Armut und Arme im Blick
Wie Künstler Armut wahrnehmen, und wie Betroffene sich künstlerisch ausdrücken - das können Besucher in den Tagungshäusern in Weingarten und Stuttgart-Hohenheim erleben.
Es ist ein ungewöhnliches Unterfangen: Am Sonntag, 15. , und am Montag 16. April, ist eine Doppelausstellung eröffnet worden. Zuerst wurde im Tagungshaus der Akademie im ehemaligen Kloster Weingarten die Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ dem Publikum zugänglich gemacht und tags darauf die Erweiterung der Präsentation im Tagungszentrum Hohenheim. Kunst trotz(t) Armut im Doppelpack! Diese erstmalige Vorgehensweise bot sich bei dieser umfangreichen Ausstellung an. An je einem Tagungsort hätte die Präsentation keinen Platz gefunden, in der Verbindung beider Örtlichkeiten können aber alle Kunstwerke gezeigt werden.
Die Wanderausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ machte bereits in mehr als 40 deutschen und schweizerischen Städten Station. Ihr Ziel ist es, auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen, wie es der Kurator der Ausstellung, Andreas Pitz, während der beiden Vernissagen zusammenfasste. Er wurde vor zehn Jahren von der evangelischen Kirche gebeten, eine solche Präsentation zusammen zu stellen. Mittlerweile hat er seine ursprüngliche Arbeit als Sozialarbeiter aufgegeben und organisiert nun Ausstellungen mit sozialen Themen.
Das Thema der Ausstellung ist doppeldeutig
Der sinnige Ausstellungstitel „Kunst trotz(t) Armut“ lässt sich zweifach lesen mit je eigener Bedeutungsebene, wie die Fachbereichsleiterin für Kunst, Dr. Ilonka Czerny, in ihrer Begrüßung formulierte. Erstens: Kunst trotz Armut. Man könnte dazu auch sagen Kunst, obwohl Armut besteht. Es gibt Armut – nicht nur in der Welt –, sondern auch in Deutschland. Das lässt sich nicht leugnen. Die Zukunftsprognosen sehen für die Industrienation Deutschland nicht rosig aus – Stichwort „Altersarmut“. Aber die Ausgaben für Kultur sind in unserem Land so gering, dass Kultur und Soziales nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen. Im Gegenteil: Kunst und Kultur können auch ideell bereichern, wie unter anderem diese Ausstellung zeigt. Deswegen hat Kunst trotz Armut auch ihre Berechtigung!
Zweitens: Kunst trotzt Armut. Kunst kann die finanzielle Armut nicht verhindern oder stoppen. Jedoch kann sie neben einer ideellen Bereicherung auch für die Kunstproduzenten eine identitätsstiftende und therapeutische Maßnahme darstellen – egal ob diese Kunst von Armuts-Betroffenen oder von ausgebildeten Künstlern stammt. Auch talentierte Künstlerinnen und Künstler sind von Armut betroffen. 90 Prozent können von ihrer Kunst alleine nicht leben. Sie arbeiten oft als schlechtbezahlte Lehrbeauftragte an der Hochschule, als Schullehrer, als Taxifahrer, im Museum als Aufsicht oder machen andere Jobs, um ihre Existenz zu sichern. Rücklagen können so nicht gebildet werden, auch für die Alterssicherung ist mit der Einbezahlung in die Künstlersozialkasse nur das Notwendigste abgedeckt.
In der Ausstellung stehen namhafte Künstler wie Joseph Beuys, Sigmar Polke, Felix Droese und Micha Kuball mit ihrem Sozialengagement neben weniger namhaften Künstlern wie Winfried Baumann, Wolfgang Bellwinkel und Ingrid Bahß. Des Weiteren sind auch Werke von einstigen Betroffenen ausgestellt. Karin Powser ist eine Frau, die 14 Jahre auf der Straße gelebt hat. Ein Sozialarbeiter gab ihr einst einen Fotoapparat, sie könne damit ihre Bekannten und weitere Obdachlose fotografieren. Auch diese eindrucksvollen Werke sind in der Präsentation zu betrachten. Durch die ausgestellten Fotografien erhielt Powser Anerkennung und gewann an Selbstbewusstsein; mittlerweile lebt sie wieder in einer kleinen Wohnung.
Porträts holen Betroffene ins Zentrum
In der Regel ergänzen Künstler aus der Region, die thematisch etwas beizutragen haben, das Konvolut. In Weingarten sind das die Werke von Isabel Bockelmann, die in ihrer Hamburger Studienzeit als Abschlussarbeit Obdachlose zeichnete. Die zehn Bleistift-Zeichnungen zeigen Porträts, die nicht an Betroffene denken lassen. Die Dargestellten strahlen eine Individualität und Persönlichkeit aus, ihr Schicksal sieht man ihnen nicht an. Fast jede oder jeder andere könnte an deren Stelle sein. „Arm und obdachlos ist man schneller, als man sich das wünscht“, sagte die Künstlerin Ingrid Bahß in einem Fernsehbeitrag zur Ausstellung und warnt damit vor Überheblichkeit der Gesellschaft, die teilweise den sozial Ausgegrenzten auf der Straße entgegen gebracht wird.
An beiden Vernissagen heizte die Band „Jamann“ so richtig mit ihren rockigen Rhythmen ein. Die Band setzt sich zusammen aus Tom Behr, Gitarre, Bass und Gesang, Harald Henne, Gitarre und Gesang und Werner Ochsenbacher, Percussion. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die anfänglich skeptisch waren, waren begeistert und stellten anschließend fest, die passenden Klänge zu dem Thema gehört zu haben. Die Band wurde uns von dem Geschäftsführer der Obdachlosen-Zeitung „Trott-war“ empfohlen und steht dieser Vereinigung sehr nahe. Sie freuen sich über weitere Auftrittsmöglichkeiten. Wir können sie nur empfehlen – nicht nur zum Thema Armut!
Die beiden Ausstellungen sind noch bis zum 29. Juli 2018 im Tagungshaus Weingarten, Kirchplatz 7, und im Tagungszentrum Hohenheim, Paracelsusstr. 91, zu sehen.
Dr. llonka Czerny