Venceremos

Norbert Blüm war das soziale Gewissen der CDU. Heribert Prantl hat ihn für die Süddeutsche Zeitung viele Jahre kritisch begleitet. Seine Gerdanken zum Tode Blüms hat er uns zur Verfügung gestellt.

Der deutsche Sozialstaat hatte und hat ein Gesicht. Es ist das Gesicht von Norbert Blüm. Blüm hat für diesen Sozialstaat geworben, er hat für ihn gekämpft, er hat ihn ausgebaut; er hat sich nicht unterkriegen lassen, nie, auch dann nicht, wenn er sich zu diesem Zweck noch kleiner machen musste, als er es körperlich schon war. Wenn es um soziale Gerechtigkeit ging – da war er sich für fast nichts zu schade. Notfalls hat er den Büttenredner gegeben, notfalls hat er den Pausenclown gespielt, notfalls hat er sich, wie beim neoliberalen CDU-Parteitag in Leipzig im Jahr 2003 von der Bühne buhen und pfeifen lassen. Am 23. April ist Blüm im Alter von 84 Jahren in Bonn gestorben.

Damals, 2003, auf diesem merkwürdigen Parteitag, hat die CDU unter der Regie von Angela Merkel die sogenannte Kopfpauschale in der Krankenversicherung beschlossen – gegen den ebenso heftigen wie vergeblichen Protest von Blüm. Merkel und der damalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer hatten für diese Kopfpauschale zuvor auf Regionalkonferenzen geworben, der Steuervereinfacher Friedrich Merz und der Alt-Bundespräsident Roman Herzog gaben dieser Idee auf dem Parteitag den Anstrich einer angeblich modernen Gerechtigkeit. Sie sollte darin bestehen, dass ein Bankdirektor nur so viel in die Krankenversicherung einzahlen sollte wie sein Fahrer und der Chefarzt nur so viel wie die Krankenschwester. Kopfpauschale eben.

 

Platt gewalzte Gerechtigkeit

Norbert Blüm redete sich in einem furiosen Auftritt die Seele aus dem Leib gegen solchen Unsinn, er ließ sich nicht bremsen von der feindseligen Stimmung im Saal: „Die Kopfpauschale heißt, je mehr Du verdienst, umso weniger wirst Du prozentual belastet. Das ist eine platt gewalzte Gerechtigkeit, das ist eine auf den Kopf gestellte nivellierte Solidarität“.

Blüm redete volkstümlich, aber wissenschaftlich untermauert – doch kaum einer hörte auf ihn. Am Ende entschieden sich die 1001 CDU-Delegierten für den von Blüm bekämpften radikalen Kurswechsel – bei nur vier Gegenstimmen und einer Enthaltung. Es war der Versuch von Angela Merkel, der CDU im Wettstreit mit der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder ein scharfes neoliberales Profil zu verschaffen. Merkel korrigierte diesen Kurs aber wieder, die Kopfpauschale kam nicht.

Frei von Angst

Blüm musste sich nicht korrigieren. Gute Sozialpolitik (er hat sie gern zusammen mit seinem 2017 verstorbenen Freund Heiner Geißler betrieben) war für ihn nicht, den Leuten das Geld in den Hintern zu schieben. Sein Credo war: Die Bürger einer Demokratie brauchen Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte ökonomische Existenz, sie müssen frei sein von Angst um die eigenen Lebensverhältnisse. Und wenn er in den vergangenen zwanzig Jahren einen seiner engagierten und zornigen Aufsätze zum Lob der Gewerkschaft und für den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital schrieb (die auch in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt waren), dann unterzeichnete er das Anschreiben schon mal mit einem revolutionären „Venceremos“ – also: Wir werden siegen.

Venceremos – das ist ein politisches Kampflied aus Chile. Der Sänger Victor Jara hat einen berühmten Text dazu geschrieben. Sein Lied wurde im Chile des demokratischen Präsidenten Salvador Allende so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne. Nach dem von den USA gestützten Militärputsch unter General Augusto Pinochet durfte es in Chile jahrelang nicht mehr gespielt werden. Victor Jara soll das Lied 1973, kurz vor seiner Ermordung durch die Schergen Pinochets, seinen Folterern gesungen haben. Venceremos.

