Großer Bedarf an Islam-Beratung

Im Februar 2015 startete das Projekt Islamberatung. Es steht mittlerweile in seinem dritten Jahr – und das mit überwältigendem Erfolg. Die Jahrestagung zum Thema Flüchtlingsarbeit zog nun Bilanz.

Es ist bereits eine Institution geworden - das Islamberatungsprojekt der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung und der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl. Das im Februar 2015 zunächst für zwei Jahre eingerichtete Beratungsangebot steht mittlerweile in seinem dritten Jahr – und das mit überwältigendem Erfolg: Nachdem zu Beginn der ersten Projektphase als Maßgabe für den Erfolg des Projekts eine Anzahl von rund 15 bis 20 Beratungsanfragen für einen Zeitraum von zwei Jahren in den Raum gestellt worden war, befindet sich das Projekt nun in seiner zweiten Phase und kann nach drei Jahren auf fast 100 Beratungen in ganz Baden-Württemberg zurückblicken. Und ein Ende der Nachfrage ist derzeit nicht in Sicht.

Um über die vergangenen Beratungen Bilanz zu ziehen, wurde am Projektbereich „Islam-Beratung und –Fortbildung“ von Dr. Hussein Hamdan die Jahrestagung der Islamberatung ins Leben gerufen: Hier soll ein Mal pro Jahr bei einer eintägigen Thementagung  interessiertem (Fach-)Publikum die Gelegenheit gegeben werden, in aktuelle und zentrale Themenschwerpunkte der Beratungen Einblick zu nehmen und über sie zu diskutieren. Darüber hinaus dienen die Jahrestagungen der Vernetzung kommunaler und kirchlicher, aber auch muslimischer Akteure.

Erfahrungen aus fast 100 Islamberatungen ausgewertet

Die Jahrestagung 2017 fand am 13. November im Tagungszentrum der Akademie in Stuttgart-Hohenheim statt und wurde nach den Grußworten der Akademiedirektorin, Dr. Verena Wodtke-Werner, sowie der Bereichsleiterin für den Bereich Gesellschaft an der Robert Bosch Stiftung, Ottilie Bälz, und des Referatsleiters für interkulturelle Angelegenheiten des Landesministeriums für Soziales und Integration, Dr. Max Bernlochner, durch einen Rückblick des Projektleiters, Dr. Hussein Hamdan, im Gespräch mit Prof. Dr. Andreas Pattar von der Hochschule Kehl eingeleitet: Hamdan berichtete, dass es Beratungsanfragen verschiedener Institutionen gegeben habe: So stammten die Klienten des Islamberaters vorwiegend aus dem kommunalen oder kirchlichen Bereich. Es habe aber auch vereinzelte Anfragen muslimischer Akteure gegeben und auch Anfragen aus Einrichtungen auf Landesebene. In der ersten Zeit habe sich die Aufmerksamkeit der Anfragenden oftmals der Frage gewidmet, wie mit dem islamischen Verband Milli Görüş in Bezug auf Kooperationen umgegangen werden kann. Der verband zeige sich auf Ebene der örtlichen Moscheegemeinden vermehrt dialogoffen und kooperativ, wird jedoch in Baden-Württemberg – anders als in anderen Bundesländern – noch immer vom Verfassungsschutz beobachtet. Demgegenüber häuften sich derzeit Anfragen, die sich auf den DITIB-Verband beziehen. Daneben gebe es laufend Anfragen, die themenspezifisch ausgerichtet sind und auch konkrete Problemlagen benennen, etwa das Ringen eines Gemeinderats um ein islamisches Gräberfeld auf dem örtlichen Friedhof.

Hamdan resümierte  als gewinnbringendsten Faktor der Islamberatungen, dass Konflikte im kommunalen Bereich durch die Beratungen auch tatsächlich ausgetragen werden und das jeweilige Gegenüber besser eingeordnet werden könne. Dabei gehe es nicht vor allem darum, eine grundsätzliche und für alle Situationen gültige Lösung zu präsentieren. Sondern es komme darauf an, die unterschiedlichen Parteien miteinander ins Gespräch zu bringen und Lösungsansätze gemeinsam zu erarbeiten. Die Lösungen selbst müssten durch die Arbeit vor Ort auf den Weg gebracht werden. Um den offenkundig hohen Beratungsbedarf Rechnung tragen und auch vermehrt prozessbegleitend und längerfristig für die Anfragenden zur Verfügung stehen zu können, sollen ab 2018 drei neu ausgebildete Co-Berater an der Seite des Islamberaters stehen. Diese werden sich – neben allgemeinen Beratungsleistungen – auch auf einzelne Themenbereiche, etwa die Frage der religiösen Betreuung von Geflüchteten oder islamisches Familienleben,  spezialisieren.

