„Europäische Identität ist Zukunftsaufgabe, kein Erbe der Geschichte“

Der Historiker Dieter Langewiesche sprach über die „historische europäische Wertegemeinschaft“

Stuttgart. Die aktuellen Auseinandersetzungen in und über „Europa“ lassen die Frage nach einer europäischen Identität mehr denn je in den Fokus treten. Eine Antwort als Historiker umriss Prof. Dr. Dieter Langewiesche (Tübingen) in seinem Vortrag über die Antriebskräfte eines alten und eines neuen Europas in der Reihe "Nachgefragt" Mitte Mai im Hospitalhof in Stuttgart. Sein Fazit: „Die europäische Identität ist eine Zukunftsaufgabe, kein Erbe der Geschichte.“

In der Geschichte habe man aus verschiedenen Zusammenhängen heraus immer wieder versucht, ein gemeinsames Europa zu formen. Langewiesche spannte den Bogen vom ersten Versuch um 1800, Europa staatlich, aber auch gesellschaftspolitisch neu zu gestalten, über das offen angelegte Konzept des Wiener Kongresses 1815 und die Revolutionen von 1848 bis hin zu einem Europa der Nationalstaaten. 

1848 wurde ein Gesamteuropa von Frankreich bis Russland sichtbar, das sich als fähig erwies, gemeinsam politisch zu handeln. Diese Abwehrgemeinschaft habe sich allerdings darin erschöpft, die Neuordnungen der Zeit verhindern zu wollen. Als erfolgreiches Zukunftsmodell kristallisierte sich das Europa der Nationalstaaten heraus. Dieses sei jedoch zugleich ein Europa der Kriege gewesen. Eine neue Art des Krieges, der Volkskrieg, habe dabei als Mittel der nationalen Selbstvergewisserung im Zentrum gestanden. Im Namen der Nation geführt, habe er eine andere Wirkung hervorgerufen als die Kriege früherer Zeiten. 

Nun genügte es Langewiesche zufolge nicht mehr, ein Territorium nur zu erobern. Dessen Bevölkerung musste auch national einverleibt werden. Im 19. Jahrhundert führten zwei Wege zu diesem Ziel. Zum einen die nationalpolitische Umerziehung, wie es sowohl die Deutschen als auch Franzosen im Elsass versuchten. Zum anderen die Vertreibung und Umsiedlung derer, die nicht zur eigenen Nation gerechnet wurden. Die Kriege der 1870er Jahre brachten eine entsprechend hohe Zahl an Flüchtigen, Vertriebenen sowie Umgesiedelten hervor.

Durch Krieg zum Glück

Auf die Frage, was die gemeinsamen Werte in der europäischen Geschichte bewirkt haben, fiel Langewiesches Antwort ernüchternd aus. Im alten Europa seien Werte und Krieg stets Hand in Hand gegangen; nie habe es ein gemeinsames, historisch gewachsenes Wertegerüst geschafft, das Europa der Kriege zu überwinden. Warum aber war der Krieg als Gestaltungskraft so wirkmächtig? Kein Nationalstaat, keine Revolution, keine Europäisierung der Welt in der Geschichte fand ohne Krieg statt. 

Die Staatenbildung durch Krieg sei so alt wie die Geschichte. Der Krieg sei zur Verwirklichung von (Fortschritts-)Werten als unentbehrlich angesehen worden. Aber erst der konkurrenzlos attraktive Nationalstaat habe eine demokratische Glücksverheißung mit der Bereitschaft verknüpft, durch Krieg Glück zu erreichen. Einen Höhepunkt habe diese Entwicklung im ersten Weltkrieg erreicht. Nie zuvor gab es so viele Nationalstaaten, die zudem alle durch Krieg entstanden waren.

Das neue Europa: Bruch mit der Geschichte

Auch Europa und die EU seien ‚Kriegsgeschöpfe‘; sie haben aber, so Langewiesche, mit ihrer Geschichte gebrochen, und gerade darin liege ihre weltgeschichtliche Einzigartigkeit. Auf den ‚Zukunftsgestalter‘ Krieg werde innerhalb des europäischen Raumes radikaler als jemals zuvor verzichtet. Dieses Novum sollte nicht verschleiert werden, indem man das historische Europa auf der Grundlage seiner Wertegemeinschaft stilisiere. Aus dem gemeinsamen Fundament an Werten gehe nicht natürlicherweise die europäische Einheit hervor. Diese habe sich immer mit dem Krieg verstanden. 

Das Heute sei in diesem Sinne keine Folge der Geschichte, sondern der Bruch mit ihr. Einen weiteren Bruch stelle im geschichtlichen Vergleich in der EU die freiwillige Übertragung von souveränen Rechten auf eine Supraebene dar, wobei die Legitimitätsgrundlage nicht mehr von den einzelnen Nationalstaaten ausgehe. Diesen seien dabei einige, historisch essentiell nationalstaatliche Kompetenzen genommen worden: eine Verteilung von Zuständigkeiten, was gerade in Krisenzeiten wie der Finanzkrise diskutiert werde.

Die Europäische Union baut nach Ansicht des Historikers ideell auf der leidvollen Erfahrung der Kriege auf, nicht auf einer Wertegemeinschaft. Damit gehe sie neue Wege. Durch den Verzicht auf Krieg sei Europa zum gemeinsamen Staatsraum geworden und habe mit dem Nationalstaatsmodell der Geschichte gebrochen. In Entscheidungsprozessen müsse nun im ‚Laboratorium Europa‘ jeweils neu ausgehandelt werden, was der Nationalstaat heute ist und was er nicht ist. Dies sei jedoch ein konfliktreicher und nie abgeschlossener Prozess. In der Geschichte wäre dies eine kriegsreiche Phase gewesen. Dass man daraus gelernt habe, sei ein Fortschrittssprung. Die europäische Identität, so Langewiesches Schlussfolgerung, bleibe aber eine Zukunftsaufgabe. (ars/mr)

Prof. Dr. Dieter Langewiesche (Tübingen)