„Putin kämpft um seine Macht“

Trägt der Westen eine Mitschuld am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine? Rüdiger von Fritsch, früher Botschafter in Moskau, hat beim Gespräch in Weingarten eine klare Meinung dazu.



Von Miriam Hesse

Während Russlands Angriff auf die Ukraine andauert, streben Finnland und Schweden eine rasche Aufnahme in die Nato an. Gerade angebliche Drohgebärden der Staaten des westlichen Verteidigungsbündnisses, so ein nicht selten bemühter Vorwurf, habe aber den russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Enge und damit in den Krieg getrieben. Warum diese Argumentation realitätsfern ist, erklärte der deutsche Diplomat Rüdiger Freiherr von Fritsch, der von 2014 bis 2019 Botschafter in Moskau war, am 9. Mai in einem Abendgespräch in der Akademie Weingarten. Den Westen treffe keine Schuld an der Eskalation, betonte er im „Politisch-Philosophischen Salon“ mit der ehemaligen Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) und dem Transformationsforscher Ortwin Renn: „Das größte Land der Erde nimmt sich ständig das Recht heraus, beleidigt zu sein, wieso eigentlich?“

Putin hat das Schachbrett umgeworfen

Je aggressiver Putin auftrete, umso mehr liefen die Vorwürfe gegen die Nato ins Leere, betonte von Fritsch: „Putin hat am 24. Februar dieses Jahres das Schachbrett umgeworfen“, so der 68-Jährige: „Nur weil er das getan hat, waren nicht die Regeln falsch und auch nicht unsere Züge.“ Die Bedrohung sei stets von Russland ausgegangen. Nato-Soldaten stünden weiterhin ausschließlich auf Territorium von Nato-Staaten, russische Soldaten seien dagegen mit Georgien, Moldau und natürlich der Ukraine in drei europäischen Ländern gegen deren Willen. Und natürlich nicht erst damit habe Putin gegen die 1997 geschlossene Nato-Russland-Grundakte verstoßen: „Er hat kein Interesse an Sicherheit und gemeinsamer Zukunft, er sucht nur die Konfrontation.“

In dem Salongespräch, das auch online übertragen wurde, stellte Rüdiger von Fritsch nicht nur sein neues Buch vor („Russlands Weg: Als Botschafter in Moskau“). Der einstige Leiter des Planungsstabs des Bundespräsidenten und Ex-Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes diskutierte mit den Moderatoren auch weitere Bücher – darunter Andreas Kappelers „Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ sowie „Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung“ von Fritz Pleitgen und Michail Schischkin.

Brücken zur Zivilgesellschaft

Dominiert wurde der Abend aber auch von den Eindrücken, die Putins Rede zum 9. Mai, dem hohen russischen Feiertag zum Sieg über Nazi-Deutschland hinterlassen hatte. „Es war eine Rede der Ratlosigkeit“, konstatierte Rüdiger von Fritsch: „Putin muss tief in die Geschichte greifen, weil er seinem Volk keine attraktive Gegenwart und keine begeisternde Zukunftsvision anbieten kann.“ Im Ukraine-Krieg kämpfe der 69-Jährige mittlerweile um seine Macht. Sein „befremdlicher Blick“ auf die internationale Situation und die Verzerrung der historischen Berufung Russland hätten sich erst in den vergangenen beiden Jahren verfestigt, meint von Fritsch: „Putin ist jetzt völlig unkontrolliert und beratungslos, denn jeder in seiner unmittelbaren Umgebung ist abhängig und fürchtet sich.“

Nicht nur ein Einzelner sei aber mächtig, große Politik sei auch „das Handeln der Vielen“, wie der Moskauer Ex-Botschafter betonte. Ein besonderes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement sei das Engagement der Menschenrechtsorganisation Memorial, die im vergangenen Dezember in Russland verboten wurde. Er erinnerte aber auch an den einstigen Men-Preis der Akademie. Diese Verbindungen sollten nach Möglichkeit nicht abreißen: „Wir müssen alle Brücken nutzen, die uns verbinden.“

Mehr zum Thema:

Waffen statt Dialog
Die Akademie hatte mit dem Men-Preis die Verständigung mit Russland gefördert. Seit Putins Angriff auf die Ukraine herrscht Sprachlosigkeit, so Abraham Kustermann und Rainer Öhlschläger.
https://youtu.be/b4sMSKW5crM

Memorial setzt auf Deutschland
Im Gespräch mit der Akademie ordnen die „Memorial“-Mitgründerin Irina Scherbakowa und der in Moskau lebende Übersetzer Boris Chlebnikow sowie die Konstanzer Kulturforscherin Aleida Assmann die aktuelle Bedrohungslage ein.
https://youtu.be/bQ38oig8uvk

Abendgespräch zum Ukraine-Krieg mit Ljudmyla Melnyk, Michael Rochlitz und Regina Heller
https://www.youtube.com/watch?v=cuDh7SzhuFg

Politisch-Philosophischen Salon mit Boris Palmer
https://youtu.be/8n177DKZmWQ

Politisch-Philosophischen Salon mit Maja Göpel
https://youtu.be/N2AQN02V53s