Recht an der Grenze – Grenze des Rechts?
Mit fast 300 angemeldeten Teilnehmenden widmete sich die 14. Herbsttagung Fragen der europäischen und deutschen Migrations- und Asylpolitik in Zeiten zunehmender nationalstaatlicher Abgrenzung.
Die jährliche Herbsttagung des Netzwerk Migrationsrechts fand dieses Jahr vom 6. bis 8. November 2020 coronabedingt als reine Onlineveranstaltung statt. Der Fachbereich Migration und Menschenrechte und die Mitglieder des Netzwerks Migrationsrecht luden zum Thema „Recht an der Grenze – Grenzen des Rechts?“ interessierte PraktikerIinnen und WissenschaftlerIinnen ein, über die immer mehr an Bedeutung gewinnenden Grenzpolitiken zu diskutieren.Mit der Frage nach der Bedeutung der Menschenrechte bei der Ausgestaltung von Grenzregimen standen zum großen Finale der Tagung am Sonntag vor allem die kontroverse Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den EU-Außengrenzen sowie das neue Migrations- und Asyl-Paket der EU im Mittelpunkt.
Angst machende Narrative von Migration
Den Auftakt an diesem Tag gab Prof. Dr. Paulo Sérgio Pinto de Albuquerque, bis vor kurzem Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Er widmete seinen Vortrag der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Lage an den Außengrenzen der EU und stellte dabei die für ihn sich offenbarenden Probleme heraus. Vor allem die Rechtsachen Ilias & Ahmed gegen Ungarn, N.D. &. N.T. gegen. Spanien und M.N. und andere gegen. Belgien waren dabei von besonderer Bedeutung. In allen Entscheidungen werden laut Pinto de Albuquerque „apokalyptische“ Narrative über den Migrationsbereich verbreitet, die Angst vor Zuwanderung machen und eine Invasion Europas durch FluchtmigrantInnen suggerieren. Dabei seien diese illusorischen Bilder über die Realität von geflüchteten Menschen nicht nachvollziehbar und verwunderlich. Er führte die durchaus fragwürdigen Entscheidungen des EGMR auch auf die Beeinflussung von politischen Parteien zurück und betonte deshalb mehrfach, dass es die Aufgabe von zivilgesellschaftlichen AkteurInnen, NGOs und Kirchen sei, sich gegen diese Praktiken zur Wehr zu setzen. Dabei gehe es vor allem darum, dass der Gerichtshof sensibel ist für die einzelnen Situationen der Menschen und eine genaue Abwägung der individuellen Fluchtursachen vornimmt. Schließlich dürfe sich der EGMR nicht gegen die richten, die am vulnerabelsten sind.
Ein weiteres europäisches Grenzproblem behandelte dann Dr. Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München in seinem Beitrag zum Recht an den Europäischen Binnengrenzen. Hier stellen sich verschiedene Problemlagen dar, die allesamt aber den Eindruck erwecken, es ginge bei Binnengrenzkontrollen oft nur um Symbolpolitik. Die im Schengenraum bestehende Freizügigkeit werde im Rahmen von vermehrten Binnengrenzkontrollen, vor allem innerhalb der letzten fünf Jahre, zunehmend eingeschränkt. Einige der Mitgliedstaaten berufen sich dabei auf irreguläre Migrationsbewegungen an den Binnen- und Außengrenzen und bezichtigten die Staaten an den EU-Außengrenzen und die europäische Grenzschutzagentur Frontex so gewissermaßen einer unzureichenden eigenen Grenzkontrolle, die durch nationalstaatliche Kontrollen ausgeglichen werden müsse.Im Zuge dessen haben sich auch die von Bundesinnenminister Seehofer geschlossenen, von Beginn an mit juristischen Bedenken verbundenen Verwaltungsabkommen mit anderen EU-Staaten als nicht tragfähig erwiesen, führte Hruschka aus. Bei den derzeitigen Grenzkontrollen dränge sich unter fachlicher Betrachtung der Eindruck auf, dass dies nur geschehe, um nationalstaatlich ein Zeichen gegen vermeintlich unkontrollierte Migrationsströme zu setzen. Die Idee des Schengenraums werde bereits seit Jahren durch vielfältige Sonderlösungen torpediert und könnte so zum Scheitern kommen.
