Religiöse Ethik im säkularen Umfeld

Die interreligiöse Studienwoche zum Thema „Christlich-Islamische Beziehungen im europäischen Kontext“ hat die Chancen und Herausforderungen des Zusammenlebens thematisiert.

Einleitend möchte ich die Rahmenbedingungen in einem Aspekt besonders hervorheben: Die Studienwoche, veranstaltet von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Eugen-Biser-Stiftung, war natürlich überschattet von der nach wie vor bestehenden COVID-19-Pandemie, der von Organisatoren und Hauspersonal mit einem ausgezeichneten Hygienekonzept begegnet wurde. Durch Einzelzimmer, spezielle Sitzordnungen in Seminar- und Speisesälen und großzügige Desinfektion konnten sich alle Teilnehmenden während der Woche so sicher wie möglich fühlen.

Dialogorientierter Einstieg

Diese Teilnehmenden waren erfreulich divers in ihren fachlichen und religiösen Hintergründen. Um einen größtmöglichen Synergieeffekt in den Gruppenarbeiten zu ermöglichen, wurden die Teilnehmenden gezielt so platziert, dass ein gemischtes Geschlechterverhältnis bestand und unterschiedliche Religionen und Konfessionen zusammensaßen. Zum Einstieg in das dialogorientierte Überthema wurde allen das Werk „Lexikon des Dialogs – Grundbegriffe in Christentum und Islam“, von dem wir im Vorfeld einzelne Artikel erhalten hatten, in zweisprachiger gedruckter Form ausgehändigt. Bei einer kritischen Lektüre des Lexikons wurden die Artikel in ihrer christlichen und islamischen Darstellung verglichen. Streckenweise waren nur geringe Unterschiede vorhanden, an anderen Punkten deutliche Asymmetrien: So verwies der christliche Artikel zu „Säkularismus“ weiter zu „Aufklärung“, der islamische zu „Gottesleugnung“: Ein wichtiger Hinweis, wie ein Wort unterschiedlich kontextualisiert werden kann. Auch wurde die Autorenneutralität angezweifelt, wenn diese zum Beispiel eine gesamtchristliche Deutung beanspruchte, aber streckenweise eine dezidiert katholische Sprache verwendete.

Ethik in unterschiedlichen Kontexten

Professorin Dr. Edeltraut Koller führte in das Thema der Ethik in säkularen Gesellschaften ein. Anhand medialer Rezeptionen und von Schlagworten wie „Moralfabrik“ konnten vor allem die christlichen Teilnehmenden die moralische Rolle der Kirche in Selbstanspruch und öffentlicher Wahrnehmung reflektieren. Auch die Relevanz stand zur Debatte: Benötigt denn eine säkulare Ethik die Kirche überhaupt noch? Und welche Rolle soll sie in den Herausforderungen der Zukunft wie der Entwicklung von künstlicher Intelligenz spielen?

Dr. Ertuğrul Şahin erläuterte die Grundlagen der islamischen Ethik (aḫlāq), die sich im Fächerkanon der in Deutschland unterrichteten islamischen Theologie noch entwickelt. Als ethische Grundlagen liegen zuvorderst der Koran vor, sowie die Sunna des Propheten Mohammed als personifizierte Verkörperung des ethisch Guten. Eine dem westlich-christlichem Ethikdiskurs vergleichbare islamische Ethik als eigenes Fach ist zwischen Überlieferung, Rechtsnormen und Philosophie noch in der Entwicklung begriffen. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit sie sich in dieser Richtung entwickeln muss, da in dieser Aufforderung auch ein Anspruch der Deutungshoheit mitschwingt.

Dr. Sigrid Rettenbacher gab für die mit dem Christentum nicht fachlich Vertrauten einen kurzen Überblick in christliche Heilslehre und führte in die Religionstheologie ein. Die verschiedenen Modelle, in denen klassischerweise eine Heilsbeziehung betrachtet werden kann (Atheismus – Exklusivismus – Inklusivismus – Pluralismus) wurden kritisch beleuchtet und die pluralistische Perspektive von den Kursteilnehmenden überwiegend bevorzugt. Wichtige Ansätze für die Zukunft werden in diesem Rahmen vor allem, trotz eines pluralistischen Selbstanspruches, in der Frage nach Religion als politischem Machtfaktor liegen, da mit Blick auf die Kirchengeschichte und historisch gewachsene Grenzen ein Gespräch über Religion nicht unbelastet sein kann. Eine eher individuelle Frage ist, was der Einzelne vielleicht in anderen Religionen entdecken kann, das er persönlich als bereichernd empfindet.

Transzendentale Erfahrung

An diese Frage schloss Dr. Raid Al-Daghistani thematisch an. Sein Forschungsschwerpunkt der Themengebiete Mystik, sufistischer Epistemologie und islamischer Metaphysik war für die meisten Teilnehmenden ein völliges Novum, was mit regem Interesse beantwortet wurde. Wichtig war vor allem, wie diese Ansätze einem dialogorientierten Verständnis nutzen konnten. Wenn die transzendentale, mystische Erfahrung allen Menschen zugänglich ist, sei es durch Gebet, Meditation, Yoga, oder auch ein durch Musik oder Sport erreichter „flow-state“, könnte dies ein Ansatz sein, um ein pluralistisches Weltanschauungsbild zu gestalten und zu fördern.