Blüm kämpfte 1987 in Chile bei Diktator Pinochet, von Franz Josef Strauß dafür heftig angegriffen, für die Freilassung von 16 zum Tod verurteilten Häftlingen – für „Kommunisten“ und „Verbrecher“, wie Strauß höhnte. Im Januar 2004 stand Blüm in der Markthalle von Santiago, als ein alter Mann auf ihn zustürzte, ihn herzte und küsste. Es war einer der damals Geretteten.

Was bedeutet mein Unglück?

Venceremos? Am Schluss hat Blüm das noch in anderen Worten gesagt, als er mit seiner Krankheit kämpfte, auch wenn er ahnte oder wusste, dass er diesen letzten Kampf verlieren würde: „Was bedeutet mein Unglück?“ So lautete die Überschrift, unter der Norbert Blüm im März öffentlich machte, dass er vom Hals ab gelähmt ist und dass dieser hilflose Zustand auch lebenslang so bleiben werde. Wie lange lebenslang sein würde, wusste er damals nicht. Keine Hoffnung auf Genesung, keine Hoffnung, je wieder laufen zu können oder nur einen kleinen Finger zu krümmen. Die Überschrift lautete nicht einfach: Mein Unglück. Sie lautete: Was bedeutet mein Unglück?

Der Rollstuhl als Lehrmeister

Norbert Blüm hat danach gefragt, welchen Sinn dieses Geschick für ihn habe. Er hat davon geschrieben – schreiben lassen, weil er es selbst nicht mehr konnte und diktieren musste –, welche Qual allein ein kleiner Juckreiz unterm linken Auge auslöst. Er hat sich jeder Verkitschung seiner Lage verweigert, die dieses Unglück irgendwie in eine Art Glück oder höhere Weihe oder heroisches Martyrium umdeutet. Er hat zu einer seiner wirksamsten Waffen gegriffen, nämlich seiner unverdrossenen und optimistischen Selbstironie und das Fazit gezogen – es sind dies die letzten Worte, die er selbst veröffentlichte:

„Eigentlich genieße ich einen privilegierten Status. Ich lebe wie Gott in Frankreich. Rund um die Uhr werde ich bedient. Zwar fliegen mir keine gebratenen Tauben in den Mund wie im Schlaraffenland. Aber Essen und Trinken erreichen mich, ohne dass ich einen Finger dafür krumm gemacht habe. Ich werde gefüttert. So werde ich satt, aber das ist nicht alles, was ich als Mensch benötige. Ich bin mehr als mein Leib. Vor die Wahl gestellt, würde ich Defizite körperlicher Tüchtigkeit leichter ertragen als den Verlust von mentaler Selbstständigkeit. Mein Rollstuhl ist ein strenger Lehrmeister.“

Blüms Beispiel lehrt, was Lebensmut ist

Vollkommen angewiesen auf andere, um satt und sauber zu werden, hat Norbert Blüm über alles Mögliche nachgedacht, aber über eines überhaupt nicht, zumindest nicht laut: ob es nicht besser sei tot zu sein, ob dieses Leben überhaupt noch ein Leben sei, ob dieses Leben nicht nur ein Vegetieren sei. Norbert Blüm hat ein Unglück erlebt, dass für viele das Abbild eines Lebens ist, von dem man erlöst werden möchte, das absolut nicht mehr lebenswert erscheint und von dem viele sagen würden, wenn sie gesund sind: wenn es so weit ist, will ich unbedingt Sterbehilfe. Nicht wenige Menschen sagen das im gesunden Zustand zumal für den Fall ihrer Demenz. Norbert Blüm war nicht dement, er war geistig bis zuletzt sehr fit – der Kollege Hartmut Palmer hat das in seinem Online-Nachruf im Magazin Cicero beschrieben. Palmer hat ihn noch wenige Tage vor seinem Tod besucht.  

Norbert Blüms Beispiel lehrt, was Lebensmut ist. Dieser Lebensmut ist kein Heldenmut. Blüm hat gelehrt, sich vom Rollstuhl belehren lassen, wie er selbst sagt, dass solcher Lebensmut aus einer komplett veränderten Sicht im Leiden selbst erwächst. Diese Sicht kann man nicht im Voraus kalkulieren und prognostizieren. Man kann sich bei den Versuchen, den zukünftigen Lebensmut im Leiden zu messen, so vermessen wie es soeben das höchste niederländische Gericht getan hat: Es hat die Ärztin Catharina A. von jeder Schuld freigesprochen, die einer 74-jährigen Alzheimer-Patientin eine tödliche Injektion verabreicht hatte.