Flüchtlingsarbeit ist aktuell das zentrale Thema in den Kommunen

Ein besonderes Augenmerk richtete Hamdan auf die Inhalte der Anfragen in jüngster Zeit: vor allem das Thema Flüchtlingsarbeit auf kommunaler Ebene. Aus diesem Grund befasste sich die diesjährige Jahrestagung mit dem Thema „Engagement in der Flüchtlingsarbeit mit und für Muslime“. Dass diese  Thematik eine hohe gesellschafts- und sozialpolitische Aktualität besitzt, belegte die hohe Teilnehmerzahl eindrücklich: So diskutierten rund 70 Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer aus unterschiedlichen Kontexten über Fragen des Umgangs mit Motivationen und Gestaltungsmöglichkeiten muslimisch-religiösen Engagements in der Flüchtlingsarbeit und reflektierten die Chancen, die sich durch dieses Engagement sowohl den muslimischen Akteuren selbst, als auch der Gesellschaft bieten. Darüber hinaus wurde die Rolle muslimischer Akteure in der Flüchtlingsarbeit in den Blick genommen: Wie engagieren sich muslimische Verbände und Gemeinden überhaupt? Welche Kooperationsmöglichkeiten bestehen auf kommunaler Ebene?

Die Islamwissenschaftlerin Julia Gerlach ging dieser Thematik auf den Grund. Sie hat in der 2017 bei der Bertelsmann Stiftung erschienenen Broschüre „Hilfsbereite Partner: Muslimische Gemeinden und ihr Engagement für Geflüchtete“ deutschlandweit Good-Practice-Beispiele zusammengetragen, die deutlich machen, wie sehr sich muslimische Gemeinden und Initiativen für Geflüchtete engagieren: Anhand von zehn exemplarischen muslimischen Projekten und Initiativen aus ganz Deutschland verortete Gerlach das Engagement von Musliminnen und Muslimen in der Flüchtlingshilfe auf unterschiedlichen Ebenen: So engagieren sie sich nicht nur als persönliche Vorbilder, die den Neuankömmlingen die Besonderheiten islamischen Lebens in Deutschland veranschaulichen, sondern darüber hinaus als Seelsorger und auch als Unterstützer im Alltag.Dabei sind die Projekte selbst so verschieden, wie sich die konkrete Situation vor Ort und der daraus resultierende Bedarf darstellen: Das Spektrum reicht von der Al-Nour-Gemeinde in Hamburg, deren geographische Nähe zum Hamburger Hauptbahnhof bereits 2015 ein Nothilfe-Programm für Geflüchtete bedingte, über den Verein Inssan in Berlin, der mit dem Projekt „Wegweiser“ ein Jugend-Mentorenprojekt für Geflüchtete ins Leben gerufen hat, bis hin zur neu entstandenen Gemeinde in Merseburg, der es gelungen ist, das komplexe, gesellschaftliche Miteinander in der ostdeutschen Stadt positiv zu prägen.

Fehlende Strukturen und Frusterlebnisse sind herausfordernd

Julia Gerlach ging in der Analyse der von ihr untersuchten Gemeinden darauf ein, dass durch die hohe Anzahl der Neuankömmlinge in Deutschland nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die muslimischen Gemeinden selbst stark verändert worden seien und sich wandelten: Viele Gemeinden seien stark gewachsen. Andere Gemeinden hätten sich durch den Anstieg an arabisch-stämmigen Muslimen in ihrer Struktur deutlich verändert. Dabei komme es vermehrt auch zu Konflikten wegen der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe. In ihrem Vortrag veranschaulichte Gerlach die Herausforderungen, mit denen sich die Gemeinden konfrontiert sehen: So sei ein zunehmender Bedarf an Betreuung der Ehrenamtlichen selbst spürbar; darüber hinaus eine Professionalisierung der Arbeit der Gemeinden nötig, um etwa die muslimische Sozialarbeit samt den erforderlichen Strukturen – die es bisher kaum oder gar nicht gebe – aufzubauen und eine bessere Vernetzung der jeweiligen Akteure zu ermöglichen. Überdies sei es dringend erforderlich, das Engagement muslimischer Gemeinden in der öffentlichen Wahrnehmung besser zu würdigen.

