lesen, vor dem Virus seien alle gleich. Das ist ein Topos, der schon im Mittelalter verbreitet war. Aber bereits damals war er falsch, sowohl für das Infektionsrisiko wie für die Sterbewahrscheinlichkeit und vor allem für die sozialen Folgen. Viren verbreiteten sich nämlich nie unkontrolliert, sie sind keine Akteure, auch wenn Buchtitel wie „Seuchen machen Geschichte“ das suggerieren. Gehandelt haben immer Menschen. Und die hatten Optionen, allerdings sehr unterschiedliche. Oben wurde bereits auf den Ratschlag hingewiesen, schnell zu fliehen, weit weg und dort lange zu bleiben. Das konnten schon 1348 eher die Wohlhabenden; und auch in diesen Tagen liest man wieder, dass die reichen Amerikaner sich in ihre Landhäuser oder auf ihre Schiffe zurückzögen.

In der Bundesrepublik bestehen derzeit ebenfalls soziale Unterschiede, die sich sehr handfest auswirken können, etwa zwischen den kleinen Wohnungen der Ärmeren und den größeren Häusern der Wohlhabenderen. Da kann sich der Stress des tagelangen Zusammenseins, insbesondere von Familien mit Kindern, auf engem Raum ganz unterschiedlich stark auswirken. Bei allem Frust darüber, kann man hier aber noch einen Spaziergang machen. Die Pestquarantäne früherer Zeiten war viel strenger. Da wurden die Häuser notfalls mit Brettern verrammelt, jedenfalls deutlich gekennzeichnet und keiner durfte mehr raus. Zur Versorgung mit Lebensmitteln benutzte man Körbe, die in die höheren Etagen hochgezogen wurden.

Weitere Ungleichheiten betreffen den „Broterwerb“: Rentner können sich alles relativ distanziert ansehen. Ein Teil der Bevölkerung kann und muss sich ins Homeoffice zurückziehen, andere müssen sich täglich der Ansteckungsgefahr aussetzen, weil sie nur so in Supermärkten oder Krankenhäusern ihre Arbeit machen können. Für viele Selbstständige steht die ökonomische Existenz auf dem Spiel. Sie haben nicht mehr die Ausweichmöglichkeiten, die es noch zu Pestzeiten gab. Im Florenz des 17. Jahrhunderts war sofort angeordnet worden, dass jeder, der einen Pestfall in der Familie hatte, sich nur noch im eigenen Haus aufhalten durfte. Aber auch damals dachten manche: Rette, sich wer kann. Handwerker waren auf möglichst tägliche Einnahmen angewiesen. So arbeiteten sie erst einmal weiter und schliefen nachts in der Werkstatt. Das fiel bei Polizeikontrollen auf. Als Ausrede, abends nicht nach Haus zu gehen, nannten sie Arbeitsrückstände, weshalb sie morgens ganz früh wieder anfangen wollten. Weil das nicht zutraf, kamen sie später vor Gericht.

Die aktuellen Schwierigkeiten im reichen Deutschland könnte man allerdings auch als Probleme auf einem hohen Niveau bezeichnen, wenn man an Afrika oder Indien denkt. Dort können sich Hunderte Millionen Slumbewohner überhaupt nicht schützen. In ihren Einraumwohnungen leben, kochen und schlafen ganze Familien auf engstem Raum. Fließendes Wasser, wenigstens im Stadtteil, haben viele nicht. Oft müssen sie – meistens die Frauen – lange Wege zum nächsten Wasserhahn in Kauf nehmen. Sanitäre Einrichtungen wie Toiletten mit Wasserspülung fehlen. An Hygiene ist also nicht zu denken. Die Aufforderung, einen Sicherheitsabstand einzuhalten, wäre zynisch. Außerdem leben die meisten buchstäblich von der Hand in den Mund: Wer am heutigen Tag nicht arbeiten gehen kann, hat abends nichts zu essen. Drei Wochen Ausgangssperren, wie in Indien verhängt, kommen also fast einem Todesurteil gleich – eher durch Verhungern als durch schwere Corona-Krankheitsverläufe. Der Premier Modi verbreitet rhetorisch elegant, dass die „nächsten 21 Tage darüber entscheiden, ob das Land 21 Jahre zurückgeworfen wird“. Stand heute kann man sich nur fragen, was er genau damit meint und wie das eigentlich ausgehen soll.

Sterblichkeit – der wichtigste Unterschied zur Pest 

Damit sind wir beim wichtigsten Unterschied zwischen Corona und Pest, der durch die Seuche ausgelösten Sterblichkeit, also der Letalität. Bei den ersten Pestzügen und auch noch im Italien des 17. Jahrhunderts war diese enorm hoch. Sie erreichte immer wieder zehn bis 25 Prozent einer ganzen Stadtbevölkerung, manchmal 30 Prozent. Norditaliens Wirtschaftsstruktur umfasste noch bis 1630 ein hoch entwickeltes Handwerk und Textilmanufakturen. Nach den Bevölkerungsverlusten des 17. Jahrhunderts reorientierte sich dieses Land wieder auf die Landwirtschaft: die Re-Agrarisierung einer der am meisten entwickelten Regionen Europas begann! Auch in anderen Regionen des Mittelmeerraums kehrte die Pest regelmäßig alle 15 Jahre, also jede halbe Generation, zurück; sie traf immer besonders die noch nicht immunisierten Jüngeren, also Kinder und Jugendliche, und kostete Jahr für Jahr etwa ein halbes Prozent des gesamten Bevölkerungswachstums.

