Das richtige Maß für Mensch und Welt

Selbstbefreiung, faires Wirtschaften und mehr Umweltschutz durch Verzicht? Aktuelle Überlegungen zur Postwachstumsgesellschaft stoßen bei einer Tagung in Hohenheim nicht nur auf Begeisterung.

Ist Suffizienz die Antwort auf das Hamsterrad, in dem sich so viele Menschen wähnen, weil wirtschaftlich immer mehr in immer kürzerer Zeit von ihnen erwartet wird? Ist es ein alternatives Ökonomiekonzept zum Raubtier-Kapitalismus? Eine Neubesinnung dessen, was wir in unserer konsumorientierten Welt als Wohlstand empfinden? Oder ist Suffizienz vor allem eine Strategie von „Besinnungsidealisten gegen herkömmliche Sozialstaatspartisanen“, ein Ausstiegsszenario aus der gegenwärtigen Wirtschaftswelt in Richtung Entschleunigung, Entflechtung, Entrümpelung und Entkommerzialisierung, wie es Dr. Joachim Drumm zum Tagungsauftakt in Stuttgart-Hohenheim formulierte.

Auf jeden Fall ist Suffizienz ein ausgesprochen sperriger Begriff, der eigentlich keinem der Referenten gefiel, weil er den meisten Menschen unverständlich ist. 1993 von dem deutschen Theologen und Soziologen Wolfgang Sachs geprägt, soll er in der Wirtschaftstheorie den Begriff der Effizienz und Konsistenz ergänzen. Effizienz steht für Wachstum bei geringerem Ressourcenverbrauch; Konsistenz beschreibt eine Produktionsform, bei der die Ressourcen durch Innovation und Wiederverwertung (Recycling) geschont werden. Suffizienz klingt vermutlich, so wurde vermutet,  auch deshalb „wenig sexy“, weil der Begriff mit Verzicht einhergeht. In Südamerika  spricht man deshalb lieber vom „buen vivir“, vom guten Leben, oder vom „rechten Maß des Lebens“.

 

Nichts im Übermaß" ist eine uralte Weisheit

Professor Dr. Reinhard Loske, Volkswirt, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen, früherer Bausenator in Bremen, Mitglied am Wuppertal-Institut und seit 2013 Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke erinnerte daran, dass Suffizienz keineswegs eine neue Idee sei. Bereits am Tempel von Delphi finden sich  zwei Inschriften: „Nichts im Übermaß“ und „Erkenne dich selbst“. Also schon 500 Jahre vor Christus sei es den Menschen bewusst gewesen, dass „Balance nötig ist und Völlerei eine Todsünde“, sagte Loske. Im Alten Testament heiße es: „Herr gib mir weder Armut noch Reichtum.“ (Buch der Sprichwörter, Spr.30,8) und:  „Ihr sollt die Erde bebauen und bewahren“ (1 Mose, 2,4b-9.15) .

Auch Karl Marx habe schon geschrieben, dass alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen nicht die Eigentümer der Erde seien, sondern nur ihre Besitzer und Nutznießer, die sie ihren nachfolgenden Generationen „verbessert zu überlassen“ hätten. Bis in die 30er  Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts sei „bauen und bewahren“ die Maxime gewesen, sagte Loske, doch „heute gilt die Infragestellung von Wirtschafts- und Produktivitätswachstum den meisten Ökonomen als Sakrileg“. Die ökonomische Dynamik werde aber erzeugt durch Gier, Neid und Wettbewerb. Dem stellte Loske die so genannte IPAT-Formel entgegen, die Umwelteffekte, die Anzahl der Menschen auf der Welt, den Lebensstil und die soziale Praxis sowie Technologie ins Verhältnis setzt. Loske sieht in den früh entwickelten Ländern eine Postwachstumsökonomie, in der Überdruss am Überfluss herrsche. Deshalb sei man auf der Suche nach dem rechten Maß, wünsche sich eine Balance zwischen materiellen und immateriellen Zielen und die Konzentration auf das Wesentliche, den Verzicht auf Überflüssiges und ein angemessenes Verhältnis von Erwerbs- und Eigenarbeit, um als ganzer Mensch tätig zu sein.  Loske schließt daraus: „Nachhaltigkeit braucht plurale Wirtschaftsstile, und die Politik muss dafür einen sozial-ökologischen Ordnungsrahmen schaffen.“ Loske verschwieg freilich auch nicht die zentralen Kritikpunkte an der Suffizienz-Theorie: Die Machtfrage stehe ihr im Weg. Zudem komme die Theorie aus der Region mit dem weltweit größten Wohlstand. In armen Teilen der Welt dürften die Menschen dafür nur wenig Verständnis aufbringen.

