Alevitische Theologie ausbauen!

In Deutschland leben mehr als eine halbe Million Aleviten – präsent in vielen Gesellschaftsbereichen, aber noch im Prozess der Selbstbestimmung und im Aufbau von Strukturen.

Auf großes Interesse ist eine Tagung über die Aleviten in Deutschland im Tagungszentrum der Akademie in Stuttgart-Hohenheim gestoßen. Die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) hob hervor, was der katholische Theologe und Islamexperte Timo Güzelmansur beschrieb: Aufgrund ihres sozialen Ethos und ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte in der Türkei seien Aleviten oft „besonders sensibel für den Gedanken der Freiheit – auch der Freiheit des anderen“.

Aleviten als Partner im gesellschaftlichen Miteinander 

Wie der Leiter der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle der Deutschen Bischofskonferenz unterstrich, liege dabei der Gedanke zugrunde, ein „Einvernehmen“ zwischen den Menschen und auch der Umwelt ingesamt zu befördern. Denn Gott zeige sich in seiner Schöpfung und das „göttliche Licht“ wohne in besonderer Weise im Geist des Menschen, aber auch in jedem Lebewesen überhaupt. Daher gebe es unter Aleviten auch ein hohes Bewusstsein für die Bewahrung der Schöpfung.

Die alevitische Glaubensgemeinschaft entwickelte sich im 13. und 14. Jahrhundert vor allem in Anatolien. Ihr Name verweist auf Ali, den Vetter Muhammads und vierten Kalifen, den sie nicht nur als historische Person verehren, sondern auch als präexistentes Prinzip. Die Verhaltensnormen des Mehrheitsislams sunnitischer und schiitischer Prägung aber lehnen die Aleviten ab, also die Geltung der „fünf Säulen“ oder der traditionellen „Scharia“ wie die täglichen Pflichtgebete oder das Fasten im Ramadan. Gegenüber traditionalistischen Islamverständnissen werden Vorstellungen wie etwa zur Geschlechtertrennung oder zur Benachteiligung von Frauen abgelehnt. Ähnlich wie Schiiten und mystische Traditionen im Islam legen Aleviten den Koran nicht wortwörtlich aus, sondern auf einen philosophisch-spirituellen Tiefensinn hin, und gehen darüber hinaus auch von einer Verfälschung der Koranüberlieferung aus für den Fall, dass überkommene Texte nicht mit alevitischen Traditionen in Einklang zu bringen sind.

Wegen ihren Abweichungen von dem, was etwa in der türkischen Religionspolitik als orthodoxer Islam galt und gilt, waren Aleviten allerdings immer wieder Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt. Yilmaz Kahraman vom Bund der alevitischen Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen sagte, in der Türkei sei die Stigmatisierung und Ausgrenzung der Aleviten oft auch heute noch Alltag. Deshalb sei es für die Aleviten ein wichtiger Schritt, dass sie in Deutschland die Chance haben, ohne Angst öffentlich über ihren Glauben zu reden und ihn zu leben. Die meisten Aleviten seien gerade dabei, sich vom Islam zu emanzipieren, gerade auch deshalb, weil sie mit dem politischen Islam Negatives verbinden, ihre Identitätsfindung sei aber noch nicht abgeschlossen.

In der Türkei sind geschätzt etwa zehn bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Aleviten, in Deutschland leben nach Schätzungen bis zu 800 000 Aleviten.

Die Veranstaltung im Tagungszentrum der Akademie in Stuttgart-Hohenheim stand unter dem Motto „Gesellschaft gemeinsam gestalten“. Organisiert wurde sie in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weltethos und dem Verband Alevitische Gemeinde Deutschland, der rund 160 Ortsgemeinden bundesweit vertritt.

Religionsunterricht in bislang neun Bundesländern

Die alevitische Verbandsarbeit hat zu einer Mitwirkung in vielen lokalen, multireligiösen und kulturellen Gremien, in Kommunen sowie auf Landes- und Bundesebene beigetragen. Die alevitische Jugendarbeit macht dabei facettenreiche Angebote, mit Arbeitsgruppen z.B. zu Themen wie Bildung, Gesundheit, Inklusion, Prävention, verschiedenen Gender-Orientierungen sowie zu Kunst und Kultur, und arbeitet u.a. mit christlichen Trägern zusammen.

In Deutschland können Aleviten inzwischen als Religionsgemeinschaft in acht bzw. neun Bundesländern Religionsunterricht anbieten (Hamburg stellt mit dem „Religionsunterricht für alle“ einen Sonderfall dar). Dieses Angebot sei wichtig für die Glaubensreflexion junger Alevitinnen und Aleviten und benötige aber noch weitere Ressourcen, so Handan Aksünger-Kizil, Professorin für alevitisch-theologische Studien an der Universität Wien. Sie ist selbst eine Vorreiterin der wissenschaftlichen Befassung mit dem Alevitentum aus einer Innenperspektive und war u.a. Dozentin an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten, die seit 2011 ein Lehramts-Erweiterungsstudium in alevitischer Religionslehre anbietet, sowie an der Akademie der Weltreligionen in Hamburg, wo seit 2015/2016 alevitische Religionslehrer grundständig ausgebildet werden.

Ihrer Meinung nach benötigt, wie auch die Evangelische Presseagentur (epd) in ihrer Berichterstattung hervorhob, auch Deutschland eine ordentliche Professur für Alevitische Theologie. Außerdem gebe es auch 18 Jahre nach Einführung des alevitischen Religionsunterrichts zwar Lehrpläne, aber immer noch wegen fehlender Ressourcen keine ausreichenden Lehrmaterialien.

Der Direktor des Zentrums für Islamische Theologie in Tübingen, Erdal Toprakyaran, sagte dem Evangelischen Pressedienst am Rande der Tagung, dass es großes Interesse daran gäbe, ein Institut für alevitische Theologie in Tübingen zu errichten. Dies wäre aber nur durch eine staatliche Finanzierung möglich. Auf sunnitischer Seite gebe es bundesweit bereits sieben staatlich finanzierte Zentren für Islamische Theologie, die wichtige Arbeit leisteten zur Reflexion, zur Multiplikation und zum Austausch mit anderen Wissenschaften, Religionen sowie politischen und gesellschaftlichen Partnern - ein Feld, das durch die Zusammenarbeit mit der Alevitischen Theologie weitere Bereicherung erfahren würde.

(mit Material von KNA/epd)

Mitwirkende der Tagung (von links nach rechts): Erdal Toprakyaran, Cem Kara, Lena Zoller, Christian Ströbele, Hussein Hamdan, Handan Aksünger-Kizil, Yilmaz Kahraman.

Diskussion zum alevitischen Glaubensleben in Geschichte und Gegenwart mit Cem Kara, Christian Ströbele und Handan Aksünger-Kizil (v.l.)

Gespräch über das Alevitentum im Verhältnis zu Christentum und sunnitischem Islam mit Timo Güzelmansur, Christian Ströbele, Handan Aksünger-Kizil und Erdal Toprakyaran (von links nach rechts).

Kamer Güler, Hussein Hamdan und Doris Klingenhagen sprechen über die Jugendarbeit der Aleviten

Aleviten in den Kommunen Baden-Württembergs: ein Austausch zwischen Ergün Özcan, Hussein Hamdan und Claus Preißler