Unterschätzte Gefahr Rechtsextremismus

Lange wurde die Gefahr, die von Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus ausgeht, verkannt. Doch es gibt ihn in allen gesellschaftlichen Bereichen. Was tun, damit aus Worten nicht Taten werden?

Zwanzig Jahre ist es her, dass der Blumenhändler Enver Şimşek an einem Verkaufsstand in Nürnberg niedergeschossen wurde. Er gilt damit als das erste Opfer des Nationalsozialistischen Untergrundes, einer terroristischen Vereinigung, die sich in den folgenden Jahren für neun Morde und mehrere Sprengstoffattentate verantwortlich zeichnete. Stimmen, die hinter den Taten die fremdenfeindlichen, rechtsextremen Motive erkannt hatten, wurden nicht ernst genommen. Erst als der NSU sich im Jahr 2011 selbst enttarnte, wurde ein Staatsversagen aufgedeckt, das bis zu diesem Zeitpunkt als unvorstellbar galt. Kaum jemand hatte es für plausibel gehalten, dass ein rechtsextremistisches Netzwerk über so viele Jahre in der Bundesrepublik agieren konnte. Zahlreiche Fragen bleiben bis heute ungeklärt. Doch deutlich wurde: Deutschland hat ein Rechtsextremismus-Problem. Man denke hierbei auch an die Anschläge in Halle, Hanau und München, die Ermordung Walter Lübkes, das Auftreten von Gruppierungen wie dem NSU 2.0 oder dem Nordkreuz-Komplex. Auch die unlängst aufgedeckten Netzwerke in Sicherheits- und Polizeibehörden, die Unterwanderung sogenannter Corona-Demos durch ExtremistInnen sowie eine florierende rechtsradikale Musikszene zeigen, dass rechtsextreme Tendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft reichen.

Im Rahmen der dritten Weingartner Tage der Demokratie kamen Dr. Heike Wagner, Leiterin des Fachbereichs Internationale Beziehungen an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, und Benjamin Strasser, FDP-Innenpolitiker und Mitglied des Deutschen Bundestages, ins Gespräch. Zahlreiche Personen verfolgten online, wie sich Strasser den Fragen der Interessierten im Tagungshaus stellte: Wurde die Gefahr des Rechtsextremismus in Deutschland unterschätzt? Wie kann ein Versagen der Behörden und der Politik wie im NSU-Fall in Zukunft vermieden werden? Ist unsere Demokratie gefährdet? Und was können wir tun, damit aus Worten nicht Taten werden?
 

Rechtsextremismus: Eine unterschätzte Gefahr

Strasser zeigte beispielhaft anhand des NSU-Netzwerkes, wie weitreichend und komplex rechtsextreme Strukturen sein können und weshalb diese von Behörden verkannt wurden. Er forderte, den föderalen Sicherheitsapparat zu reformieren, um Transparenz zu schaffen und Systematiken des Versagens und Vertuschens aufzudecken. Denn keinesfalls könne davon ausgegangen werden, dass die Taten des NSU historisch singulär bleiben. Immerhin gebe es in der Bundesrepublik laut Verfassungsschutzbericht rund 26.000 RechtsextremistInnen, von denen etwa die Hälfte als gewaltbereit eingestuft wird. Sie würden sich globaler und lokaler Helferstrukturen bedienen, ihre Ideologien über das Internet verbreiten und sich gegenseitig radikalisieren. Während die freiheitliche, demokratische Gesellschaft zunehmend unter Druck gerate, könne das im letzten Jahrhundert entwickelte behördliche Sicherheitssystem nicht mehr adäquat reagieren.