Der Migrationspakt – Neuanfang oder nur neue Hindernisse
Zum Abschluss der Tagung waren verschiedene ExpertIinnen, die alle mit dem neuen Migrations- und Asylpaket befasst sind, zu einer Paneldiskussion eingeladen. Zum Thema „Der neue Pakt über Migration und Asyl – ein Schritt vorwärts oder rückwärts?“ stellten Alexandra Cupsan-Catalin von der Europäischen Kommission in Brüssel, Katrin Hatzinger vom Brüsseler Büro der Evangelischen Kirche in Deutschland, Dr. Ralf Lesser als Referent vom Bundesministerium des Innern und Prof. Dr. Jürgen Bast von der Justus-Liebig-Universität in Gießen ihre Erkenntnisse über die Inhalte des Pakets vor.
Als Mitglied des Teams der Kommissarin für Inneres in der EU-Kommission Ylva Johansson ist Alexandra Cupsan-Catalin direkt mit der Ausarbeitung und Gestaltung des Pakts betraut und wirkt auch an der Koordinierung der Verhandlungen, der Umsetzung des Pakets sowie der Weiterverfolgung der Entwicklungen mit. Für sie ist der Pakt ein echter Neuanfang in der Migrationspolitik. In ihrem Input betonte sie unter anderem die Bedeutung der Gewährleistung echter Rechtswege in die EU, die auch durch Umsiedlung von Personen, die internationalen Schutz benötigen, erreicht werden soll. Dabei werde im Pakt vor allem auf die Möglichkeit des Resettlements verwiesen, die ihrer Meinung nach bisher noch zu wenig durch die Mitgliedstaaten wahrgenommen wird. Zudem betonte sie die Entwicklungen in Bezug auf nachhaltigere, zuverlässigere und dauerhaftere Ansätze für Such- und Rettungsaktionen an den Außengrenzen. Durch den Pakt würde es erstmals dazu spezielle Verfahren geben, die vor allem für die südlichen Mitgliedstaaten relevant seien. Sie sieht den Pakt als einen Satz von Modifikationen, der bestehende Richtlinien berücksichtigt und ein neues Screeningverfahren vorschlägt. Das Screeningverfahren versteht sie ebenfalls als ein Werkzeug, um die Registrierung und Identifikation an den Außengrenzen zu vereinheitlichen und dadurch auch sicherzustellen, dass die grundlegenden Rechte jederzeit gewährleistet werden. Insgesamt dürften die gemachten Zugeständnisse an die einzelnen Mitgliedstaaten für diesen Pakt aber niemals dafür sorgen, dass es in Bezug auf fundamentale Menschenrechte Kompromisse gebe.
Für Katrin Hatzinger hingegen stellt sich eher die Frage, für wen der Pakt ein Fortschritt ist und für wen ein Rückschritt. Für sie ist der Pakt zwar nicht der angekündigte Neustart, dennoch sieht sie Potenziale und Chancen, die dazu beitragen könnten, die bisherige europäische Migrationspolitik zu verbessern – denn der Pakt bringe eine neue politische Dynamik ins Spiel. Auch sie sieht die Ergebnisse der zahlreichen Kompromisse, die für dieses Werk gemacht werden mussten, kritisch und ist auf die praktische Umsetzung in den einzelnen Ländern gespannt – immerhin besteht häufig eine Diskrepanz zwischen geschriebenem Gesetz und der Umsetzungsrealität. Weiterhin sieht sie aber einen großen Teil der Verantwortung für die europäische Migrationssteuerung bei den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen und kann dahingehend auch durch die im Pakt geforderte gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten und der Solidaritäten noch keine Veränderung erkennen, sondern befürchtet eher noch mehr bürokratische Hindernisse. Sie hofft, dass der Pakt dazu beitragen kann, dass es eine Steigerung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten gibt und sieht hier auch das Parlament in der Verantwortung. Die Frage nach der Fortschrittlichkeit des Pakets ließ sie damit offen.
Noch immer gibt es Angst vor Überforderung
Als Vertreter der aktuellen deutschen Ratspräsidentschaft nahm Dr. Ralf Lesser an der Diskussion teil und betonte in diesem Zuge auch die hohe Priorität, die der Pakt in der Ratspräsidentschaft habe, auch wenn die Arbeit daran durch die anhaltende Pandemie etwas erschwert sei. Für ihn stellt der Pakt ein gut verständlicher Versuch dar, alle gebotenen Dimensionen miteinzubeziehen; seiner Meinung nach kann dieser auch die Zustimmung aller Mitgliedstaaten finden . Einen Kompromiss aller Staaten auf die Maßnahmen des Pakts kann er aber nur erkennen, wenn vor allem im Bereich der Rückführung mehr Tatendrang zu erkennen ist. Dazu würden auch die vorgeschlagenen Außengrenzverfahren beitragen, da so Personen, die ein offensichtliches „Sicherheitsrisiko“ darstellten, sofort abgewiesen werden könnten. Die fortbestehende Angst einzelner Staaten vor einer (erneuten) Überforderung aufgrund von zu hohen Fallzahlen konnte bisher nicht behoben werden, einige Staaten würden die Vorschläge im Pakt noch prüfen, andere Staaten wie beispielsweise Deutschland würden aber immer noch die Position vertreten, dass vor allem den Staaten an den Außengrenzen weiterhin Unterstützung zukommen müsse. Auch er erkennt die kleinen Kompromisse und vielen Einzelteile, aus denen der Pakt besteht und führt diese, wie seine Vorrednerinnen, auf kontroverse Diskussionen und eine gewisse Angsthaltung einiger Mitgliedstaaten zurück. Insgesamt hält er aber die vorgeschlagenen Mechanismen für sehr elaboriert.
Immer noch mangelnde Solidarität
Prof. Dr. Jürgen Bast von der Justus-Liebig-Universität Gießen näherte sich den Inhalten des Pakts aus rechtswissenschaftlicher Perspektive. Wie mehrfach im Verlauf der Tagung festgestellt, gibt es im Pakt nicht viel zum Thema effektiver Rechtsschutz zum Recht auf Asyl. Zwar gibt es Ideen zum Resettlement, diese gingen aber nicht weit genug und könnten unter anderem durch einen Vorschlag für den Einsatz von humanitären Visa ergänzt werden. Ein weiteres Problem sieht Bast in Bezug auf das Gebot der Nichtdiskriminierung; leider lasse die aktuelle Rechtslage hier noch Verletzungen von Menschenrechten aufgrund diskriminierender Regelungen aufgrund von Nationalität und Immigrationsstatus zu. Auch werde an der Familienzusammenführung für Menschen mit subsidiärem Schutz nichts positiv verbessert, obwohl es keine überzeugenden Gründe gebe, diese Unterscheidung zu anderen Aufenthaltstiteln aufrecht zu halten.
Bast gab zu bedenken, dass die Festsetzung der Schutzsuchenden zum Zwecke der „mandatory asylum border procedures“ die menschenrechtliche Situation durch den Pakt verschlimmert. So würden aus den Ankommenden zwei „Klassen“ gebildet, die unterschiedliche Rechte erhielten, welche nur anhand von, durch die Kommission festgelegten, abstrakten Kriterien bestimmt sind. Vor allem in Bezug auf die Freizügigkeit sei dies gegebenenfalls Unrecht. Darüber hinaus müsse zu jeder Zeit gewährleistet sein, dass es eine individuelle Anhörung der jeweiligen Situation gibt, um so die vorgebrachten Schutzgründe genau zu evaluieren.
In der anschließenden Diskussion mit allen Teilnehmenden wurden die bereits zuvor einzeln aufgeschlüsselten Hauptprobleme des neuen Pakts über Migration und Asyl der EU-Kommission, vor allem die Festsetzung der schutzsuchenden Menschen zum Zwecke des Außengrenzverfahrens und die immer noch mangelnde Solidarität unter den Mitgliedstaaten, nochmals deutlich. Dabei betonten alle ExpertInnen, wie wichtig es sei, dass Solidaritätsprozesse flexibel und effektiv ausgestaltet sind und dass dies nur unter Zuhilfenahme erheblicher Kompromisse möglich sei. Schlussendlich gehe es beim Pakt um die praktische Umsetzung, von der bisher niemand sagen könne, wie diese dann ausgestaltet sein wird. Insgesamt waren sich alle Referierenden am letzten Tag der Herbsttagung einig, dass Kompromisse niemals zu Lasten von Menschenrechten gemacht werden dürften und dass dies ein gemeinsames Interesse aller beteiligter AkteurInnen ist.
(Vanessa Zeeb)