Allgemein diagnostizierte Gerlach – ähnlich wie bei anderen in der Flüchtlingsarbeit engagierten Gruppen und Einzelpersonen – auch in Bezug auf die muslimischen Gemeinden das Nachlassen der Motivation und der Euphorie auf Grund von Frusterlebnissen, aber auch wegen Veränderungen innerhalb des öffentlichen Diskurses: Gerade muslimische Jugendliche seien auf Grund der fehlenden Anerkennung ihres gesellschaftspolitischen Engagements zunehmend enttäuscht. Dies biete einerseits Anknüpfungspunkte für radikal-islamische Strömungen. Andererseits werde so auch Vorurteilen der muslimischen Community gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft Vorschub geleistet, die durch die Vorbildfunktion der Ehrenamtlichen ggf. auch an die Geflüchteten weitervermittelt werden könnten. Als eine weitere Herausforderung zeigten sich laut Gerlach aber auch struktur-spezifische Auseinandersetzungen zwischen „alteingesessenen“ und neu angekommenen Muslimen, etwa in Bezug auf unterschiedliche Gemeindeverständnisse. Außerdem wandle sich die Rolle der Geflüchteten zunehmend: Von „Bittstellern“ würden sie zu selbstbestimmten Akteuren im Alltag. Auch die Beurteilung der Frage, inwieweit die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migranten der Gastarbeiterzeit es überhaupt geschafft hätten, sich in die deutsche Gesellschaft tatsächlich zu integrieren, führe zu Reibungspunkten.

Chancen für die Moscheegemeinden und die Gesellschaft

Gleichwohl bewertete Gerlach das Engagement muslimischer Gemeinden in der Flüchtlingshilfe als Chance – für die Gemeinden selbst, aber auch für die Gesellschaft: Die Moscheegemeinden würden einerseits durch den Zuwachs an Mitgliederzahlen gestärkt. Andererseits würden sie durch die Herausforderungen dazu ermuntert, professionelle Strukturen aufzubauen, an denen es in der Dialogarbeit mit kommunalen Einrichtungen und kirchlichen Trägern bisher gefehlt habe. Durch das Engagement in der Flüchtlingsarbeit gelinge es vielerorts außerdem, sich tendenziell mehr mit der Gesellschaft zu identifizieren und sich besser in gesellschaftspolitische und gemeinschafsbildende Prozesse eingebunden zu fühlen. Dies komme auch der Gesellschaft zu Gute, die nun von der Expertise der seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten und deren Familien profitieren könne. Zudem sei das muslimische Engagement eine Chance für die Gesellschaft,  zu erkennen, dass muslimisches Leben in Deutschland „schlichtweg dazu gehört“.

In  der Diskussion wurde in den Blick genommen, dass zahlreiche muslimische Initiativen einen Projektcharakter haben, mit dem auch Fragen der Finanzierung eng verknüpft seien: So sei vielerorts nicht klar, ob die vielfach durch Förderprogramme finanzierten Projekte auch weiterhin extern gefördert werden oder mangels der notwendigen finanziellen Ressourcen beendet werden müssen.

Die Podiumsdiskussion am Nachmittag widmete sich dem Austausch zwischen Akteuren aus verschiedenen Kontexten: So waren – moderiert von Neu-Co-Beraterin Christina Reich – sowohl Hussein Hamdan und Julia Gerlach, als auch der Vertreter des Integrationsbeauftragten aus Mannheim, Marc Phillip Nogueira, und die Vorsitzende des DITIB-Frauenverbandes Württemberg, Aysun Pekal, miteinander im Gespräch. Zu Beginn wurde hervorgehoben, dass viele Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit allgemein – aber auch in der muslimischen Flüchtlingsarbeit im Speziellen – ihr Engagement als Privatpersonen und unabhängig von ihrem persönlichen, religiösen oder kulturellen Hintergrund begonnen haben. Aus diesem Grund sei auch in den jeweiligen Moscheegemeinden die Arbeit in der Flüchtlingshilfe mitunter stark personenabhängig und werde erst im Laufe der Zeit durch Vernetzungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen zu konkreten und planbaren Projekten. Darüber hinaus wurden auch die Bedingungen und die spezifischen Merkmale muslimischer Flüchtlingshilfe auf kommunaler Ebene nochmals eingehender beleuchtet. Letztlich widmete sich die Diskussion außerdem der Erwartungshaltung der Gesellschaft an die muslimischen Akteure einerseits und den strukturbedingt eingeschränkten Möglichkeiten, diesen Erwartungen nachkommen zu können, andererseits. Beide Dimensionen wurden zunächst auf dem Podium, aber auch später in der offenen Diskussionsrunde mit den Tagungsteilnehmern hitzig diskutiert.