Die Szene wird diverser

Durch das Konsultieren externer ExpertInnen müsse die Analysefähigkeit der Behörden verbessert werden, denn moderne RechtsextremistInnen würden schon lange nicht mehr die klassischen Muster bespielen. Rechtsextremismus, so betonte Strasser, sei diverser geworden. Die Ereignisse der vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass das stereotype Bild des glatzköpfigen Neonazis in Springerstiefeln und Bomberjacke überholt sei. AnhängerInnen der Identitären Bewegung, die er als „Nazi-Hipster“ bezeichnete, PolitikerInnen der AfD im Bundestag oder Publizisten wie Götz Kubitschek würden nicht vordergründig eine blutige Revolution fordern. Ihre Strategie sei darauf ausgerichtet, die eigenen Denkmuster in der breiten Bevölkerungsschicht zu verankern. Man versuche, die auf gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit basierenden Ideologien mehrheitsfähig zu machen und das radikale Vokabular zu normalisieren. Eine entscheidende Rolle weist Strasser dabei der AfD zu. Sie sei zwar nicht explizit Teil des rechtsextremen Netzwerkes, ebne entsprechenden Ansichten jedoch im vorpolitischen Raum den Weg, indem sie antipluralistische, sozialdarwinistische und rassistische Haltungen in den breiten gesellschaftlichen und politischen Diskurs trage. Konzepte wie das des sogenannten Ethnopluralismus würden dabei Respekt und Wertschätzung vorgaukeln, jedoch einen Rassismus ohne Rassen proklamieren. Zudem bediene sie sich der gleichen antidemokratischen und menschenfeindlichen Verschwörungstheorien, die auch RechtsextremistInnen instrumentalisierten. Keinesfalls seien diese Neukonzeptionen der Szene, sondern würden vielmehr eine lange historische Kontinuität aufweisen. Wenn etwa die AnhängerInnen der QAnon-Bewegung vor Eliten warnen, die Kinderblut trinken, um Langlebigkeit zu erreichen, so finde sich historisch ein Pendant in den Ritualmordbeschuldigungen gegen die jüdische Bevölkerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Weite Verbreitung würden diese Mythen in der rechtsradikalen Musikszene finden. In Liedtexten verarbeitet, auf Konzerten von Tausenden mitgegrölt, würde somit ein fremdenfeindlicher, antisemitischer Diskurs normalisiert und die Gewaltbereitschaft geschürt werden.
 

Klar Haltung beziehen

Wer Rechtsextremismus bekämpfen möchte, so resümiert Strasser, müsse proaktiv dagegen vorgehen: Kein Mensch werde als ExtremistIn geboren und niemand müsse als solcheR sterben. Während Sicherheitsbehörden stets nur repressiv agieren könnten, sei es Aufgabe eines jeden mündigen Mitgliedes der Gesellschaft, sich klar gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu positionieren. BürgerInnen seien verpflichtet, sich eine kritische, begründete Meinung zu bilden und klar Stellung zu beziehen, wo demokratische Grundwerte in Frage gestellt oder Würde und Schutz von Minderheiten tangiert werden – sei es am Stammtisch, bei der Familienfeier oder in der Schule. Man dürfe den Diskurs mit Menschen nicht scheuen, die rechtsextremistisches Gedankengut verbreiten. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit müsse klar benannt und kritisiert, auf eine diskriminierende Wortwahl hinweisen werden. Dieser Weg könne durchaus mühsam und frustrierend sein. Dennoch liege es zu großen Teilen in der Verantwortung der bürgerlichen Mitte, dass die rechtsextremistischen Denkmuster eben nicht mehrheitsfähig werden. Es sei eine klare rote Linie zu ziehen. Bestes Beispiel hierfür seien die BügerInnen in Baden-Württemberg. Im Bundesland mit dem höchsten Anteil an WählerInnen, die bewusst oder unbewusst rechtsextremistische Einstellungen vorweisen und dennoch gemäßigte, demokratische Parteien wählen würden, werde eine Grenzverschiebung nicht zugelassen.
Dass Demokratie gelebt und geschützt wird, so hat der Abend gezeigt, ist Verpflichtung eines jeden Einzelnen. Denn während Rechtsextremismus eine unterschätzte Gefahr war und bleibt, seine Strukturen und Mechanismen einer tiefgreifenderen Analyse bedürfen, steht die Gesellschaft den Entwicklungen nicht machtlos entgegen. In ihrer Verantwortung liegt es, eine Normalisierung rassistischen und menschenfeindlichen Gedankenguts zu unterbinden, eine Radikalisierung der MitbürgerInnen zu verhindern und die Rechte von Minderheiten zu schützen. Hierzu braucht es mutiges Engagement, eine klare Positionierung und die Bereitschaft, sich auf einen langwierigen Diskurs einzulassen. Im Zusammenspiel mit politischen und behördlichen Maßnahmen kann so proaktiv verhindert werden, dass aus rechtsextremistischen Worten Taten werden.

Linda Huber, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
 

Medienecho: Artikel in der Schwäbischen Zeitung

 

FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser

Dr. Heike Wagner im Gespräch mit Benjamin Strasser

Dr. Heike Wagner moderierte den Abend mit Benjamin Strasser im Tagungshaus Weingarten.