Bei Corona ist die Letalität unendlich viel geringer: Die tägliche Meldung des Robert Koch Institutes betrifft nur die Anzahl getesteter Infizierter. Getestet wird nach dem geltenden Raster nur der sehr kleine Teil der Bevölkerung, der eh schon als gefährdet gilt, weil er etwa mit Infizierten beruflich umgehen muss, bereits deutliche Symptome zeigt oder aus einem Gebiet mit Corona-Fällen kommt. Die Wahrscheinlichkeit, dabei viele Ansteckungsfälle zu entdecken, ist also – durchaus gewollt – höher als in der Gesamtbevölkerung.

Die Angaben sagen wegen der enorm hohen Dunkelziffer also wenig über die tatsächliche Verbreitung im ganzen Land aus. Nach chinesischen Berechnungen soll sie fünf bis zehnmal so hoch liegen. In Island testet man mit einer Zufallsauswahl, also auch Menschen ohne Symptome. Ergebnis: nur 0,84 Prozent der Bevölkerung war überhaupt infiziert, die Hälfte der Infizierten hatte gar keine Symptome, die andere Hälfte nur sehr leichte (ORF, 25.3.).
Vier Fünftel der Infizierten erlebten in China nur einen leichten Krankheitsverlauf, wenn sie überhaupt Symptome spüren. Schwere Verläufe sind also selten; Verläufe, die eine Intensivbehandlung erfordern, noch seltener; Todesfälle bilden die Ausnahme – derzeit 0,6 Prozent der aus der kleinen Gruppe der Getesteten in Deutschland, bei denen bereits Infektionsverdacht bestand (Stand 27.3.). Man weiß aber nicht, wie viele davon wegen anderer (Vor-)Erkrankungen ebenfalls in zeitlicher Nähe zu ihrer Corona-Infektion gestorben wären. Die Anzahl der Geheilten wird nicht einmal bezogen auf diese getesteten Infizierten gemeldet. Man muss sich all das klar machen, wenn man das reale individuelle Risiko bei dieser Epidemie einschätzen will. Es ist sehr gering; erst recht das Risiko, an Corona zu sterben.

Politisch relevant ist die Gefahr, dass schnell eine so hohe Anzahl von schweren Fällen mit einem Bedarf für eine Intensivbehandlung zusammenkommt, so dass die Krankenhäuser überfordert wären – wie derzeit in Ostfrankreich, Italien oder Spanien. Da in Deutschland derzeit (am 25. März) 25 000 Tests pro Tag möglich sind, in Frankreich etwa nur 4000, kann sich die Isolierung der positiv Getesteten in Deutschland – etwa in Hausquarantäne – deutlich verlangsamend auf den Ansteckungsverlauf auswirken. In Ländern, die weniger getestet haben und von der Krise überrollt wurden, sind diese Bremswirkungen für den weiteren Verlauf wahrscheinlich nicht mehr zu erreichen. Dass nun auch die Beschaffung von Schutzkleidung und -masken zum Problem wird, ist Folge mangelnder Katastrophenvorsorge.

Angst und Unsicherheit in Zeiten von Corona

Trotz des tatsächlich geringen Sterberisikos haben viele Menschen Angst um ihre Leben. Vielleicht wird die schnell steigende Kurve der Infizierten doch irgendwie falsch verstanden, als verweise sie direkt auf genauso schnell steigende Sterbeziffern. Die Beunruhigung könnte aber auch durch die gespenstischen Bilder ausgelöst werden, die eine universelle Verbreitung von Gefahr suggerieren. Bei der Pest waren das die nächtlichen Feuer zum Ausräuchern der Straßen und die vorbeiratternden Leichenkarren auf dem Weg zu den Massengräbern.
Heute sind es die Desinfektionstrupps, die aus Flughäfen, U-Bahnen und anderen viel besuchten Orten gezeigt werden. Sie sollen vielleicht beruhigen, indem sie vorführen, dass etwas getan wird. Aber trotzdem bleibt Unsicherheit über die Wirksamkeit. So ist derzeit noch unklar, wie lang sich das Coronavirus hält. Auf Metall jedenfalls kürzer als auf Plastik, Forschung zu Kleidung und Textilien liegen aber am 25. März noch nicht vor.
Auch diese Formulierung enthält eine Datumsangabe. Sie zeigt, wie an vielen anderen Stellen dieses Artikels, dass unser Wissen sich von Tag zu Tag verändern kann. Auch das ist ein Element von Verunsicherung, die viele schwer ertragen. Schien es nicht vor kurzem noch so, dass man zumindest in der korrekt verwalteten Bundesrepublik die meisten Probleme relativ gut im Griff hatte? War man vom technischen und wissenschaftlichen Stand des Landes nicht überzeugt und traute ihm zu, dass auch die digitale Zukunft und der Klimawandel „irgendwie“ zu meistern wären? 

