Fassen, was nicht zu fassen ist.

Wie gehen wir um mit dem Sterben und dem Tod? Wie lässt sich „fassen, was nicht zu fassen ist“? Bei den Hospiztagen konnte es naturgemäß nur um eine helfende und erkenntnisreiche Annäherung gehen.

Professor Dr. Fulbert Steffensky ist ein deutscher Theologe, der in seinem Leben die Dinge von verschiedener Warte betrachtet hat. Er hat katholische und evangelische Theologie studiert, er verbrachte 13 Jahre im Benediktinerkloster, konvertierte danach zum Protestantismus, heiratete (die 2003 verstorbene Theologin Dorothee Sölle), wurde Vater und Professor für Erziehungswissenschaft und Religionspädagogik. Heute ist er 85 Jahre; die frühe Zusage zu seinem Vortrag im Akademiezentrum in Hohenheim sei deshalb ein „vermessenes Wagnis“ gewesen, bekannte er, denn „ich werde in absehbarer Zeit sterben“. Vielleicht ist es ja diese „lächerliche Frist“, die seine Worte so eindringlich machte. Von Angst war gleichwohl wenig zu spüren, und er erklärte auch, warum er so gelassen diese letzte Lebensfrist durchschreitet: Der Mensch sei nur ein Fragment und dürfe scheitern, „nicht mal das Sterben muss mir gelingen“.

Das Glück, als Mensch Fragment sein zu dürfen

Aber bis zuletzt, so Steffensky, wolle er lernen: „Dank für die Liebe, Dankbarkeit für alles, was ich gehört, gesehen und erwandert habe“. Der Atem werde freier, „wenn man mit Dank sieht, was gelungen ist“, sagte er. Aber man müsse auch den Schmerz und die Reue lernen für das „was man im Leben verraten hat“. Es gehe darum, sich anzunehmen als Subjekt seiner Taten und Untaten. Auch „resignieren“ will Steffensky noch lernen, „nicht als bittere Aussichtslosigkeit, sondern als die Kunst, abzudanken und sich nicht für unentbehrlich zu halten“. Dies gelte besonders im Hinblick auf die eigene Familie: „Wir dürfen nicht erwarten, dass die anderen uns ähnlich sind, vielmehr sollten wir mit heiterem Schmerz Kinder und Enkel in ihrer eigenen Art akzeptieren. Und auch den Glauben will er noch lernen, nicht ganz überzeugt davon, dass man im Alter „Zähne und Zweifel verliert“. Doch auch hier dürfe man Fragment sein. „In einer Welt der Sieger“ sei alt zu sein schwer und Gnade wichtig. In der Nähe des Todes lerne man, sich der Gnade anzuvertrauen, weil jeder ein bedürftiges Wesen sei: „Man erkennt sich als Ganzes im Fragment“ und die Bedeutung des DU, wie es die chilenische Dichterin in ihrem Gedicht „Scham“ beschreibt: „Wenn Du mich anblickst, werd‘ ich schön“.

Seit einem dreiviertel Jahr leitet die Münchnerin Dr. Margit Gratz das Hospiz Sankt Martin in Stuttgart-Degerloch und baut dort auch das trauerpastorale Zentrum auf. Das Sterben stelle die SterbebegleiterInnen – egal ob haupt- oder ehrenamtlich – vor eine unüberwindbare Grenze, denn man stehe vor einer Situation, die den eigenen Erfahrungshorizont übersteigt. Der Leidenserfahrung Todkranker nähere man sich von außen. Den Betroffenen beängstige das Neue, reduziere seine Autonomie, sein bisheriges Repertoire des Lebens reiche nicht mehr aus. „Deshalb sucht er nach dem unterstützenden DU“. Ziel der Begleitung könne nicht sein, das Leid aufzulösen, sondern das Leben zu wenden: „Trost im Leiden zu geben, Augenblicke von Glück und Sinn, sich über den Schmerz und das Leid zu erheben, Momente der Versöhnung zu ermöglichen und Trost zu spüren.“ Bei jeder neuen Begleitung sei man wieder Anfänger, denn die HelferInnen hätten plurale Welten vor sich. Wichtig sei aber zu wissen, dass die Situation im Vorraum des Sterbens für eine helfende Person anders sei als es selbst zu durchleben. Die Nähe zu einem Menschen sei oft der einzige Kraftquell, um das Leiden durchzuhalten.

Fragen von Sterbenden sind Bitten: Bleib bei mir

Das Klagen, so die Theologin, Humanbiologin und Mathematikerin, gehörte zu diesem Prozess ebenso dazu wie viele „Warum“-Fragen. Mit Klagen spreche man seine Not aus, bei den Fragen gehe es weniger um Antworten, als um Beistand und Gespräche. „Warum“ heiße eigentlich „bleib bei mir“. Dem Betroffenen stehe Fassungslosigkeit zu; Ziel der Begleitung sei aber, die Fassung zu bewahren. „Distanzierte Nähe, ein Gespür für die Situation, den Bruchteil eines menschlichen Lebens mitgehen“ – mit diesen Worten beschrieb Margit Gratz die Rolle der SterbebegleiterInnen, die „handlungsfähig bleiben müssen“  Ein wichtiges Element dafür ist das Erzählen und Zuhören: Wenn ein Betroffener erzählen könne, mache ihn dies zum Akteur. Für SterbebegleiterInnen bedeute dies, sich jedes Mal neu auf das Abenteuer einzulassen, dass man nicht wisse, was kommt.