Wie kommen wir aus dem Hamsterrad heraus?

Professor Fritz Reheis, Soziologe und Erziehungswissenschaftler an der Universität Bamberg, diagnostizierte: „Wir sind beschleunigungskrank“ und forderte als Therapie „Entschleunigung“. Wir müssten den Umgang mit uns selber (Menschenbildung) wieder lernen und den Umgang mit anderen (Stichwort: soziale Spaltung). Es gehe aber auch darum, den Umgang mit der Umwelt zu verbessern. Statt exponetiellem oder linearem Wachstum forderte er eine Rückkehr zu natürlichem Wachstum. Reheis sagte, „wenn Geld zum Selbstzweck wird, werden die Menschen maßlos. Die Gemeinschaft zerfällt in diejenigen, die das Geld für sich arbeiten lassen und solche, die im Hamsterrad rennen.“ Für die Menschen sei entscheidend ein Gleichgewicht von Nehmen und Geben, versorgen und besorgen - das Leben mithin die Kunst der Synchronisation.

Entscheidend sei die Befreiung aus dem Hamsterrad: Denn obwohl wir immer produktiver würden, wachse zugleich die Angst, dass die Arbeit ausgehe und wir nicht mehr gebraucht würden. In der Dialektik von Verhalten und Verhältnissen gehe es um Zeithygiene (Ich lasse mir so viel Zeit, wie ich brauche; ich will nicht viel haben, sondern gut leben), Zeitpolitik (Die Politik sichert meine Grundbedürfnisse und schützt gesellschaftliche Zeiten; sie besteuert oder verbietet Verschwendung und sorgt für eine günstige Infrastruktur) und eine zeitbewusste Ökonomie (sie deckt meinen Bedarf und greift auf meine Fähigkeiten zurück; sie macht Betroffene zu Beteiligten und lebt nicht von der Substanz). Ziel des Umsteuerns, so Reheis, muss sein: „Zeitwohlstand statt Güterwohlstand, individuell und kollektiv frei verfügbare Zeit zum Innehalten und Begreifen“. Denn es gehe darum, die Frage zu beantworten: „Wer sind wir und wo wollen wir hin?“

Dr. Oliver Foltin und Dr. Volker Teichert von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft beschäftigten sich mit dem Thema „Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaften“. Sie sind Co-Autoren eines Buches mit dem gleichen Titel, das sich mit der Ausgangsthese befasst, dass es keine Rückkehr zu früheren Wachstumsraten mehr geben wird. Dies solle nicht als Scheitern empfunden werden, sondern als Möglichkeit, einen Wandel bewusst zu gestalten. Ihre Empfehlungen: Vorrang für eine gemeinwesenorientierte Ökonomie und Vorrang für gute Arbeit. Sie fordern mehr informelle Arbeit und eine Vielzahl von Arbeitszeitmodellen zu etablieren. Ein lebensphasenspezifisches Grundeinkommen soll die verschiedenen Arbeitsformen ermöglichen. Die Ungleichheit müsse verringert werden, der Staat müsse zudem bei seiner Finanzierung umsteuern: negative externe Umwelteffekte sollten internalisiert werden durch eine ökologische Finanzreform, die zu einem höheren Umweltsteueranteil im Haushalt führe. Nicht zuletzt gelte es ein ganzheitliches Bildungssystem zu verwirklichen.

Das Hohelied auf die Gartenarbeit

Professorin Dr. Angelika Zahrnt, Autorin des Buches „Postwachstumsgesellschaft – Konzepte für die Zukunft“ plädierte für konkrete Umsetzungsschritte, für die die Politik gewonnen werden müsse. Als Beispiel nannte die Wirtschaftswissenschaftlerin und langjährige Bundesvorsitzende des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) bessere Bedingungen für ehrenamtliches Engagement oder neue Wohn- und Arbeitsformen im Rahmen der Stadtentwicklung. Sie verwies zudem auf die Suffizienz-Strategie, die sich die Stadt Zürich selbst verordnet hat, die unter anderem auf eine neue Mobilität setzt.       

Einen philosophischen Schlusspunkt der Tagung setzte die Autorin („Leben als letzte Gelegenheit“), Lehrerin und Professorin Marianne Gronemeyer von der Fachhochschule Wiesbaden und rechnete zugleich mit der Suffizienz ab. Nach Ihren Worten stehen wir historisch vor der völlig neuen Situation, dass wir uns von einer „weitgehend funktionierenden, reichen, mächtigen Gesellschaft befreien“ wollen. Allerdings sieht sie für diese Befreiung keine Massenbasis:  „die Revolution der Reichen ist ein Unding. Ein revolutionäres Subjekt, das wegen des Wohllebens auf die Barrikaden geht, ist logisch und psychologisch ausgeschlossen. Es ist absurd, hoffnungslos träumerisch.“ Die neue Lust an der Askese habe mit Armut nichts zu tun, sondern sei „Erlebniskitzel“, sagte sie.  „Wir wollen alles, Sicherheit und Freiheit, Reichtum und Askese, Dauerbeschallung und Einkehr, Besitz und Kreativität.“ Gronemeyers Fazit: „Revolutionäre Entreicherung ist aussichtslos.“ Ihr Credo: „wir sollten nicht gegen die Verhältnisse anrennen, die reflexive Begegnung muss sich gegen uns selber richten. Denn es geht nicht um den Griff nach Macht, sondern um fundamentale Selbstzweifel.“ Unser von Konsum geprägter Lebenszuschnitt raube Freiheit, Fähigkeiten und mache uns erpressbar. Die Gegenerfahrung sei Selbstständigkeit durch Eigenarbeit. „Die Subsistenz kommt auf leisen Sohlen, ist keine globale Strategie, lässt sich nicht von oben planen, sondern geschieht von unten: kleine Anlässe mit kleinen Folgen statt Weltrettungsunternehmen.“

Und was könnte solch ein heilendes Tun sein? Marianne Gronemeyer hat darauf eine eher unspektakuläre Antwort: Gartenarbeit. Der Garten sei ein zutiefst philosophischer Ort, an dem nicht nur das Wunder des Komposts zu bestaunen sei und wie aus einem Samenkorn ein Frucht oder eine Blume wird, er sei unaufhörlich lehrreich, man erlebe ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit, ein Garten ermögliche Genuss an eigenen Dingen. Der Mensch erlebe aber auch, dass Gedeihen nicht nur eigenes Verdienst sei, Gartenarbeit fördere die vier Tugenden Geduld, Dankbarkeit, Mäßigung und Anstrengung. Und wer selber erntet, hege Widerwillen gegen Verschwendung. Ein Garten nehme also den ganzen Menschen in Anspruch. Dieses  Tun dürfe sich der Mensch nicht stehlen lassen, sagt Gronemeyer, sonst werde er seiner Humanität beraubt. (Barbara Thurner-Fromm)


Der Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Fritz Reheis forderte eine Zeitpolitik.

Tagungsleiter Dr. Joachim Drumm (links) und Professor Dr. Reinhard Loske stellen sich Fragen aus dem Publikum.

Die Autorin Prof. Marianne Gronemeyer setzt auf philosophische Erkenntnisse bei der Gartenarbeit.