Andere Auslöser individueller Ängste haben sich ebenfalls erheblich verändert. In Pestzeiten bekamen manche schon einen Schreck, wenn sie einen Mediziner mit der Pestmaske auf der Straße sahen. Erschrecken als Ursache einer Krankheit oder Fehlgeburt war damals eine anerkannte Krankheitsursache. Beim Erscheinen des Arztes in der Wohnung befürchteten viele, dass bei ihnen die Pest diagnostiziert würde. Heute kaufen sich die Menschen Schutzmasken, und viele wünschen sich, getestet zu werden, um Sicherheit herzustellen. Sie glauben also den Empfehlungen der Mediziner und wünschen sich Klarheit, erneut ein Ergebnis einer langfristigen Gewöhnung an die Deutungsmacht der Mediziner und die Versorgung durch Ärzte, was man als Medikalisierung bezeichnet. Aber die Angst ist trotz alledem geblieben und ruft Psychologen auf den Plan, die in den Medien fast täglich Ratschläge zur individuellen Bewältigung der Krise erteilen.

Man wird aber weiter schwer erträgliche Fernsehbilder aushalten müssen. Während der letzten Tage hat mich am meisten der Abtransport von Särgen in Militärlastwagen aus Bergamo zu Krematorien in anderen Städten erschüttert. Der Kommentator erläuterte, dass die Angehörigen nicht Abschied nehmen könnten und eine Einäscherung in einer fremden Stadt erfolgen werde. Es war wohl die aufgezwungene Anonymität dieser „Beerdigungen“, die mich betroffen machte. Außerdem hätten die Angehörigen die Sterbenden nicht mehr in den Krankenhäusern besuchen dürfen. Diese seien also praktisch allein verstorben. Das empfinden wir auch heute als eine grausame Form des Sterbens, denn als Ideal gilt immer noch das Sterben „im Kreis der Angehörigen“.
Immerhin könnte man sich sagen: Zu Pestzeiten kamen die Leichen direkt in ein Massengrab. Das geschah zumeist nachts, um Aufsehen zu vermeiden. Damals wusste man nicht einmal genau, wo der Verwandte beerdigt worden war – und sollte es auch besser nicht wissen, damit man nicht auf die Idee kam, die Leiche später wieder auszugraben und umzubetten. Jegliches Totengeleit und erst recht Prozessionen zur Begleitung auf den Friedhof waren streng untersagt, da man keine Menschenansammlungen riskieren wollte. Diese Regelungen widersprachen vollständig den christlichen Vorstellungen einer angemessenen Form, Mitmenschen zu verabschieden, zu denen auch Begräbnisrituale gehörten.

Beim Totengeleit hatten die Obrigkeiten mit der Durchsetzung einer „modernen“ Rationalität in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge kulturübergreifend sehr ähnliche Probleme – allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Süd-, West- und Nord-Europa bereits im 17. Jahrhundert gelöst, wurden die neuen Methoden im ostkirchlich geprägten Moskau erst 1771 in schweren Auseinandersetzungen auf den Straßen durchgesetzt. Für Muslime war der Verzicht auf Krankenbesuche und das Totengeleit ebenfalls undenkbar. So führten entsprechende Verbote während der Pest in Alexandria seit 1798 bis in die 1830er Jahren immer wieder zu massiven sozialen Protesten, erst gegen die französische Kolonialverwaltung, später auch gegen die ägyptische Gesundheitspolizei. Im islamisch geprägten Osten hatte man mit Begründungen aus dem Koran keinerlei Methoden entwickelt, um sich bei Pestzügen zu schützen. Lediglich die Kaufleute aus den „christlichen“ Ländern zogen sich von Tunis bis Smyrna regelmäßig für die Dauer des Pestzuges hinter die Mauern ihrer Häuser zurück – und tauchten anschießend – meistens alle gesund – wieder auf.

Ein derartiger Rückzug wird schwerlich eine Möglichkeit in der global und medial vernetzten heutigen Welt sein, denn solche Mauern gibt es nicht mehr, weder technisch noch medial, weder humanitär noch wirtschaftlich. Stattdessen müssen wir mit Unsicherheiten und Ängsten umzugehen lernen, die allerdings in früheren Generationen sehr viel größer waren. Und in ärmeren Ländern viel existenzieller sind. Zumindest waren die globalen Herausforderungen noch nicht jederzeit in Echtzeit präsent.

Zur Person:

Professor Dr. Martin Dinges war von 1991 bis 2019 Archivar und stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Vielen ist er darüber hinaus bekannt als  kompetenter Autor und Referent zu medizinhistorischen Themen.

Das Coronavirus versetzt die ganze Welt in Schrecken.

Die stadtbildprägende Votivkirche Santa Maria della Salute wurde in Venedig nach der Erlösung von der Pest am Canal Grande nach 1630 errichtet.

Der Medizinhistoriker Professor Martin Dinges war stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung.