Beginnt Radikalisierung in der Schule?

Beginnt Antisemitismus, unerkannt, schon im Klassenzimmer? Sind unsere Schulen darauf vorbereitet? Das fragt der Extremismusforscher Mathieu Coquelin.

Von Paul Kreiner

Beginnt Antisemitismus, unerkannt, schon im Klassenzimmer? Sind unsere Schulen darauf vorbereitet, eine entsprechende Radikalisierung zu erkennen und im Zweifel richtig zu reagieren? Das fragt Mathieu Coquelin. Der Stuttgarter Sozialpädagoge arbeitet und forscht in der Extremismus-Prävention. Im Demokratiezentrum Baden-Württemberg leitet er die Fachstelle Extremismusdistanzierung (FEX). Bei einem Vortrag in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart beschrieb Coquelin nun die Herausbildung des Antisemitismus und dessen Funktion bei der Identitätsentwicklung junger Menschen.

Ein Radikalisierungsmodell hat etwa Randy Borum (zusammengefasst beispielsweise hier) bereitgestellt: Jugendliche erleben einen Missstand, den sie als ungerecht empfinden. Über die Frage, was diese Ungerechtigkeit womöglich mit ihnen selbst und ihrer Gruppenzugehörigkeit zu tun haben könnte, kommt die eigene Identität ins Spiel – und bei deren Konstruktion die Frage, wer außerhalb der eigenen Gruppe, des eigenen Ichs für diesen Missstand verantwortlich gemacht werden – und wer dann Ziel von Aggressionen werden kann, die bis zur Entmenschlichung dieses Gegners gehen können: Wer mich (gefühlt) attackiert, fällt aus der Gruppe der akzeptierten Menschen heraus und darf deshalb auch bekämpft werden.

Radikalisierung, so Coquelin, kann als Scheitern einer Lebensführung interpretiert werden. Für Menschen, die aus einer kindlichen Schwarz-Weiß-Umgebung im Lauf ihrer Entwicklung in eine immer bunter werdende Welt geraten und mit deren Vieldeutigkeit nicht zurecht kommen, kann die Flucht zurück in vorgebliche Eindeutigkeiten eine Strategie sein, das Leben zu bewältigen und gegen das bedrückende Gefühl von Ohnmacht die eigene Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Und in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus latent gewissermaßen endemisch ist – wenn etwa „Judensäue“ an historischen Kirchen als zur Kultur gehörig betrachtet werden oder Gnome in Harry-Potter-Filmen verdächtig nach überkommene Karikaturen „typisch jüdischer“ Gesichter designt sind – bieten sich solche Denkformen geradezu an.

Wobei Coquelin sagt, es gebe „Brücken-Narrative“, die Verbindungen herstellen zwischen allen möglichen Verschwörungshypothesen (also auch sexistischen, terroristischen, politischen) und die es Menschen ermöglichen, problemlos von einem Lager ins andere zu wechseln. In diesem Sinne, so konnte man Coquelin verstehen, gibt es auch einen Antisemitismus ohne Antisemitismus: „Die Verschwörungshypothese des ,Großen Austauschs‘ beispielsweise funktioniert auch ohne Juden.“ Es brauche also „ein breiteres Verständnis, um Antisemitismus erkennen zu können.“ Andererseits, in der geradezu „popkulturellen“ Weitergabe solcher Narrative kommt auch immer wieder „der“ Jude ins Bild – oder besser: in die Memes, die millionenfach über die Social Media geteilt werden und geschickt mit Symbolen und optischen Anspielungen arbeiten.

Aber was hat die Schule damit zu tun? Coquelin sagt, ein großer Teil der Identitätsentwicklung finde „auf der Skala zwischen 1 und 6“ statt. Schule von heute zwinge – etwa bei den Antworten auf Prüfungsfragen – zu „Eindeutigkeiten“, zu klarer Unterscheidung zwischen einem Richtig und einem Falsch, zu dem Zwang, etwas Bestimmtes in einer bestimmten Weise wissen zu müssen – so wie lehrende und korrigierende Personen sich das eben vorstellen. „Man müsste in der Schule öfter Menschen haben, die selber sagen, das und das weiß ich nicht.“ Coquelin sagt, die Schule müsse überlegen, was sie weglassen könne – „mehr leisten, weniger tun“ – um dafür Raum für anderes zu schaffen: für Diskussionen über Allgemeines im Leben, über Aktuelles, Politisches, Gesellschaftliches. „Das wird oft nicht behandelt mit dem Argument, wir müssen ja Goethe lesen.“

Häufig, sagt Coquelin, werde an Schulen auch „bewusst weggehört, wenn Jugendliche sich untereinander als Jude bezeichnen.“ Lehrende überlegten dann: „O je, wie soll ich darauf reagieren, wie kriege ich das in meinem Zeitplan unter? Dann lieber nicht.“ Um sinnvolle Prävention zu betreiben, dürften Schulen sich nicht erschrocken an konkreten Vorfällen abarbeiten, sondern „schon den nächsten Fall einplanen“ – und vor allem anderen erst mal die konkrete Lebenssituation der Jugendlichen in den Blick zu nehmen. Man müsse „den Jugendlichen erst mal Gelegenheit geben, über eigene Benachteiligungen zu reden, sie dort abzuholen, um erst dann, in einem Perspektivwechsel, die Benachteiligung anderer in diesem Lichte betrachten zu können.“

Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg, Michael Blume, hat einmal gewarnt: „Antisemitismus bedroht uns alle.“ In Anspielung auf diese These sagt Coquelin, Antisemitismus könne tatsächlich „alles in sich vereinnahmen, alle gesellschaftlichen Abwertungs-Einstellungen.“ Und – nach Rabbi Sacks: „The hate that begins with Jews never ends with Jews.“