Über die spirituelle Dimension des Sterbens näherte sich Dr. Monika Renz dem Thema. Die Psychologin leitet die Psychoonkologie am Kantonsspital Sankt Gallen und hat nach eigenen Angaben bisher etwa 1000 Menschen beim Sterben begleitet. Sterben sei ein Prozess und schon in der Todesnähe veränderen sich die Wahrnehmung und der Bewusstseinszustand. Dabei gehe es um das Durchschreiten einer Angst, die Renz in Analogie zum Urvertrauen Urangst nennt. „Dabei veränderten sich auch Familienprozesse vom intensiven Abschied zum fast entrückten Noch-da-Sein. Sterben sei radikales Loslassen aber zu gleich auch ein Finden: „Es drängt etwas in Richtung Frieden“. In dieser Phase spielten Zeit und Raum keine Rolle mehr. Sterbende pendelten hin und her, ahnend, dass etwas weg führt vom Ich hin zu etwas, wovon wir keine Ahnung haben. „Im Danach ist das Ich nicht mehr dominant. Es bleibt offen, was das ist: Gott, Energie, ein Nichts oder ein Seiendes. Aber auch die Angst ist losgelassen.“ Friede stelle sich ein, Stille, Entspanntheit, ein Hauch von Ewigkeit, beschreibt Monika Renz das Ende dieses Prozesses. „Sterbende sterben nicht in sich gekehrt, sondern in Offenheit: „Das ich stirbt in ein Du hinein.“

Der Tod  ein Übergang ins Offene

Am Donnerstagnachmittag bildeten die acht Workshops das Herz der Süddeutschen Hospiztage. Zum Umgang mit Nahtod- und Grenzerfahrungen sprach die Autorin Christine Brekenfeld aus Berlin mit den Workshop-Teilnehmenden; Susanne Kränzle reflektierte als Hospizleitung und Vorsitzende des Hospiz- und PalliativVerbandes, wie es möglich ist in der Sterbebegleitung die Fassung zu bewahren. „Leben am Rand – Sterben im Dunkeln“, so der Titel des Workshops, den Heiner Heizmann von der Caritas mit zwei KollegInnen dem Thema des hospizlichen Umgangs mit sterbenden Menschen am Rande unserer Gesellschaft widmete. Kontroverse Ansichten gab es zum Thema „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ am Lebensende, das Dr. Roland Hanke, Palliativmediziner aus Fürth, einfühlsam präsentierte. Den Umgang und die Einsatzmöglichkeiten der Veeh-Harfe® brachte die Heilpädagogin Gabriele Theurer-Siebert Interessierten nahe, die „Kulturelle Dimension von Sterben und Tod“ war das Thema von Yvonne Adam vom Institut für Migration, Kultur und Gesundheit (AMIKO) in Berlin. „Humor und positive Gefühle angesichts von Trauer und Sterben“ – geht das? Ludger Hoffkamp, Clown, Seelsorger und Humorcoach, meinte „na klar“ und gestaltete einen Workshop, in dem ein wenig geweint und sehr viel gelacht wurde. „Welche Gesichter hat der Tod in unseren Geschichten?“ fragte Odile Néri-Kaiser von ars narrandi und vermittelte „Storytelling als Kompetenz“ und das „Erzählgut der Welt als Ressource“.

Die Geburt ist der erste Abschied, der Tod der letzte

Professorin Dr. Annelie Keil, Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin, beschloss am Freitag die Süddeutschen Hospiztage. Fundiert nach den Erkenntnissen der Biologie und der Sozialwissenschaften sprach sie über das „unfassbare“ Lebensende vor Augen und wie es gelingt den „fassbaren“ Abschied leben zu lernen. Voller Humor und Witz sprach sie von den Abschieden des Lebens, der erste stünde schon nach neun Monaten im Mutterleib an. Die „Ent-Bindung“ sei die erste große Trennung des Lebens. „Wir kommen alle als Pflegefall zur Welt“ erinnerte Keil alle Anwesenden, bräuchten als Baby Windeln und viel Pflege. Daher sei es auch unsinnig, im Alter niemand zur Last fallen zu wollen, dies lasse sich ebenso wenig vermeiden wie in der ersten Lebensphase. Die vielen Abschiede, die folgen, seien Vorbereitung auf den letzten großen Abschied, den es zu bewältigen gelte. Gleichwohl: „Jeder, der hier sitzt, wird das Sterben schaffen“, da sei sie sich ganz sicher. In der Zwischenzeit gelte es, ein Leben zu leben, das sich nicht für unsere Kommentare interessiere. Vielmehr sei es notwendig, immer wieder neue Antworten zu geben. Nichts ließe sich kopieren, immer aufs Neue sei alles in Co-Existenz mit den anderen auszuhandeln. Liebe helfe, sie sei kein Gefühl, „sondern stets lebendige Praxis“. „Wie wir werden, die wir sind und nicht bleiben“. Standing ovations zum Ende der Veranstaltung.

(Barbara Thurner-Fromm und Dr. Thomas König)

Dr. Margit Gratz leitet das Hospiz Sankt Martin in Stuttgart-Degerloch.

Bei den 19. Hospiztagen sprach die Leiterin der Psychoonkologie im Kantonsspital Sankt Gallen, Dr. Monika Renz, über den Prozess des Sterbens.

Professor Fulbert Steffensky hat die Hospiztage eröffnet.

Die Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil betrachtet schon die Geburt als ersten Abschied.