Tötung auf Verlangen

Der Fall lag so: In einem Pflegeheim hatte die Ärztin der nichtsahnenden Frau erst ein Schlafmittel in den Kaffee gerührt, um der Frau kurz darauf die tödliche Infusion zu geben. Gerade als sie das tun wollte, wurde die Patientin wach, fluchte, setzte sich auf und schien die tödliche Injektion abwehren zu wollen. Die Ärztin setzte sich körperlich gegen die alte Frau durch (wie das genau geschah, darüber fehlt der Bericht); wenig später war die Patientin tot. Die Ärztin berief sich darauf, dass die Frau das vier Jahre vorher, als sie noch klar bei Verstand war, so verfügt habe: Sie wollte euthanasiert werden, wenn ihre Demenz so weit fortgeschritten sei, dass sie ins Pflegeheim müsse.

In Deutschland wäre das Handeln der Ärztin eine schwere Straftat – auch nach dem spektakulären Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020. Das höchste deutsche Gericht hat zwar die Sterbehilfe, also die Beihilfe zum Suizid erlaubt. Es blieb aber bei der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen – die dann vorliegt, wenn der Sterbehelfer nicht nur hilft, sondern als Täter den Handlungsablauf dominiert. In den Niederlanden ist dagegen diese Tötung auf Verlangen, die aktive Sterbehilfe durch Ärzte, unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Auch dann, wenn der Patient sich wehrt? Das war die Frage im soeben entschiedenen Fall. Auch dann, wenn er womöglich gar festgehalten werden muss?

Die Aufspaltung des Ich

Das niederländische Gericht griff bei seiner Antwort zu einer Aufspaltung des von der Ärztin getöteten Menschen: Das frühere vermeintlich vernünftige Ich triumphiere hier über das gegenwärtige von der Krankheit gezeichnete Ich. Wirklich? Ist das nicht eine vermessene Meinung, weil sie dem dementen Menschen das volle Menschsein und einen rechtsbeachtlichen Lebenswillen abspricht?

Es kann ein Wunder sein, wie Menschen, die das Unglück überfällt, mit diesem Unglück umgehen – sei dieses Unglück eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung. Das Umgehen mit diesem Schicksal ist nicht vorhersehbar und voraussagbar. Es kann sein, dass diese Menschen, gegen ihre eigene Einschätzung von früher, an ihrem so sehr beeinträchtigten Leben hängen, dass sie dieses Leben neu entdecken und trotz allem, was ihnen zugemutet wird, finden: Ich will leben. Ich ringe um jeden Atemzug. Sterben will ich jetzt noch nicht.

Gute Politik in Corona-Zeiten

Das sind die Gedanken, die ich mir, mitten in der Corona-Krise, zum Tod von Norbert Blüm und zur Tötungs-Entscheidung des höchsten Gerichts der Niederlande gemacht habe. Es ging und geht in dieser Krise ja auch um die Achtsamkeit für Alte und Schwache. Gute Politik in Corona-Zeiten ist mehr als Mund- und Infektionsschutz. Gute Politik in Corona-Zeiten muss eine gute Sozialpolitik sein.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Heribert Prantl ist Jurist, Journalist und Autor. Er war viele Jahre leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung und Mitglied der Chefredaktion. Prantl begleitet seit Jahrzehnten die Arbeit des Fachbereichs Migration und Menschenrechte an der Akademie – als Referent, Autor, Impulsgeber und Freund. Seit seiner Teilnahme an einer Journalistenreise der Akademie im Jahr 1993 nach Warschau anlässlich des Abkommens zwischen Deutschland und Polen zur Rückübernahme von etwa 55 000 über Polen eingereiste Flüchtlinge („So beginnt man keine neue Phase der Nachbarschaft!“) war Prantl häufiger Teilnehmer der Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht, über die die Süddeutsche Zeitung bis heute jeweils ausführlich berichtet, ebenso wie über die Initiativen der Akademie zur Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen.

Norbert Blüm war über Jahrzehnte das soziale Gewissen der CDU.

Heribert Prantl ist seit vielen Jahren immer wieder Gast in der Akademie.