Die Kommunen nehmen das Engagement der muslimischen Akteure wahr

Bei einem  „Offenen Forum“ konnten verschiedene Akteure ihre konkreten Projekte und Initiativen im Bereich der Flüchtlingshilfe an Stellwänden präsentieren. Außerdem bestand für die Tagungsteilnehmerinnen und –teilnehmer die Möglichkeit zum persönlichen Gespräch und zum lockeren Austausch mit den jeweiligen Verantwortlichen. In den sich anschließenden Arbeitsgruppen präsentierten vier kommunale Initiativen die Bandbreite ihrer Erfahrungen. Dabei kam deutlich zum Ausdruck, dass sehr wohl innerhalb der Kommunen wahrgenommen wird, dass es gerade bei den ortsansässigen Moscheegemeinden zahlreiche Menschen gibt, die sich unter anderem aus religiöser Motivation heraus in der Flüchtlingsarbeit einsetzen. Es wurde aber auch noch einmal darauf eingegangen, wie groß die jeweiligen Herausforderungen gerade für muslimische Vereine auf Grund der Ehrenamtsstruktur und mangelnder finanzieller Ressourcen in der Praxis tatsächlich sind. Muslimische Akteure in der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, wurde in den vorgestellten Kommunen als durchweg positiv und gewinnbringend für alle Beteiligte erfahren. Daher sollte in der Praxis ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, den konkreten Bedarf vor Ort zu benennen und sich daran zu orientieren, um die Bildung von Parallel-Strukturen zu vermeiden. In der Bewertung muslimischen Engagements sollte es vor allem als wichtig erachtet werden, Verallgemeinerungen mit Differenziertheit zu begegnen.

In der Förderung muslimischen Engagements kann es sich für die Entwicklung der Gesellschaft als entscheidend erweisen, Wege zu finden, aus der Willkommenskultur eine Anerkennungsstruktur zu schaffen: Auf diese Weise könne es gelingen, dass die Helferinnen und Helfer die Würdigung erfahren, die Ihnen auf Grund ihrer gesellschafts- und sozialpolitischen Wirkung zukommt. Immer wieder Menschen aus unterschiedlichen Kontexten zur Mithilfe zu bewegen, muss dabei als eine originäre Aufgabe im Bereich kommunaler Verantwortung verortet werden. Ebenso sollte – gerade auf kommunaler Ebene – immer wieder auf die strukturellen Unterschiede zwischen Moscheevereinen und etwa kirchlichen Wohlfahrtsverbänden hingewiesen und die entsprechende Sensibilität in Bezug auf die  Erwartungshaltung an den Tag gelegt werden.

Insgesamt zeigte diese Jahrestagung, dass die Initiativen und Projekte in der Arbeit mit Muslimen und für Muslime erst in ihren Anfängen begriffen sind und alle Beteiligten auch in Zukunft vor vielfältigen Herausforderungen stehen werden. Diese gemeinsam zu bewältigen, sollte als Aufgabe der Gesamtgesellschaft – und in ihr kirchlicher, muslimischer und säkularer Akteure – wahrgenommen werden. Es wurde aber auch deutlich, dass das muslimische Engagement auch ein breites Spektrum an Chancen bietet – wenn die Beteiligten denn gewillt sind, diese Chancen zu nutzen.  (Ottilie Bitschnau)

Projektleiter Dr. Hussein Hamdan (rechts) und Kooperationspartner Professor Dr. Andreas Pattar ziehen Bilanz der bisherigen Arbeit.