Religionsfreiheit in Deutschland und Europa

Kontrastiert wurde das durch nüchterne Rechtswissenschaft. Prof. Dr. Christian Walter erklärte grundsätzliche Fragen der Religionsfreiheit bezüglich des deutschen Grundgesetzes, anderer EU-Länder und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Vor allem bei der immer noch anhaltenden Debatte um das Tragen von Kopftüchern im öffentlichen Dienst werden häufig Einzelfragen verhandelt, anstatt eine allgemeingültige Verordnung zu finden. Auch scheint in der öffentlichen Wahrnehmung eine kognitive Dissonanz zu herrschen, in der Kreuze an den Wänden von öffentlichen Einrichtungen als völlig normal und religiös fast neutral angesehen werden, ein Hidschab auf dem Kopf einer Lehrerin allerdings nicht. Ein Thema, das uns sicherlich noch eine Weile beschäftigen wird.

Bioethische Fragestellungen

Ebenfalls brandaktuell sind bioethische Fragestellungen. Dazu gehören nicht nur das mittlerweile klassische Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs, sondern in neuerer Zeit auch Fragen zu Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Samen- bzw. Eizellenspende und Leihmutterschaft. Als kleine Übung wurden die Teilnehmenden zu einem Rollenspiel aufgefordert. Mit den generalisierten Positionen verschiedener Gruppierungen (katholische Kirche, evangelische Kirche, muslimische Gemeinde, LGBT-Community) ausgestattet, sollten sie sich in deren Rollen versetzen und für beziehungsweise gegen eine Klinik argumentieren, die die genannten Leistungen anbietet. Das Rollenspiel im Rahmen einer Stadtratssitzung wurde sehr kreativ und erfrischend frei von Stereotypisierungen umgesetzt und brachte wichtige Lektionen in Rhetorik mit sich.

Unbekannte Religionsgeschichte und komplizierte Beziehungsgeschichte

Zwei verschiedene Themen brachte Professorin Dr. Armina Omerika ein. Zunächst erklärte sie die Religionsgeschichte Bosniens, ein blinder Fleck in westeuropäischer Bildung (nur zwei Kursteilnehmer waren mit der Region vertraut), dann die ebenso komplizierte Beziehungsgeschichte zwischen Islam und Christentum in Europa, meist medial polemisiert zu „Islam und Europa“. Sowohl bei der Balkanregion als auch bei muslimisch geprägten Ländern liegt eine Tendenz zum „othering“ vor. Die jeweiligen Gebiete und ihre komplexe Geschichte werden für unverständlich, in sich zerstritten und irrational erklärt, was als Vorwand dient, sich erst gar nicht damit zu befassen. Dieses Phänomen zieht sich bis in die Geschichtsbücher von Gymnasialklassen.

Offene Frage

Abschließend bleibt eine wichtige Frage, die sich durch die gesamte Studienwoche zog, eine wichtige Aufgabe des Dialogs und eine Aufgabe, die alle Teilnehmenden in Zukunft weiter beschäftigen wird, nicht nur fachlich, sondern bereits beim Blick in die Zeitung, auf facebook oder im familiären Umfeld: Wie gehen wir mit Intoleranz um? Gerade die Gemeinschaft der Muslime hat mit gesellschaftlichen Vorurteilen zu kämpfen, die die christliche Gemeinschaft so nicht ertragen muss. Die Melange von historischer Fehlinterpretation, kulturellen Stereotypen, Religionsfeindlichkeit und Rassismus hat besonders seit 2015 zu einem islamophob geprägten Klima geführt, dessen Aufklärung nicht nur Aufgabe der Muslime ist. Christliche Gemeinschaften können ihre Rolle als moralische Instanz nutzen, um zum Dialog aufzurufen und einzuladen. Juristen können die Religionsfreiheit hochhalten, Lehrpersonal für bessere Aufklärung bereits im Kinder- und Jugendalter sorgen. In allen Aspekten der Studienwoche zeigte sich eine sehr solidarische Perspektive. Es sind nicht Christentum und Islam, die einander skeptisch beäugen und abklopfen sollten, sondern beide gemeinsam, die einem verbreiteten Unverständnis Seite an Seite gegenübertreten sollten.

(Henriette Jung)

Die Studienwoche bot viel Raum für den Austausch persönlicher Erfahrungen und Kenntnisse.

Professorin Dr. Armina Omerika erklärte die Religionsgeschichte Bosniens.

Dr. Ertuğrul Şahin erläuterte die Grundlagen der islamischen Ethik.

Dr. Raid Al-Daghistanis Forschungsgebiet bedeutete für viele Studierende völliges Neuland.

Arbeitsgruppen fanden nicht nur aus Corona-Sicherheitsgründen auch im Klostergarten statt.